1 Einleitung

Die seit Jahren konstant hohe und zuletzt noch einmal angestiegene Beteiligung an Weiterbildung verweist nicht nur auf eine Verbreitung der „gelebten Praxis“ lebenslangen Lernens (Ehlert 2021, Abs. 2), sondern auch auf anhaltende gesellschaftliche Transformationsdynamiken. Diese dehnen zwar die biografische Entscheidungsfreiheiten aus, zugleich steigern sie jedoch Ambivalenzen, individuelle Risiken und mithin Unsicherheiten in der Lebensverlaufsgestaltung. Lebenslanges Lernen stellt dabei nicht nur eine zentrale bildungsprogrammatische Rahmung für die Bearbeitung dieser Lebensrisiken und mithin für Weiterbildung dar, sondern wird darüber hinaus als ein in der Gegenwartsgesellschaft wirkmächtiges Dispositiv diskutiert, das an der praktischen Hervorbringung aktueller Subjektivierungsformen beteiligt ist (vgl. u. a. Rothe 2011; Spilker 2013; Von Felden 2019). Die Beteiligung an Weiterbildung bzw. das explizite und implizite (Nicht‑)Lernen im Erwachsenenalter steht daher in Verbindung mit den komplexen Formen gegenwärtiger praktischer Bezugnahmen auf sich selbst, das (eigene) Leben und Welt im Allgemeinen. Weiterbildungsentscheidungen können dabei nicht per se als souverän oder prekär gelten, sondern müssen im Kontext eben dieses lebensbezogenen Sinnzusammenhangs gelesen werden – denn Situationen des (Nicht‑)Lernens erhalten hierdurch erst ihre spezifische Bedeutung und praxisstrategische Relevanz.

Der Beitrag greift das Konzept der Beteiligungsregulation in der Weiterbildung auf (Dörner et al. 2010; Wittpoth 2006), das die Regulierung von Weiterbildungsbeteiligung relational, d. h. als Effekt des Zusammenwirkens von Habitus und Kontext in den Blick nimmt: Im Schnittfeld von habituellen Dispositionen und konkreten Lebensumständen entstehen praktische Orientierungen, in die auch Haltungen gegenüber (Weiter‑)Bildung und Beratung eingelassen sind. Beteiligungsregulation wird dabei als analytische Perspektive mit der empirischen Rekonstruktion von Lebensentwürfen verknüpft. Lebensentwürfe bündeln soziale Praktiken im Umgang mit der Welt und bilden dabei spezifische Kontexte für die situative Realisierung von Weiterbildungsentscheidungen. Insofern sind sie m. E. als Rahmen für die Rekonstruktion von Beteiligungsregulation prädestiniert. Daher lautet die These, die ich im Folgenden verdeutlichen und empirisch bearbeiten möchte, dass die analytische Verschränkung von Beteiligungsregulation und Lebensentwurf geeignet ist, nicht nur unterschiedliche Orientierungsmuster in Bezug auf Weiterbildung aufzuzeigen, sondern zugleich eine relationale Reflexion der Passungen zwischen dieser Orientierung einerseits und dem programmatischen Begründungsrahmen von Weiterbildung andererseits anzuregen. Dies gelingt nicht zuletzt auch über einen gegenwartsanalytischen Rückbezug der Lebensentwürfe.

Im Folgenden werden lebens- und bildungsbezogene Orientierungsmuster unterschiedlicher Lebensentwurfstypen vor dem Hintergrund gegenwärtiger Subjektadressierungen durch lebenslanges Lernen empirisch rekonstruiert. Dabei kommt die Regulation der Weiterbildungsbeteiligung als in spezifischer Weise situiertes, praktisches (Nicht‑)Aufgreifen dieser Adressierungen in den Blick, das sozial ungleich wirksam wird. Zur konzeptionellen Erhellung wird jedoch zunächst lebenslanges Lernen als gouvernementales Programm umrissen, das spezifische Subjektadressierungen birgt (2). Hieran schließt sich einerseits die Rekapitulation des Konzepts der Beteiligungsregulation (3) und andererseits die Präzision des Lebensentwurf-Begriffs an (4). Darauf folgt schließlich die empirische Analyse (4) und ein abschließendes Resümee (5).

2 Lebenslanges Lernen als gouvernementales Programm

Während in den 1990er und 2000er Jahren lebenslanges Lernen insbesondere aus bildungspolitischer Perspektive als notwendige Anpassungsmaßnahme an eine sich rapide transformierende Arbeitswelt, an die veränderte Funktion von Wissen sowie an gesellschaftliche Individualisierungsprozesse aufgefasst wurde (für einen Überblick vgl. z. B. Alheit und Dausien 2009), sind in den letzten Jahren verschiedene Forschungsarbeiten entstanden, die auf die Verwobenheit und wechselseitige Bedingtheit spätmoderner Gesellschaftsstrukturen und lernoffener, flexibler Subjekte verweisen: Lebenslanges Lernen wird dann – in Anschluss an Foucaults Überlegungen zu Gouvernementalität (Foucault 23,24,a, b) – als (Selbst‑)Steuerungsprogramm bzw. als Regierungsdispositiv analysiert (vgl. z. B. Dzierzbicka 2007, Klingovsky 2017, Rothe 2011, Spilker 2013, Von Felden 2020), das eine akzelerierte, auf Optimierung, Neuerung und Besonderung orientierte Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht. Als Kontrastfolie dienen dabei die in den westlichen Gesellschaften des vergangenen Jahrhunderts hegemonialen, mittlerweile jedoch massiv unter Druck geratenen (Selbst‑)Steuerungsprinzipien einer organisierten Moderne (Wagner 1995) – insbesondere die umfangreiche, institutionell bzw. materiell massiv stabilisierte Konventionalisierung öffentlicher wie privater Praktiken und Rollenzuschreibungen. Denn die Konventionalisierung bzw. Institutionalisierung des Lebenslaufs beschränkt Lernen – ungeachtet des grundlegenden Zusammenhangs von Lernen und Leben (Hof 2020, S. 180) – auf nur eine, nämlich die erste Lebensphase (Qualifikation), was u. a. mit spezifischen Ermöglichungen und Beschränkungen für soziale Mobilität und individuelle Entfaltung einhergeht (Kohli 1985; vgl. auch Hof 2020; Schäffer et al. 2015).

Die neue Bildungsprogrammatik nimmt demgegenüber eine Liberalisierung der Lern- bzw. Bildungsbiographien vor, die jedoch nicht eindeutig auf spezifische Freiheitskonzepte festzulegen ist: Lebenslanges Lernen wird auf unterschiedliche Weise mit Sinn gefüllt und weist insofern vielfältige Bedeutungen und Konnotationen auf (Schreiber-Barsch und Zeuner 2018; Von Felden 2020). So changiert der Begriff des lebenslangen Lernens zwischen sozialpolitisch-emanzipatorischen und liberal-postmodernen Überlegungen freiheitlicher, gerechter, demokratischer Bildung für alle bzw. alle, die möchten; der kulturbetonenden, im Kern non-utilitaristischen Vorstellung von Bildung zur Teilhabe, Selbstverwirklichung und Urteilsfähigkeit; sowie einer humankapitalorientierten, ökonomistischen Idee, die insbesondere berufliche Weiterqualifikation zum Erhalt volkswirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit in liberalisierten globalen Märkten und wissensgesellschaftlichen Strukturen herausstellt (vgl. Schütze 2005; Von Felden 2020).

Dieser Bedeutungsüberschuss vermag einerseits konfligierende Vorstellungen lebenslangen Lernens in Dialog zu bringen, andererseits ermöglicht er jene Hybridisierung emanzipatorischer, aufklärerischer Bedeutungsmuster mit ökonomistischen Sinnstrukturen, die in verschiedenen Gegenwartsdiagnosen bereits problematisiert wurde (Boltanski und Chiapello 2006; Bröckling 2007; Bröckling et al. 2004; Reckwitz 2012): Zwar findet einerseits eine Betonung der aneignenden Entwicklung individueller, affizierender, kreativer Selbstbezüge und Weltzugänge statt, andererseits werden diese einer umfassenden Marktlogik unterworfen. Bildung ist dann zugleich als persönliche und volkswirtschaftliche Investition aufzufassen, wobei Individuen nicht mehr nur als Lernakteure in Erscheinung treten, sie tragen auch Investitionsrisiken und befinden sich in der Verantwortung, Wissen und Können eigenständig anzueignen, zu organisieren, zu erweitern und zu vermarkten. Dabei ist das Aneignen und eigenständige Valorisieren von Wissen, das Entwerfen und Koordinieren neuer Lebens‑, Lern- und zugleich Arbeitsprojekte sowie die hierzu notwendige Flexibilität, Schöpfungskraft und Vielseitigkeit im Idealfall nicht nur Ergebnis disziplinierter Arbeit an sich selbst, sondern gleichzeitig Ausdruck authentischer Selbstentfaltung. Lebenslanges Lernen als politisches Programm dient dann der „Regierbarmachung von Subjekten […] im Zeichen der Kontingenz“ und regt die Akteure an, „nicht irgendein, sondern ein vernünftiges Knowledgemanagement“ auszubilden und zu praktizieren (Spilker 2013, S. 115).

Die definitorische Breite bzw. begriffsimmanente Ambiguität schlägt sich auch in unterschiedlichen Subjektadressierungen in den politischen, bildungspraktischen und wissenschaftlichen Diskursen lebenslangen Lernens nieder. Dabei wurden nicht nur die divergierenden, teils widersprüchlichen Formen der Adressierung Erwachsener als lernende Subjekte empirisch herausgearbeitet (Rothe 2015, vgl. auch Spilker 2013), sondern auch unterschiedliche Modi, diese Anrufung aufzugreifen. Heide von Felden (2020, S. 335) führt aus, dass viele Erwachsene „unter dem Begriff Lebenslanges Lernen Unterschiedliches [verstehen]“, wobei sie dem Begriff in seiner „Selbstreflexion und Selbsterkenntnis“ zentrierenden Konnotation durchaus positiv gegenüberstehen, wohingegen „viele das bildungspolitische Konzept des Lebenslangen Lernens [kritisieren], weil sie in ihm in erster Linie eine neoliberale Ausformung der Bildungspolitik sehen.“ Vor allem aber zeigt sie auf, dass es verschiedene Formen des praktischen Umgangs mit dem Lern-Apell gibt, von denen einige (Abwehr, Kritik, Eigen-Deutung) eher Skepsis oder sogar Ablehnung bedeuten und sich – gerade im programmatischen Sinne – als Nicht-Lernen auffassen lassen.

3 Die praktische Regulation der Weiterbildungsbeteiligung

Eine systematische Auseinandersetzung mit den Gründen der (Nicht‑)Inanspruchnahme von Weiterbildungsangeboten wird mit dem Konzept der Beteiligungsregulation vorgeschlagen. Hierbei handelt es sich um einen relationalen, praxeologisch orientierten Ansatz der Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung, der insbesondere Bedingungen und Genese der Bedeutung von Weiterbildung für die jeweiligen Akteure fokussiert (Arnold et al. 2002; Dörner 2012; Dörner et al. 2010; Wittpoth 2006, 2018). In den Blick gerät dabei einerseits das Sammeln z. B. herkunfts-, geschlechts- und generationenspezifischer Erfahrungen und mithin die Habitualisierung von Denk‑, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen; andererseits erhalten die Kontexte eine erhöhte Aufmerksamkeit, z. B. die räumlich-materielle Umgebung (rural/urban etc.), soziale Welten (Szenen, Vereine etc.), Berufsfelder und -kulturen, familiale, aber auch arbeitsorganisationale Strukturen, in denen die alltägliche Praxis situiert ist (Wittpoth 2018). Kontexte sind durch Feldregeln, Institutionen und Konventionen strukturiert und bedingen im Zusammenspiel mit den herkunfts- bzw. erfahrungsspezifischen Dispositionen das situative Denken, Wahrnehmen und Handeln.

In der Analyse der Haltung gegenüber Weiterbildungsberatung, die z. B. im Bemerken bzw. Einordnen von Angeboten oder in der (Nicht‑)Beteiligung an Seminaren zum Ausdruck kommt, werden also zwei Blickachsen miteinander verschränkt: Jene entlang sozialisatorischer Merkmale, die in habituelle Muster eingelagert sind, und jene entlang sozio-materieller Kontexte, die soziale Situationen definieren. Im Schnittfeld zeigen sich die spezifischen „‚kulturellen’, symbolischen Dimensionen, die das Verhältnis der Menschen zu Weiterbildung regulieren“ (Arnold et al. 2002, S. 23), zeigen sich also die Sinn- und Bedeutungszusammenhänge, die unter anderem ein praktisches Verhältnis zu Weiterbildung erzeugen. Insofern werden in einem engeren, praxeologisch spezifizierten Sinne, „Regulative als Sinn- und Bedeutungskonstellationen [aufgefasst; J. E.], die im Zuge sozialer Praxis zustande kommen und ihre entscheidungsrelevante Kraft entfalten“ (Dörner et al. 2010, S. 159). Dementsprechend wurden beispielsweise Altersbilder als Regulative der Weiterbildungsbeteiligung empirisch herausgearbeitet (ebd.), d. h. explizite und implizite Entwürfe von Alter als spezifische Sinn- und Bedeutungskonstellationen fokussiert, denn insbesondere im Rahmen lebenslangen Lernens ist es von Interesse, wie sich Weiterbildung in altersbezogene Orientierungsmuster unterschiedlicher Akteure einfügt. Damit deutet sich zugleich eine prozessuale Perspektive an, die Bedeutung von Weiterbildung auf die sinnhafte Konstruktion des Selbst bzw. des Lebens bezieht und die weder generalisierbar noch beliebig ist.

Zudem kommt Weiterbildung ihrerseits als Kontext der relationalen Erzeugung von (Nicht‑)Beteiligung in den Blick, denn „[s]chließlich wird Weiterbildung von den anbietenden Institutionen mit Bedeutungen ausgestattet, die ebenfalls Partizipation regulieren.“ (Arnold et al. 2002, S. 24) Das gesamte (homogene oder heterogene, harmonische oder konkurrente) institutionelle und organisationale Gefüge der Weiterbildungslandschaft ist an der Hervorbringung mehr oder weniger vielfältiger Konzepte, Prämissen und Praktiken beteiligt. Regulierend wirken dabei sowohl die materiellen Strukturen – z. B. (De‑)Zentralität der Standorte oder (Un‑)Zugänglichkeit der Räume – als auch die Weiterbildungsinhalte sowie Organisation und Methoden der Angebotsvermittlung und vor allem auch die Grundannahmen der Professionellen (Wittpoth 2018; vgl. auch Schwarz 2016). Aus einer relationalen Perspektive wird Weiterbildung dann als „mal mehr, mal weniger zentral“ bzw. als „eine Option neben anderen“ und „ein Kontext neben anderen“ analysierbar (Dörner 2012, S. 115). Dies impliziert eine reflexive Neuverortung der WeiterbildungFootnote 1, denn „dass Weiterbildungsteilnahme nicht a priori positiv konnotiert ist“ (Wittpoth 2018, S. 1167), wird insbesondere in den einschlägigen politischen Programmatiken lebenslangen Lernens, bisweilen aber auch in der Weiterbildungsforschung verkannt. Standpunkt und Perspektive der Weiterbildung werden also dezentriert, in der Hoffnung, über die weitergefasste Analyse eine Reflexivität zu etablieren, die unterschiedliche Richtigkeitsvorstellungen, Relevanzsysteme und Werteordnungen (an-)erkennen kann – und zwar nicht nur im Rückbezug auf soziale Herkünfte, sondern vor allem mit Blick auf die konkrete Situation, in der Beteiligungsregulation stattfindet.

Die Betrachtung von Weiterbildungsentscheidungen muss also in einer Weise kontextualisiert werden, die „das Augenmerk nicht nur auf die sozioökonomischen, institutionellen und personalen Bedingungen für Lernen richtet, sondern auch die sozialen Praktiken des Umgangs mit Welt einbezieht und damit die situativen Aspekte des Lernens berücksichtigt“ (Hof 2018, S. 197). Dabei stellt sich die Frage, wie soziale Praktiken im Umgang mit Welt und deren situative Realisierung in Weiterbildungsentscheidungen empirisch rekonstruierbar werden. Eine potenzialreiche Kontextualisierung ermöglicht dabei der Lebensentwurf: Über den Lebensentwurf lassen sich Lernsituationen und Bildungsentscheidungen in einem diachronen praktischen Bedeutungsgefüge rekonstruieren, das die Analyse der Beteiligungsregulation zudem einerseits für die Betrachtung sozialer Ungleichheiten und andererseits für gegenwartsdiagnostische Bezüge öffnet.

4 Weiterbildungsentscheidungen im Kontext des Lebensentwurfs

Der Lebensentwurfsbegriff wird hier in einem umfänglichen, praxistheoretischen Sinne genutzt (vgl. ausführlich Elven 2020; vgl. auch Bourdieu 1998; Hildenbrand 2012): Er bezeichnet die implizite und explizite Vorstellung vom Leben, z. B. von dessen (Verlaufs‑)Form, relevanten Gegenständen und Sinngehalten. Dabei geht es nicht in erster Linie um die subjektive Bewertung von Norm und Abweichung bzw. der Respektabilität von Lebensführung, sondern vor allem – grundlegender – um jene Wissensordnungen und Sinnstrukturen, die diese Bezugnahmen bedingen: Es geht um die praktische, teils implizite, teils explizite Konstruktion des Lebens, die sowohl im unmittelbaren Auffassen, praktischen Erleben und Gestalten des eigenen Lebens als auch in diesbezüglichen Plänen und Reflexionen und schließlich in allgemeinen Denkkategorien, Bewertungsschemata und Alltagstheorien zum Leben generell zum Ausdruck kommt. Diese Aspekte stehen allerdings nicht in einem Kausalverhältnis zueinander, sondern weisen aufgrund der sie verbindenden praktischen Logik Homologien auf, wobei durchaus Inkongruenzen bestehen können, z. B. zwischen Anspruch an die Lebensführung und praktischer Alltagsroutine.

Die Möglichkeit, nicht nur einen spezifischen Modus Operandi der Lebensführung praktisch hervorbringen, sondern insgesamt auf das Leben als Einheit reflexiv oder auch prospektiv, z. B. planend, Bezug nehmen zu können, basiert nicht zuletzt auf sozial geteilten, zumeist implizit bleibenden Denkkonzepten, wie etwa der Vorstellung, „daß ‚das Leben‘ ein Ganzes darstellt, eine kohärente und gerichtete Gesamtheit, die als eigentlicher Ausdruck einer subjektiven und objektiven ‚Intention‘, eines ‚Entwurfs‘ aufgefasst werden kann und muß“ (Bourdieu 1998, S. 75). Zwar ist diese Form des Nachdenkens über bzw. der Bezugnahme auf das (eigene) Leben sozial konstruiert. Als weitreichende, grundlegende und zudem naturalisierte Denk- bzw. Handlungsprämisse prägt sie die alltägliche Praxis allerdings sehr wirkungsvoll (Alheit 1996). Zwar können je nach historischem und (sozial-)räumlichen Kontext mitunter doxische soziale Konzepte von ‚Leben‘ dominieren, grundsätzlich war und ist das praktische Entwerfen des Lebens von Polyphonien, Friktionen und Interferenzen bestimmt, sodass sich verschiedene Formen des Lebensentwurfs herausbilden. In rekonstruktiver Absicht müssen daher differente institutionalisierte Formen lebensgeschichtlichen Erzählens berücksichtigt werden (Griese und Schiebel 2018, S. 119).

Als besonders wirkmächtiger Topos moderner Lebensentwürfe setzte sich die Vorstellung einer linearen, folgerichtigen Entwicklung durch: Das Leben „hat – nach einer chronologischen Ordnung, die auch eine logische Ordnung ist – einen Anfang, einen Ursprung im doppelten Sinne von Ausgangspunkt, Beginn, aber auch Urgrund, raison d’être, erste Ursache, und ein Ende, das auch Ziel ist, eine Vollendung (telos).“ (Bourdieu 1998, S. 75 H.i. O.). Obwohl davon auszugehen ist, dass es sich hierbei nach wie vor um die gesellschaftlich hegemoniale Form handelt, zeigen sich durchaus konkurrierende Lebensentwurfsmuster. Einen vernehmlichen, weil in Literatur und Philosophie explizierten Gegenentwurf stellt die Negation von Stringenz und Linearität und die Hinwendung zum Zufall, zum Flüchtigen und Kontingenten dar (ebd.). Diese unterschiedlichen Formen von Lebensentwurf können nun daraufhin befragt und verglichen werden, wie Bildung allgemein oder auch Bildungsprogramme wie das lebenslange Lernen, aber auch konkrete Lern- und Weiterbildungspraktiken hierin eingelassen sind, d. h. welche Relationen (Nähen und Distanzen, Affinitäten und Aversionen etc.) zu Bildungskonzepten, -programmatiken, -institutionen, -kontexten und -angeboten bestehen. Dabei ermöglicht die Rekonstruktion Lebensentwurfsformen in verschiedener Hinsicht die Situierung von Weiterbildungsbeteiligung bzw. Nicht-Beteiligung:

  • Sie kann Situationen und Kontexte im Leben ausleuchten, in denen im Rahmen des einen Lebensentwurfs das Aufgreifen von Lern- oder Beratungsangeboten als Option erscheint und im Rahmen des anderen nicht bzw. hier Entscheidungen für und dort gegen Weiterbildung getroffen werden.

  • Sie kann Praktiken der Beteiligung, der Verweigerung, des Abbruchs etc. nachvollziehen, auf diese Weise den Blick auf den Modus der Regulation stärken und insofern die hermeneutische Orientierung des Konzepts unterstreichen, die weit über eine dichotome Erfassung von Beteiligung/Nicht-Beteiligung hinausgeht.

  • Sie kann die jeweilige Situation der Bildungsregulation in Verbindung bringen mit dem allgemeinen Verständnis von und der generellen Haltung gegenüber Bildung, die wiederum im Lebensentwurf eingelassenen sind.

  • Sie kann auf die sozial ungleichen Effekte der Beteiligungsregulation verweise, denn im Unterschied zwischen souveränem Zurückweisen, bedachtem (Nicht‑)Auswählen, widerwilligem Absolvieren antizipierter Pflichtveranstaltungen und diffusem Halbwissen um zur Verfügung stehende Optionen drücken sich unterschiedliche Formen des Anspruchsdenkens und vor allem auch unterschiedliche Möglichkeiten der Teilhabe aus.

  • Schließlich ermöglicht die Rekonstruktion von Lebensentwurfsformen eine analytische Verbindung zwischen Beteiligungsregulation und Zeitdiagnose, denn die reflexive Thematisierung des (eigenen) Lebens gibt den Blick frei auf gegenwärtige Formen des Denkens, Wahrnehmens- und handelnden Hervorbringens von Leben und birgt insofern gegenwarts- bzw. moderneanalytisches Potenzial (vgl. auch Alheit 1996).

5 Eine Lebensentwurfstypik

Wie korrespondieren nun die mit dem lebenslangen Lernen verbundenen Vorstellungen von Leben und Bildung mit empirischen Lebensentwurfsformen und hierin eingelassenen Bildungsorientierungen? Zur Erhellung dieser Fragen werden Ergebnisse aus einer qualitativen Untersuchung der Lebensentwürfe von 20 Frauen herangezogen (Elven 2020, 2021), die sich in einer biographischen Umbruchssituation, nämlich im ersten Jahr einer Existenzgründung befanden. Die Gründungen fanden in den bildungsintensiven Bereichen der Bildungs- und Kreativbranchen statt, alle Gründerinnen haben studiert und sind zwischen 29 und 52 Jahre alt. Die Existenzgründung zählt zu jenen Situationen der (berufs-)biografischen Umorientierung, die mit (lebenslangem und -weitem) Lernen im Sinne der politischen Programmatik verbunden sind und insofern mit Weiterbildungs- und Beratungsentscheidungen einhergehen (Schiersmann 2018). Entsprechend wird sie auch als genuin erwachsenenpädagogisches Handlungsfeld diskutiert (Maier-Gutheil 2009; Schwarz 2016). Sie ist von Förder- und Unterstützungsstrukturen durchzogen, sodass vielfältige Bildungs- und Beratungsangebote (IHK, Agentur für Arbeit) existieren, die insbesondere im Falle einer staatlichen Gründungsförderung als obligatorisch gelten können. Dementsprechend berichten alle interviewten Frauen von mehr oder weniger intensiven Beratungs- und Weiterbildungserfahrungen, nicht zuletzt, da sie sich – auch wenn viele in ihrem angestammten Berufsfeld blieben – betriebswirtschaftliches Wissen aneignen mussten. Insofern sind die Ergebnisse geeignet, um der Frage nachzugehen, wie sich unterschiedliche Haltungen gegenüber Bildung in Lebensentwurfsformen einfügen und wie dies beteiligungsregulierend wirken kann.

Die empirische Basis bilden qualitative Interviews mit den 20 Frauen, die auf die Generierung möglichst offener Erzählungen ausgerichtet waren, zugleich jedoch entlang verschiedener Themenkomplexe (Zeitverwendung, Arbeit, Freizeitgestaltung etc.) strukturiert wurdenFootnote 2. Die rekonstruktive Analyse wendete Auswertungsstrategien der dokumentarischen Methode an, um Orientierungsrahmen der befragen Gründerinnen in Bezug auf ihre Lebensentwürfe herauszuarbeiten. Entsprechend ist für die vorliegende Betrachtung insbesondere die sinngenetische Typenbildung (Bohnsack 2013) von Bedeutung, anhand derer drei Lebensentwurfsformen ausdifferenziert werden konnten: Pfad, Drift und Fügung.

5.1 Typus 1: Pfad

Im Orientierungsrahmen des Lebensentwurfstypus ‚Pfad‘ wird das Leben als ein kontinuierlicher, sukzessive weiterführender und in den Grenzen einer weitestgehend eindeutig regulierten Umwelt verlaufender Weg aufgefasst, der aktiv und planvoll von der Vergangenheit in die Zukunft entwickelt werden kann – und muss. Er durchläuft „verschiedene kleine Ziele, Etappenziele sozusagen“ (Huber)Footnote 3, zergliedert sich also in einzelne, (chrono-)logisch aufeinander aufbauende Phasen, die in den Erzählungen systematisch nachvollzogen werden. Der Typus zeichnet sich durch eine deutliche Orientierung auf das ‚normale‘ Leben aus, der hervorgebrachte Lebensweg ist explizit konventionengeleitet – sowohl in der Entsprechung wie auch (seltener) in der Abgrenzung. Dabei verkoppelt sich der normalisierende Zugriff auf das Leben mit einer außergewöhnlich strukturierenden, sogar standardisierenden Auffassung der Welt: Die meisten Situationen und Umstände werden als kategorisierbar bzw. kalkulierbar dargestellt und sind bestimmten Kausalitäten oder auch Regeln unterworfen. Die Gründerinnen zeigen sich entsprechend kompetent im Umgang mit Institutionen und sensibel bzw. empfänglich für Konventionen, etwa Bildungsprivilegien, Senioritätsprinzipien, organisationale Hierarchien oder Geschlechterrollen. So ist es z. B. „was anderes, wenn Frauen gründen, wie wenn Männer gründen, weil in der Regel ist man dann nicht der Haupternährer, in der Phase der Gründung“ (Töbelmann). Dabei erkennen sie soziale Normen zwar als objektive Bedingungen ihres Lebens an, ihre diesbezügliche Sensibilität ermöglicht ihnen jedoch auch eine reflektierte Positionierung gegenüber diesen Strukturen.

Der auf diese Weise entworfene Lebensweg folgt also einem durch Institutionen und Konventionen gestützten und in der expliziten Lebensplanung subjektiv konkretisierten Muster. Dabei entstehen immer wieder – teils gesellschaftlich etablierte (z. B. Bildungsübergänge), teils persönlichen Lebensumständen geschuldete (z. B. Berufswechsel der Partnerin oder des Partners) – biografische Phasen der Veränderung. Diese werden als „Scheidewege“ expliziert (Haller), die mehrere Anschlussmöglichkeiten eröffnen. Die Gründerinnen verstehen sich hier als aktive Gestalterinnen und Entscheiderinnen: „ob’s in die Richtung geht oder ob’s in die Richtung geht, das ist dann deins und du musst es machen und du musst es steuern“ (Kunze). In der Entscheidungssituation werden zunächst systematisch Pfadalternativen entfaltet, wobei auf institutionalisierte Anschlussmöglichkeiten zurückgegriffen wird (v. a. Weiterbildung, berufliche Umorientierung, Konzentration auf die Familie, Promotion, Selbständigkeit). Pfade, die jenseits der persönlichen Präferenzen liegen oder unzureichend an den bisherigen Lebensweg anschließen, werden ausgeschlossen: „Für mich war klar, für mich geht nicht mehr Organisation, für mich geht auch nicht mehr wissenschaftliche Karriere“ (Kunze). Potenziell gangbare Alternativen werden hingegen einem Abwägungsprozess unterzogen, wobei die Gründerinnen (mindestens retrospektiv) verschiedene Bewertungsmaßstäbe (Lebensqualität, Erfolgsaussichten, materielle Sicherheit, persönliches Interesse etc.) reflektieren, um ihre Präferenzen zu ermitteln.

Mit dem pfadförmigen Lebensentwurf sind typische Prozess- und Temporalitätsvorstellungen der (Spät‑)Moderne verbunden – etwa die implizite Voraussetzung einer linearen Entwicklungslogik und der Progression bzw. Steigerung, wobei die Weiterentwicklung des Lebenswegs nicht auf bestimmte Phasen und auch nicht auf bestimmte Lebensbereiche (Familie, Beruf, Freizeit) begrenzt istFootnote 4. (Weiter-)Bildung kommt als Instrument dieses Entwicklungsprojekts in den Blick: Mit dem ausgeprägten Sinn für Institutionen geht ein Gespür für die Relevanz formaler Bildungsabschlüsse und -zertifikate einher. Diese fungieren daher nicht nur als Entscheidungskriterium („mit dieser Marketingfachwirt-Ausbildung, […] würde sich ein gewisses Berufsfeld anbieten“, Haller), sondern führt auch zu der Bereitschaft, sich mit neuen Wissensbeständen im Rahmen formaler Bildungsprogramme auseinanderzusetzen. Dies ist zugleich der Affinität für systematische Wissenserschließung geschuldet, die als Basis für kompetentes Handeln verstanden wird: Autodidaktisch erworbenes, „handgestricktes“ Wissen wird dem „Fachwissen“ explizit gegenübergestellt (Haller), dessen planvolle, strategische Aneignung zur Gestaltung des Lebenswegs dazugehört.

Allerdings wird eine zeitliche Investition in Bildung nicht unüberlegt getätigt, auch sie ist an eine explizite Entscheidung geknüpft. Zwar gilt die Wissensaneignung über Bildungsangebote, z. T. auch Laufbahn- und Weiterbildungsberatung, als Bestandteil der Entscheidungsfindung und des Einfindens in neue Lebensabschnitte. Pfadalternativen werden auf diese Weise ausgeleuchtet und potenzielle neue Etappenziele systematisch erschlossen. Allerdings werden Bildungs- und Beratungsangebote pragmatisch, d. h. sehr gezielt, möglichst passgenau und mit konkretem Informationsbedarf genutzt – „von steuerlichen Dingen angefangen natürlich, über Risiken, Haftung, Sozialversicherung“ (Töbelmann). Eine strukturierte Aufbereitung wird dabei vorausgesetzt: „das war so ein Wust von Informationsmaterial, auch bei der IHK […] man wusste überhaupt nicht, was ist eigentlich jetzt zielführend“ (Töbelmann). Oft werden Angebote nur sehr punktuell angenommen („Nee, nee, also ich hab’ zwei Workshops gemacht. Zwei vierstündige Workshops oder so zum Thema Akquise“, Kunze) oder auch abgebrochen, wenn sie sich nicht lohnen: „Nö, ich muss meine Agentur voranbringen, und dieses Netzwerken ist ja unheimlich zeitintensiv […], also es ist schön, es ist kuschelig, wenn man sozusagen mit anderen sich unterhält – und die gleichen Probleme haben, aber letztendlich war mir das zu wenig zielorientiert“ (Haller). Für den Typus „Pfad“ dokumentiert sich ein aufgeschlossenes, pragmatisches, anwendungsorientiertes Verhältnis zu Bildung und Beratung, wobei Bildung kein Wert an sich, kein Selbstzweck zugeschrieben wird.

5.2 Typus 2: Drift

Für den zweiten Lebensentwurfstypus ist eine Orientierung auf das Sich-treiben-lassen, das Driften, zentral. Das Leben wird als fluides Gefüge aus Interessen, Erfahrungen und Ereignissen entworfen, das sich im Ergreifen von Gelegenheiten netzwerkförmig entfaltet. Es ist auf sinnstiftende, affizierende, authentische Praktiken ausgerichtet: „mir ist das unheimlich wichtig […] in meinem Leben, dass ich den Eindruck hab‘, ich mach sinnvolle Dinge. […] also entweder sozial Sinn, politisch Sinn, im Sinne von: sich einsetzen für die Gemeinschaft“ (Berg). Dabei gibt es unterschiedliche sinnstiftende Momente, die sich mit der Zeit auch ändern können. Interviewpartnerinnen, die auf diesem Lebensentwurfstypus orientiert sind, rekonstruieren ihre Lebenssituation als „mehr so zufällig geworden“ (Berg). Das Leben gleicht also einem organischen, beweglichen Arrangement aus emergierenden Gelegenheitsstrukturen, insofern hat es wenig Sinn, langfristige Perspektiven oder gar Lebensziele zu verfolgen oder Strategien zur Umsetzung eines bestimmten Lebensverlaufs zu entwerfen: „Also, ich glaube, dass ich ja nie in meinem Leben irgendwie so vorgegangen bin, dass ich mir besondere Pläne gemacht hätte, dass irgendwas so oder so SEIN muss, sondern, ich glaube, das war eine Gelegenheit, die sich ergab“ (Müller). Wie für den Typus ‚Pfad‘ zeigt sich eine Orientierung auf Entwicklung, nur geht es hier nicht um die erfolgreiche Progression des Lebenswegs in Ausrichtung am institutionalisierten Lebenslauf, sondern um die Entfaltung der Persönlichkeit, um eine authentische und affizierende Form der Lebensführung.

Dabei spielen (ihrerseits gesellschaftlich konventionalisierte) Praktiken der Selbstverwirklichung eine wichtige Rolle, z. B. Reisen oder dauerhaftere Ortswechsel, kreative Projekte, Neues lernen. Insbesondere das Neue hat dabei einen Eigenwert: „ich hab’ so ein Nomadenherz, also wo ich dann immer wieder, so jetzt muss ich aufbrechen, jetzt muss ich wieder alles hinter mir lassen und was ganz Neues machen“ (Linkerhand). Der Lebensentwurf weist also Parallelen zu ästhetizistischen, affekt- und besonderungsorientierten modernekulturellen Mustern auf (Boltanski und Chiapello 2006; Reckwitz 2012, 2017). Das an Neuheit und persönlicher Entfaltung sowie am Entdecken emotional und intellektuell bereichernder Lebensaufgaben orientierte biografische Umherschweifen evoziert komplexe berufliche Werdegänge, die sich deutlich von klassischen Karrierevorstellungen der organisierten Moderne unterscheiden. Berufliche Wechsel basieren nicht auf einer systematischen Eliminierung alternativer Pfade, vielmehr steigern Polyvalenz und Multioptionalität die Attraktivität einer beruflichen Situation – etwa Aufträge, die „unheimlich viele Perspektiven und auch Chancen, in alle möglichen Richtungen“ aufweisen (Müller). Interesse und Erfahrung erzeugen die Weiterentwicklungsbewegung von Selbst und Leben, wodurch sich ein konzentrisches Ausbreiten in alle verfügbaren Richtungen der persönlichen Neigungen ergibt. Konflikte bzw. Krisen entstehen dort, wo Inkongruenzen zwischen Lebensentwurf und sozialem Kontext spürbar werden, sich Geldverdienen und Sinnerfüllung nicht überein bringen lassen, freundschaftliche Netzwerke aus beruflichen Gründen ausgebeutet werden oder der Lebenslauf mit allen gesammelten Erfahrungen, Wissensbeständen und Fähigkeiten „in der Öffentlichkeit als irgendwie vorstellbar ankommen“ muss (Berg). Bei aller Unwägbarkeit der Lebenssituationen verlassen sich die Gründerinnen aber auf ihre Kompetenz, immer wieder neue Kontakte knüpfen, neue Projekte finden und sich neue Themen aneignen zu können: „irgendwie hat sich das immer ergeben“ (Müller).

Für den Lebensentwurfstypus ‚Drift‘ dokumentiert sich ein positiv affiziertes Verhältnis zu Bildung und Beratung: Bildung wird – jenseits formaler Bildungsabschlüsse – als sinnstiftendes und Selbstentfaltung ermöglichendes Moment adressiert. Das Identifizieren der eigenen Wünsche gerät jedoch mitunter zur Herausforderung, denn wodurch sich Erfüllung und Entfaltung realisieren lassen, bedarf der Erkundung, Recherche, Reflexion und Selbstbefragung. Im Suchen nach neuen Möglichkeiten werden Prozesse der Wissensaneignung angeregt („ich rutsch dann immer so in Phasen, wo ich so unglaublich viel recherchiere, was ich alles machen könnte, wo ich wieder hingehen könnte“, Linkerhand), die wiederum beratend unterstützt werden können. Die Herausforderung liegt nun im Angebot einer Beratung, die dem Anspruch einer individuellen, dem Lebensentwurf angemessenen Auseinandersetzung gerecht wird und vor allem das Authentische, Einzigartige der Lebenssituation betont. Anders als im Rahmen des Typus ‚Pfad‘ geht es nicht um Informationsweitergabe oder konkrete Wissensvermittlung, sondern um personenbezogene, ganzheitliche Beratung und Reflexion:

„[Die Beraterin] hat das, was sie gemacht hat, sozusagen komplett auf meine Bedürfnisse eingestellt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass da irgendein Beratungsprogramm abgespult wird, sondern wir haben am Anfang eben gemeinsam die Ziele sozusagen für den Coaching-Prozess definiert, und dann hat sie je nach Tages- und Stimmungslage dann da auch das Instrumentarium variiert und war, glaube ich, einfach auch im Wesentlichen so ne Reflexionsfläche“ (Müller).

Insgesamt steht Bildung im Zentrum des Lebensentwurfs, insofern die Selbstentfaltung und das Aufgreifen sinnstiftender Projekte das Erschließen neuer Welt- und Selbstverhältnisse bedeuten, was auch erklärtes Ziel der Gründerinnen ist. Hierzu werden (klassische) informelle Bildungsformen, z. B. Reisen, Kunstrezeption, intellektueller Austausch, aber auch (non-)formale Bildungsformate wie Sprachkurse, Aus- und Weiterbildungen zumeist im kulturellen Bereich (Ausbildung zur Myroagogin in Portugal; Philosophiestudium; Weiterbildung zur Museumskuratorin) in Anspruch genommen.

5.3 Typus 3: Fügung

Im Orientierungsrahmen des Lebensentwurfstypus ‚Fügung‘ nimmt das Leben die Form einer Geschichte an, die einer bestimmten, aber implizit bleibenden Dramaturgie folgt bzw. um der Richtigkeit willen folgen muss. Bestimmung und Lebensziel – raison d’être und telos – zeigen sich als dominante Elemente der biografischen Konstruktion und geben der Erzählung eine fatalistische Konnotation, die nicht zuletzt durch entsprechende Redewendungen erzeugt wird („wie das ja im Leben so ist, es kommt sowieso alles so, wie’s kommen muss“, Große; „alles im Leben hat seinen Sinn“, Wunsch). Status spielt eine zentrale Rolle, insofern die ‚richtige‘, aufgrund von (u. a. generational transmittiertem) Talent, Bildung, Leistung bzw. genereller Pflichterfüllung rechtmäßig zustehende, soziale Position den Fluchtpunkt des Lebensentwurfs darstellt. Im Status treffen sich raison d’être und telos.

In den Erzählungen ist daher die Begründung der Rechtmäßigkeit des Statusanspruchs von besonderer Relevanz – z. B. Verweise auf objektivierte Leistungen wie Abschlüsse, Noten und Besten-Ränge, Auszeichnungen und Privilegien, die aufgrund besonderer Begabung oder beharrlicher Anstrengung eingeräumt wurden. Die Gründerinnen legen dar, dass sie „immer irgendwo bei den Besten“ zu finden waren (Wunsch) oder sich „alle Chancen […] durch Leistung selbst erobern“, wobei „hervorragende Abschlüsse und hervorragende Zensuren und Beurteilungen“ einen wichtigen Beitrag leisten (Graf). Auch denken sie über ihr Leben in Relationen und Distinktionen nach und zeigen eine hohe Sensibilität für Anerkennung und Verkennung. Episoden aus dem Leben dienen daher einerseits der (impliziten) argumentativen Darlegung der Rechtmäßigkeit persönlicher Positionierungsansprüche, andererseits werden aber auch Kränkungssituationen geschildert, denn insbesondere Zurückweisungen der Ansprüche gehen den Gründerinnen nahe: „ich hab’ mich in Frankfurt beworben bei sieben Stellen und hab dann Absagen bekommen und das war für mich schon irgendwie das Höchstmaß an Demütigung irgendwie, also es war fürchterlich“ (Schmidt).

Eine wesentliche Schwierigkeit des Lebensentwurfstypus besteht in der unzureichenden Internalisierung transformierter sozialer Ordnungen und Logiken. Hieraus erwachsen Diskordanzen zwischen familial und milieuspezifisch transmittierten Vorstellungen von der Welt und gewandelten Kontexten, die Bourdieu (1997) als Perspektiv- und Laufbahnkonflikte thematisiert (Barlösius 1999). Perspektivkonflikte entstehen in der Auseinandersetzung über die legitime Sichtweise auf die Welt und entladen sich insbesondere an heterogenen, zumeist öffentlichen Orten (u. a. Bildungsinstitutionen), an denen unterschiedliche Wissensordnungen und Bewertungslogiken aufeinanderprallen. Laufbahnkonflikte hingegen entstehen dort, wo eine antizipierte soziale Selbstpositionierung aus einem internalisierten Lebensverlauf abgeleitet wird, der an vergangenen sozialen Ordnungen und Verteilungsprinzipien orientiert ist und in der Gegenwart nicht mehr zu den erwarteten Ergebnissen führt. In der Folge entkoppeln sich Lebensziele und Zielerreichungsstrategien voneinander: Während die Ansprüche wachsen, geraten die konkreten Umsetzungspläne eher vage („also ich will GELD haben. Ich will an die großen Fische ran und ich seh’s nicht ein, die sollen was abgeben“, Große; „Also es gibt ja auch Menschen, die wirklich vom Nix-Tun fliegt denen einfach das Geld zu. Und sowas will ich auch. Also, dass es einfach LEICHT geht“, Wunsch). Insofern ist die Gefahr einer (unfreiwillig) prekären, als enttäuschend empfundenen Lebenslage groß.

Im Rahmen des Lebensentwurfstypus Fügung gilt die Schule als zentrale Institution, auf deren Basis die Gründerinnen ihre Statusansprüche legitimieren. Sie rekurrieren auf ihre exzellenten Leistungen, ohne die Entwertung von Bildungsabschlüssen und die subtiler werdenden Distinktionsstrategien in Rechnung stellen zu können. Ähnliches gilt für objektiviertes und inkorporiertes kulturelles Kapital, das ebenfalls ostentativ angeführt wird („dann war ich irgendwann die Beste in der Ballettschule und hab da dann meine Soli gehabt“, Wunsch; „mich hat schon auch französische Kultur sehr fasziniert“, Graf). Dabei sind Bildung und auch die Aneignung von Kultur in bestimmten Lebensphasen vorgesehen und tendenziell auch auf diese beschränkt.

Mit (berufs-)biographischen Umorientierungen geht weder die systematische Aneignung benötigter Wissensbestände einher (Pfad), noch korrespondieren sie generell mit Bildungsphasen oder der Erschließung neuer Wissensgebiete (Drift), vielmehr zeigt sich ein intuitiver, auf bereits angeeignetes Wissen und Können vertrauender Zugang: „Also vielleicht ist es schon so, dass man mit der inneren Einstellung doch ganz viel prägt. Also ich glaub das auf jeden Fall“ (Graf). Ein sukzessives, Wissenserwerb voraussetzendes Vorgehen wird eher als hinderlich betrachtet: „einfach mal anfangen, und sich da auch nicht vom Perfektionismus, […] bremsen zu lassen und zu sagen: Na, erst brauch ich die Ausbildung und dann brauch ich das, und erst, wenn ich das hab, dann kann ich anfangen. Sondern wirklich sagen: Nee. Jetzt.“ (Wunsch). Ausbildungen und auch Beratungsangebote werden bisweilen als wenig passend zurückgewiesen oder abgebrochen: „ich hab‘ dann noch zwei Jahre angefangen, eine Konfliktmanagementausbildung zu machen […] und hab die aber dann abgebrochen, währenddessen, weil ich gemerkt habe, dass mich die nicht so vorbereitet, wie ich’s mir eigentlich wünsche“ (Große). Die strategische Vagheit bzw. Orientierungslosigkeit in der Zielerreichung zeigt sich auch im Verhältnis zu Bildung. Die ideale Beratung wird daher als umfassende, enge Begleitung skizziert. Ideal wäre, „dass die auf individuelle Fragen zugeschnitten wird, die Beratung, dass man wirklich den eigenen Modellfall simuliert […] Ich denk’, das ist für viele zu allgemein, was da in den Beratungen läuft“ (Graf).

5.4 Diskussion

Die in der Gegenwartsdiagnose diskutierte Verkopplung von Ökonomisierung und Ästhetisierung (Bröckling 2007; Reckwitz 2012), aber auch das hiermit in Teilen korrespondierende Changieren zwischen humankapitalorientierten und selbstentfaltungsorientierten Ansätzen im lebenslangen Lernen (Spilker 2013; Von Felden 2020) dokumentiert sich für die Lebensentwurfstypen in zwei unterschiedlichen Varianten. Bildung wirkt im Rahmen sowohl des Typus Pfad als auch des Typus Drift als entwicklungsförderliches Moment. Im Typus Drift erhält Lernen dabei einen expansiven Charakter, indem es vornehmlich der Selbstentfaltung dient und die Erschließung neuer Interessensgebiete ermöglicht, im Typus Pfad ist es in erster Linie ein Mittel zur systematischen, linearen Weiterentwicklung des Lebenswegs und wird insofern vor allem pragmatisch aufgefasst (Schreiber-Barsch und Zeuner 2018). Beide Typen sind lern- und beratungsaffin und entscheidungs- bzw. selektionskompetent: Sie lehnen Bildungs- und Beratungsangebote ab, die nicht ihrem Orientierungsrahmen entsprechen. Dass dabei das Angebot für den Typus Pfad sachorientiert, konzise und ggf. modular ausfallen sollte, damit sich die Gründerinnen passgenau informieren können, ohne Zeit zu verlieren, während das Angebot für den Typus Drift personenorientiert, affizierend, individuell und horizonterweiternd gestaltet sein sollte, erzeugt insofern keine Konflikte, als beide Orientierungen in den Angebotsstrukturen z. B. der Gründungsberatungslandschaft Entsprechungen finden (Schwarz 2016). Komplizierter ist dies für den Typus Fügung: Die individuelle Gründung als Modellfall ganzheitlich und detailliert zum Gegenstand der Beratung zu machen, geht über die allgemeine Sachorientierung hinaus, beschränkt sich aber eben auch nicht auf den Wunsch nach einer Reflexionsfläche. Eine solch umfangreiche Orientierungsforderung konfligiert mit bildungsökonomischen Konzepten, die insbesondere auf selbstorganisiertes Lernen setzen (Schreiber-Barsch und Zeuner 2018).

Pfad und Drift zeigen sich als Lebensentwurfsformen, die der verstärkten Humankapitalorientierung in den bildungspolitischen Konzepten lebenslangen Lernens weitestgehend entsprechen können und sich dabei bietende Freiheiten nutzen. Bildungsimperative sind weitestgehend internalisiert und werden nicht als Zwänge, sondern als Notwendigkeiten oder auch Privilegien aufgefasst, was insbesondere durch die Möglichkeit der eigenständigen Selektion verstärkt wird. Im Fall des Typus Fügung zeigt sich ein anderes Bild: Hier liegt ein Laufbahnkonflikt vor, bei dem die internalisierte Normalbiografie nicht mit den gewandelten Verhältnissen übereinstimmt. Das Wiederaufnehmen von Lernaktivitäten, die eigentlich in der ersten Phase des Lebens hätten abgeschlossen sein müssen, wird als unangemessen empfunden, weshalb Bildungs- und Beratungsangebote z. T. nicht wahrgenommen oder auch abgebrochen werden. Hierbei handelt es sich wohlgemerkt nicht um ein Problem, das nur ältere Menschen betrifft, denn Laufbahnvorstellungen werden durchaus familial transmittiert.

6 Fazit

Anhand der empirischen Ergebnisse ließ sich zeigen, dass Lebensentwurfsformen und die hierin eingelassenen Orientierungsmuster hinsichtlich Weiterbildung eine beteiligungsregulierende Wirkung haben. Die regulative Praxis bezieht sich dabei im vorliegenden Fall – durchaus im Sinne eines ökonomisierten bildungspolitischen Programms lebenslangen Lernens – auch auf eine selbstgesteuerte qualitative Regulation, insofern die Gründerinnen kompetente Entscheidungen in ihren bildungsbiografischen Verläufen treffen und Angebote vor dem Hintergrund ihrer Bedürfnisse prüfen. Die Ergebnisse verweisen aber auch auf Laufbahnkonflikte als bildungsregulatives Momentum, das problematisch ist, weil es im Spannungsfeld einer grundlegenden Ambivalenz des Lebensentwurfstypus Fügung liegt: Der Wunsch nach Orientierungshilfe und Fortschritt bei gleichzeitiger Überzeugung, sich jenseits der Lebensphase zu befinden, in der Lernen normal und respektabel ist. Ein eigenständiges Erschließen geeigneter Weiterbildungs- und Beratungsangebote ist daher erschwert und bisweilen nicht erwünscht, obschon ein Leidensdruck besteht.

Die Verkopplung von Beteiligungsregulation und Lebensentwurf ermöglicht eine situierende Analyse, die Rückbezüge auf die gegenwärtigen praktischen Hervorbringungsformen von Leben ermöglicht und diese auch auf ihre sozial ungleichen Wirkungsweisen befragen kann. Damit wird das Konzept der Beteiligungsregulation erstens in eine (noch) stärker diachrone Perspektive gebracht, zweitens in Richtung gegenwartsanalytischer bzw. gesellschaftstransformatorischer Betrachtungsweisen aufgeschlossen. Drittens wird der im Konzept bereits eingelassene ungleichheitstheoretische Anspruch fortgeführt, in dessen Sinne Nicht-Beteiligung nicht a priori als problematisch und prekär bzw. Beteiligung nicht per se als Chance verstanden wird, sondern Chance und Risiko der Bildungsentscheidung sich erst im Kontext des Lebensentwurfes praktisch konstituiert.

Insofern stellt sich der skizzierte Zugang als ein relationaler Ansatz dar, der reflexiv fruchtbar gemacht werden kann. Er ermöglicht ein „Befremden gegenüber der eigenen Kultur“ der Weiterbildung (Wittpoth 2018, S. 1167), das die Besonderheiten üblicherweise unhinterfragter Prämissen der eigenen professionellen Praxis aufdeckt, in Relation zu den unterschiedlichen, durchaus diskrepanten Perspektiven der Adressatinnen und Adressaten setzt und auf diese Weise ein dezidierteres Verständnis für die praktische Regulation der Weiterbildungsbeteiligung etabliert. Die Betrachtung von Beteiligungsregulation im Kontext des Lebensentwurfs ermöglicht also bei der Konzeption, beratenden Begleitung oder auch Durchführung von Weiterbildungsprozessen eine Reflexivität, die nicht nur die Situation der Bildungsakteure in den Blick nimmt, sondern diese auch systematisch mit den Implikationen der Programmatiken lebenslangen Lernens in Verbindung bringt, die sich sowohl durch das professionelle Handeln, als auch durch die Weiterbildungskonzepte vermitteln.