Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag zeigt narrative Konstitutions- und Stabilisierungsangebote kollektiver ,rechter‘ Identität in religionsbezogener Kommunikation auf. Dabei wird deutlich, dass die Affordanzen identitätsbildender Identifikationsangebote in der Konstruktion bestimmter Narrative angelegt sind. Exemplarisch zeigt sich dies über die Konturierung eines rechtspopulistischen (religiös getönten) Masternarrativs: Forcierte Distinktionsbestimmungen zielen auf eine bestimmte Strukturierung der Wahrnehmung sozialer Realität ab. Dazu bedienen sich Kommunikationsteilnehmer:innen auf synchroner Ebene der Figur des Anti-Elitismus, in diachroner Perspektive der Vitalisierung der Vorstellung eines ,heartlands‘, das in scharfem Kontrast zur krisenhaft beschriebenen Gegenwart steht. Beide Momente der potenziell (gruppen-)identitätsbildenden Angebote, so ist anzunehmen, begünstigen nicht zuletzt affektiv die diskursive Rezeptivität und Produktivität nicht nur des Masternarrativs, sondern auch entsprechender rechtspopulistischer Narrativfragmente. Wenngleich Gary Alan Fines Klassifizierung sogenannter „movement stories“ nicht eins zu eins auf das Material des Projektes anwendbar ist, so lässt die Relektüre des Materials mit der Brille der Ausdifferenzierung in „horror stories“, „war stories“ und „happy endings“ noch einmal die unterschiedlichen narrativen Möglichkeiten und Realisierungen potenziell identitätsstiftender Identifikationsangebote in rechtspopulistischer, gar als rechtsextrem zu bezeichnenden Kommunikationen aufleuchten.
Abstract
This contribution shows how collective ‚right-wing‘ identity is constituted and stabilized in religion-related communication. It becomes clear that the affordances of identityforming offers of identification are inherent in the construction of certain narratives. This becomes exemplary through the contouring of a right-wing populist (religiously colored) master narrative: Forced distinction definitions aim at a certain structuring of the perception of social reality. To make this happen, communication participants make use of the figure of anti-elitism on a synchronic level and, from a diachronic perspective, the vitalization of the idea of a heartland that stands in sharp contrast to the crisis-ridden present. It can be assumed that both moments of potentially (group) identity-forming offers of identification not least affectively favor the discursive receptivity and productivity not only of the master narrative, but also of corresponding right-wing populist narrative fragments. Although Gary Alan Fine’s classification of socalled „movement stories“ cannot be applied one-to-one to the material of the project, the re-reading of the material through the lens of differentiation into „horror stories“, „war stories“ and „happy endings“ once again sheds light on the different narrative possibilities and realizations of potentially identity-forming offers of identification in right-wing populist, even right-wing extremist, communications
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1 Christliche Religiosität und vorteilsbezogene Kommunikation: Analyse von Online-Kommunikaten
Rechtspopulistische Kommunikation kennzeichnet ein hohes Maß an diskursiver Flexibilität und Dynamik, verschränkt sich daher auch problemlos mit christlichen Semantiken und religiösen Vorstellungen. Die sich daraus ergebenden Variationen in ihrer Bandbreite nachvollziehen und veranschaulichen zu können, das war eines der Hauptanliegen des Projektes Religion und Rechtspopulismus/-extremismus. Analysen von Narrationen vorurteilsbezogener Kommunikation und Hassrede online im Rahmen der Verbundstudie Kirchenmitgliedschaft und politische Kultur (vgl. EKD 2022; Lämmlin et al. 2023).
Um Muster und Varianzen zu identifizieren, wurden Kommunikate unterschiedlicher Kontexte entlang eines angenommenen ‚Mitte-Rechts-Spektrums‘ in den Blick genommen, die wiederum verschiedene Kommunikationsformen aufwiesen, von Blogeinträgen mit ihren Kommentaren über Tweets zu E‑Mails.Footnote 1 Der thematische Fokus lag auf der Analyse von Kommunikaten im Zusammenhang der Entscheidung der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD), ein Bündnis (united4rescue) zur Unterstützung von Seenotrettungseinsätzen auf dem Mittelmeer zu initiieren, das sich in der Finanzierung und Anschaffung eines Rettungsschiffes (Sea-Watch 4) fortsetzte.Footnote 2 Ein narrativer Ansatz zur Analyse des annähernd 30.000 Kommunikate umfassenden Materialkorpus erwies sich als zielführend, da er den Varianzen in Kommunikationsform und -kontexten Rechnung tragen kann. Grundlegend dafür ist die Konzeptualisierung von ‚Narrativ‘ als Tiefenstruktur, die propositionale Gehalte in kausaler und temporaler Hinsicht kohärent verbindet – und insofern unterschiedlichen Kommunikationsformen unterliegt sowie in verschiedenen Kontexten aufgerufen werden kann. Im ersten Schritt der Analyse konnte ein rechtspopulistisches MasternarrativFootnote 3 umrissen werden, das auch in religiösem ‚Gewand‘ auftritt, und das als ‚analytische Schablone‘ diente. Auch kurze und argumentativ wenig stringente Posts und Kommentare ließen sich auf diese Weise erschließen, und über die Kennzeichnung von Narrativfragmenten- und varianten ließen sich kontextuelle Veränderungen aufspüren.
Die Dynamik rechtspopulistischer Kommunikation erfordert grundsätzlich eine mehrdimensionale Betrachtungsweise. Für das Material der Studie erschienen uns zwei Perspektiven notwendig. Mehr als deutlich ist zunächst, dass rechtspopulistische Kommunikation bzw. Narrative als rhetorische Krisenverstärker wahrgenommen werden können. Krisensemantiken erweisen sich für rechtspopulistische Agitator:innen als eine einträgliche Kommunikationsstrategie, um sich fortwährend diskursiv in Szene setzen und das eigene, ggf. antagonistische Gesellschaftsbild gezielt in Stellung bringen zu können. In den Kommunikationskontexten weiter rechts auf dem angenommenen ‚Mitte-Rechts-Spektrum‘ beobachten wir eine Häufung der Krisenrhetorik und die Einflechtung von verschwörungstheoretischen Elementen. Neben der instrumentellen Perspektive, die auf die Fälle bewusster Kriseninszenierung verweist, sollte allerdings u. E. nicht übersehen werden, dass der Erfolg rechtspopulistischer Kommunikation wesentlich abhängt von der Bezugnahme auf und Integration von Artikulationen alltäglicher Verunsicherungen durch wahrgenommene Ressourcenverknappung, die durchaus objektive Gründe haben können. Damit ist die Frage angesprochen, ob und inwieweit rechtspopulistische Kommunikation als Indiz für gesellschaftliche Krisen gewertet werden kann, insbesondere als Indikator einer Krise demokratischer Institutionen. So lassen sich in unserem Material auch Züge einer Krise kirchlicher Repräsentation bzw. Kommunikation ausdeuten: Die Diskussion um die Rolle der Kirche als gesellschaftliche Organisation in der Seenotrettung kann als Diskurs beschrieben werden, der medial in erster Linie über Rekurs auf vermeintliches Handeln einzelner exponierter Kirchenvertreter:innen inszeniert wurde. Dabei schien entsprechend eine Thematisierung der kommunikativen Auseinandersetzung über das Thema in der Alltagswelt ‚vor Ort‘, etwa im Kontext der örtlichen Kirchengemeinde, zu fehlen.
Die Beobachtung der Verschränkung real existierender Ängste mit rechtspopulistischen Narrativen wirft eine doppelte Fragestellung auf: die Frage nach den Träger:innen von Kommunikation und ihren Motiven sowie die Frage nach den Mechanismen, die eine Adaption ideologischer Inhalte bedingen. Vor diesem Fragehorizont rücken Kommunikate in den Fokus, die im Zusammenhang expliziter und impliziter Selbstdeutungen in Relation zu imaginierten Bezugsgruppen ein rechtspopulistisches Identifikationsangebot prozessieren. Narrative Artikulationen rechtspopulistischer Identifikationsaffordanzen mit Blick auf Vorstellungen kollektiver Identität – so die hier zugrundeliegende Annahme – bilden starke Anreize diskursiver Adaption, da ihnen Deutungs- und Handlungsangebote inhärent sind, die Entscheidungsfähigkeit und ein Gefühl der Sicherheit vermitteln (vgl. Daphi 2011, S. 13 f.), sie gleichzeitig aber auch durch konzeptuelle Ambiguitäten (insbesondere über den Volksbegriff) den narrativen Rezeptions- bzw. Partizipationsprozess anregen. Dieser Spur der narrativen Konstitutions- und Stabilisierungsangebote kollektiver ‚rechter‘ Identität in religionsbezogener Kommunikation will der vorliegende Beitrag weiter nachgehen.Footnote 4
Dabei werden in einem ersten Schritt (2.) grundsätzliche Einsichten in die Konstitutionsmechanismen kollektiver Identität dargelegt und die Rolle von Interpretations- bzw. Organisationsschemata benannt; expliziert wird ebenfalls, wie der eigene analytische Fokus auf Narrative als spezifische Organisationstypen vor diesem Hintergrund einzuordnen ist. Der folgende Abschnitt (3.) stellt das rechtspopulistische Masternarrativ vor, wie es mittels Materialanalysen konturiert werden konnte, und beleuchtet dessen identitätskonstituierende Elemente. In Anwendung der von Gary Alan Fines vorgeschlagenen dreifachen Typologie sogenannter „movement stories“ auf unser Material illustriert der letzte Abschnitt des Beitrags (4.), wie sich die identitätskonstituierenden Elemente des rechtspopulistischen Masternarrativs kommunikativ darstellen und kontextspezifisch ausdifferenzieren.
2 Kollektive Identität und narratives Framing
Kollektive IdentitätFootnote 5 ist als Emergenzphänomen aufzufassen. Sie besteht nicht einfach aus der Summe individueller Erfahrungen und Wahrnehmungen, individueller Selbstkonzepte, sondern wird durch Interaktionsprozesse ausgebildet und stabilisiert (vgl. Polletta und Jasper 2001, S. 298). Subjektiv manifestiert sie sich als „perception of a shared status or relation, which may be imagined rather than experienced directly“ (Polletta und Jasper 2001, S. 285), während sie sich objektiv in kulturellen Ausdrucksformen und Handlungspraxen niederschlägt. Wenngleich im Hintergrund unseres Materials keine einheitliche Träger:innengruppe steht, führen viele der Kommunikationen – auch in ihrem impliziten wie expliziten Bezug auf gängige Narrative (vgl. hierzu Punkt 3) – den Gedanken eines positiv konnotierten Kollektivsubjekts mit sich. Für die Entstehung kollektiver Identität ist dabei der Prozess sozialer Distinktion bzw. Konfrontation essentiell – gemeint ist im Sinne der Social Identity Theory (SIT) von Tajfel und Turner der Vollzug einer positiven Selbstbewertung im Horizont der Eigengruppe (Ingroup) in Abgrenzung zu einer anderen Gruppe (Outgroup) (vgl. Hillje 2022, S. 141 f.; Zick und Wagner 1995, S. 85 f.). Während die psychologische Forschung davon ausgeht, dass Identität im Allgemeinen als „dynamischer und fließender Prozess“ (Demuth und Watzlawik 2022, S. 630) zu verstehen ist, der in seiner Konstitution eben in Wechselbeziehungen zwischen Individuum und sozialer Interaktion der Individuen eingespannt ist, verstärken sich in der Kommunikation von Identität im Zusammenhang rechtspopulistischer Artikulationen die Abgrenzungsintentionen bzw. -prozesse.
Alain Touraines Trias identité, opposition und totalité (1973) unterstreicht dieses Prinzip der Identitätskonstitution durch forcierte Distinktionsbestimmungen, wenn er – in der Beschreibung verschärft – die Entstehung kollektiver Identität nicht nur an einen Unterscheidungsvorgang, sondern an „eine Auseinandersetzung mit dem Gegner und […] [die] Profilierung des Konfliktinhalts“ (Rucht 1995, S. 13) gebunden versteht. In jedem Fall birgt die Vorstellung kollektiver Identität eine bestimmte Strukturierung sozialer Realität, die das Verständnis der eigenen, sich dazu positionierenden Person und der sozialen Gegebenheiten prägt – kollektive Identität setzt also einen spezifischen Deutungsrahmen, der auf seine kommunikative Reproduktion angewiesen ist.
Inwiefern dieser Prozess der kommunikativen Reproduktion in politisierender AbsichtFootnote 6 (z. B. im Zusammenhang der politischen Arbeit von Bewegungen) auf grundlegenden sozialpsychologischen Mechanismen aufruht, wird noch einmal unter Rekurs auf Erving Goffmans Gedanken zur Rahmen-Analyse deutlich. Goffman hat für die Vorstellung, dass Sinnbildungs- und Erkenntnisprozesse von Deutungsrahmen abhängen, den Begriff des Framings geprägt. In seinem Essay Frame Analysis: An Essay on the Organization of Experience (1974) untersucht Goffman, wie Individuen sich in sozialen Situationen orientieren. Seiner Analyse liegt die Ansicht zugrunde, dass Bedeutungszuschreibungen in sozialen Situationen nur möglich sind vermittels der Organisation von Wahrnehmung durch ‚Interpretationsschemata‘:
“When the individual in our Western society recognizes a particular event, he tends, whatever else he does, to imply in this response (and in effect employ) one or more frameworks or schemata of interpretation of a kind that can be called primary. I say primary because application of such a framework or perspective is seen by those who apply it as not depending on or harking back to some prior or ‘original’ interpretation; indeed a primary framework is one that is seen as rendering what would otherwise be a meaningless aspect of the scene into something that is meaningful.” (Goffman 1974, S. 21)
Einfacher ausgedrückt könnte man sagen, dass ohne Interpretationsschemata oder Frames dem wahrnehmenden Individuum die (intentionale) Bedeutung der Interaktion verborgen bleibt. Frames fungieren gewissermaßen wie mentale Landkarten oder Spielregeln, die den Zugang zu einer sozialen Situation eröffnen.Footnote 7 Hieraus lässt sich im Hinblick auf das Phänomen kollektiver Identitäten schließen, dass Frames eine entscheidende Rolle in der Vermittlung von Kernelementen und Handlungsintentionen zugerechnet werden kann.
Es ist daher nicht überraschend, dass gerade in der Bewegungsforschung solche Ansätze großen Zuspruch gefunden haben, die die Vermittlungsfunktion von Frames ins Zentrum ihrer Analyse stellen (vgl. Daphi 2011, S. 14 f.). Die meisten Framing-Theorien knüpfen an Goffmans Konzept der Rahmenanalyse an, vollziehen allerdings einen PerspektivenwechselFootnote 8: Ihr Fokus liegt nicht auf der Orientierungs- und Sinnbildungsfunktion des Framings im Kontext individueller kognitiver Prozesse, sondern auf Framing als strategischem Instrument politischer Kommunikation – „der Framing-Ansatz [hebt] die aktiven Bemühungen der Akteure hervor, die Interpretationen der Umwelt und der Gruppe zu ‚rahmen‘“ (Daphi 2011, S. 14). Auch wenn den Frames ‚zwei Lebensformen‘ attestiert werden (kognitiver Mechanismus beim Individuum und politische Strategie), scheint die Annahme vorherrschend, dass diese beiden Formen nicht in einem reziproken, sondern einem hierarchischen Bedingungsverhältnis zueinander stehen:
“In our analysis, frames lead a double life. As we have suggested so far, frames are interpretative structures embedded in political discourse. In this use, frames are rhetorical weapons created and sharpened by political elites to advance their interests and ideologies. […] At the same time, frames live inside the mind; they are cognitive structures that help individual citizens make sense of issues that animate political life. They provide order and meaning […] Citizens occasionally generate frames on their own, but for the most part we believe frames are assembled and promoted by others. They are the creation of a handful of intellectuals and activists, then brought to public attentions by issue entrepreneurs and journalists.” (Kinder and Sanders 1996, S. 164 f.)Footnote 9
Die meisten Framing-Ansätze in der Bewegungsforschung nehmen folglich, so auch Ullrichs und Kellers Diagnose, eine rationalistisch-instrumentalistische Perspektive in der Analyse der sozialen Konstruktion gemeinsamer Interessen ein, die Framing-Prozesse in erster Linie betrachtet als „movement tasks that can be fulfilled more or less successfully“ (Ullrich und Keller 2014, S. 116).Footnote 10
Vor dem Hintergrund dieser Perspektive stellt ein narrativer Ansatz, wie er unserer Studie zugrunde liegt, in doppelter Hinsicht eine sinnvolle Erweiterung dar. Narrative und Frames besitzen grundsätzlich die gleiche Funktion – beide strukturieren Prozesse der Sinndeutung und Orientierung mit Blick auf Selbst- und Welterfahrung.Footnote 11 Allerdings präsentieren sie verschiedene Organisationstypen. Ihre strukturellen Mechanismen der Kohärenzbildung und Komplexitätsreduktion, mit der sie auf die Verarbeitung von ‚Wirklichkeit‘ zugreifen, folgen unterschiedlichen Logiken: Frames operieren „through discursive processes of analogy and difference“ (Polletta 1998, S. 422); demgegenüber gestalten sich Narrative als kausale und temporale Sequenzierung, die propositionale Gehalte zu einer kohärenten Aussagestruktur verbindet. Narrative scheinen das Strukturierungsprinzip von Frames integrieren zu können, umgekehrt ist das nicht der Fall. Während Narrative Frames nämlich in der Erzeugung von Rationalisierungseffekten entsprechen, setzen sich Narrative in zwei Hinsichten von letzteren ab: in ihrer affektiven und in ihrer partizipativen Dimension. Narrative Kommunikation ist stark an Affekte gebunden, nicht zuletzt, weil diese für die Nacherzählungspraxis, also die Adaption bzw. Anwendung von Narrativen, eine wichtige Rolle als Erinnerungsanker spielen (vgl. Breithaupt et al. 2022, S. 596).Footnote 12
Narrative können als ‚Grenzgänger‘ verstanden werden, die zwischen kognitiven und affektiven Prozessen vermitteln. In ihrer Analyse liegt daher die Chance, mit Blick auf Fragen potenziell identitätsbildender Identifikationsangebote einen einseitigen Fokus auf kognitive Aspekte zu vermeiden. Neben der engen Verzahnung mit Affekten zeichnet sich die Rezeption von Narrativen zudem durch ein partizipatives Surplus aus, das diese sui generis erzeugen. Denn im Unterschied zu Frames, deren Überzeugungspotential von ihrer Eindeutigkeit und Verständlichkeit abhängt, sind Narrative charakterisiert durch Ambiguitäten, die anhaltend Aufmerksamkeit und Interpretation erfordern – so entspinnt sich eine Art narrativer Regress: „the difficulty of logically explaining some events (because they are unfamiliar, or defy conventional rationales for action) may compel a narrative explanation, which in turn preserves the ambiguity that calls for more stories“ (Polletta 1998, S. 423 f.) Dass die mobilisierende Kraft von Narrrativen nicht in ihrer Klarheit, sondern gerade in ihrer Deutungsoffenheit liegt, führt Francesca Polletta außerdem zu der Annahme, dass Narrative gerade „in conditions of ‚loose structure‘ […], where there are neither established organizations nor coherent ideologies in place“ (Polletta 1998, S. 429) Relevanz besitzen.
Rechtspopulismus als kommunikatives Phänomen manifestiert sich im Sinne der Bestimmung als ‚dünne‘ Ideologie (vgl. Freeden 1998; Mudde und Kaltwasser 2017) ebenfalls als ein loses, überaus dynamisches Gefüge; dies gilt umso mehr für den Kontext vernetzter Online-Kommunikation, wie er in unserer Studie in den Blick genommen wurde. Die lose Struktur erschwert zum einen die Möglichkeit deutlicher Grenzziehungen zwischen den Aussagen derer, die eindeutig als rechtspopulistische Agitatoren gelten können und aktiv mobilisieren, und denen, die Ansichten aufnehmen und ‚lediglich‘ reproduzieren. Zum anderen sind auch die Übergänge zwischen rechtspopulistischen Artikulationen und solchen, die bereits als rechtsextrem gelten müssen, wie bereits erwähnt, zum Teil fließend. Die Analyse von narrativ vermittelten Artikulationen potenziell identitätsbildender Identifikationsangebote kann hilfreich sein, wenn es darum geht, am Ort der Subjekte mit einem stärker differenzierenden Blick die spezifische kommunikative Vermittlung und Stabilisierung einer Deutungsperspektive jenseits von bloßen „instrumental framing efforts“ (Polletta 1998, S. 420) i. S. eines strategischen Vorgehens zu beobachten.
3 Das Masternarrativ und seine identitätskonstituierenden Elemente
Das materialbasiert ermittelte rechtspopulistische Masternarrativ kann als ein Aspekt der Inszenierung eines ‚Ursprungsmythos‘ aufgefasst werden, die sich ex negativo über zwei markante Elemente ausgestaltet. Das erste der beiden Erzählmotive bildet der für ‚den‘ Populismus essentielle, dezidierte Anti-Elitismus (vgl. Mudde und Kaltwasser 2017).Footnote 13 Der Anti-Elitismus entspricht im Sinne der SIT einer sozialen Distinktion, die ein dichotomes Gesellschaftsbild suggeriert. Konstelliert wird ein Gegenüber von ‚reinem Volk‘ und ‚korrupter Elite‘, die sich als zwei homogene, antagonistische Größen gegenüberstehen. In unserem religionsbezogenen Material erscheint das Anti-Elitismus-Motiv primär religiös eingefärbt: als Widerstreit zwischen vermeintlich ‚volksfeindlichen‘, sich für die Seenotrettung engagierenden Kirchenvertreter:innen und den ‚wahren‘, ‚rechtgläubigen‘ Christen. Das zweite wesentliche Gestaltungselement des Masternarrativs ist das Motiv der Dekadenz in der Deutung der gegenwärtigen sozio-kulturellen Entwicklungen: Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist im Verfall begriffen, nicht zuletzt Dank der o. g. als Gegenüber apostrophierten ‚Eliten‘. Diese Diagnose, durch die das Narrativ einen apokalyptischen Charakter erhält, ist in vielen unserer Kommunikate greifbar, je nach Kontext jedoch deutlich unterschiedlich ausgeprägt.
Im Sinne der Minimalbedingung nach Gerald J. PrinceFootnote 14 lässt sich das Masternarrativ wie folgt ausformulieren, zunächst in seiner allgemeinen Gestalt, dann in seiner religiös eingefärbten:
-
a
Deutschland ist Heimat des deutschen Volkes als autochthoner Bevölkerung mit einer intakten Sozialstruktur gewesen,
-
b
korrupte/kriminelle Eliten haben Land und Kultur zum eigenen (Finanz‑)Vorteil verraten und tun das immer noch,
-
c
Deutschland verfällt, die notwendige Gegenwehr besteht darin, unter Bezug auf das Eigene, der Meinung des wahren, reinen Volkes (s. autochthone Bevölkerung), dem common sense gegen Eliten und fremdkulturelle Einflüsse zur Durchsetzung zu verhelfen.
-
a*
Deutschland ist Heimat des deutschen Volkes als autochthoner Bevölkerung und mit einer intakten religiösen Sozialstruktur gewesen,
-
b*
korrupte/kriminelle (Kirchen‑)Eliten haben Glaube, Land und Kultur zum eigenen (Finanz‑)Vorteil verraten und tun das immer noch,
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c*
Deutschland mit seiner christlich geprägten Sozialstruktur verfällt – wahre Christen erkennen das und leisten Widerstand (Aufbegehren gegen Eliten und fremdkulturelle Einflüsse; Kirchenaustritt).
Entlang der ausgewiesenen Gestaltungselemente lassen sich potenziell (gruppen-)identitätsbildende Angebote erkennen, die in einer doppelten Negation gründen.Footnote 15 Der Anti-Elitismus schließt eine erste Negation ein, die auf der synchronen Ebene angesiedelt ist. In Abgrenzung zum Hauptantagonisten, den vermeintlich korrupten elitären Kräften, wird die eigene deutsche Gesellschaft als Gemeinschaft unschuldiger Opfer dargestellt, die unreflektierten oder moralisch fragwürdigen Entscheidungen, die nicht dem Wohlergehen der autochthonen Bevölkerung dienen, ungeschützt ausgesetzt ist, so die Figur. Auch die Maßnahmen der Kirche als sozial engagierter Organisation und ihrer Vertreter:innen werden in diesem Sinne in Zweifel gezogen – die Entscheidung zur Unterstützung der Seenotrettung im Mittelmeer wird als frappierendes Beispiel in Anschlag gebracht. Demgegenüber präsentieren sich nicht wenige Kommentator:innen aufgrund ihrer Loyalität für ihre eigene Religion und ihren Kulturraum als ‚wahre‘ Christen, die die ‚fremd‘ kulturellen Einflüsse, vor allem des Islam, als Bedrohung betrachten.
Die zweite Negation erfolgt auf diachroner Ebene: Das Dekadenzmodell operiert mit der Vorstellung, dass der gegenwärtige und beständig fortschreitende Prozess des Niedergangs sein Gegenbild in einem heartland (Paul Taggart 2000) vermeintlich vergangener Tage findet, in denen der primäre Lebenszusammenhang – freilich unhistorisch – als ideal romantisiert wird. Im Zusammenhang dieser als ursprünglich inszenierten ‚Vergangenheit‘ wird die eigene deutsche Gesellschaft als von äußeren Einflüssen unberührter, solidarisch christlich-religiöser Schutzraum imaginiert. In der Verschränkung der beiden Negationen konturiert sich so eine Art ‚Ursprungsmythos‘, in dem ‚das deutsche Volk‘ als primordiales, gemeinschaftsstiftendes Sehnsuchtsmoment in Erinnerung gehalten und die Legitimität der Komplexität gesellschaftlicher pluraler Verhältnisse in Abrede gestellt wird. Über die Vergegenwärtigung dieses ‚Sehnsuchtsorts‘, an dem die Gesellschaft sich in einem unberührten, quasi heiligen Zustand moralischer Integrität befindet, vermittelt der ‚Ursprungsmythos‘ Gefühle familiärer Geborgenheit und spricht das Bedürfnis nach Sicherheit, Solidarität und Gemeinschaft an.Footnote 16
Mit den beiden Momenten der potenziell (gruppen-)identitätsbildenden Identifikationsangebote verbinden sich Affordanzen, die die diskursive Rezeptivität und Produktivität des rechtspopulistischen Masternarrativs bedingen. Ganz offensichtlich ist, dass dem manichäischen Gesellschaftsbild, das der Anti-Elitismus evoziert, ein attraktives Angebot zur Befriedigung des Bedürfnisses nach einer positiven kollektiven Identität inhärent ist: Es eröffnet eine „nahezu voraussetzungslose Möglichkeit zur Selbstkategorisierung“ (Hillje 2022, S. 145) als moralisch überlegen. Die solchermaßen positiv konnotierte Selbstdeutung wird dadurch unterstützt, dass der Begriff des ‚reinen Volkes‘, auch wenn man ihn nicht nur als ‚leeren Signifikanten‘ (Laclau) betrachtet, sondern seine moralisierende und idealisierende Konnotation unterstreichtFootnote 17, unscharf bleibt. Das Narrativ gewinnt dadurch eine maßgebliche, mobilisierende Deutungsoffenheit, die, so wurde es auch an unserem Material ersichtlich, ein Anknüpfen aus unterschiedlichen Kontexten ermöglicht. Die Produktivität des rechtspopulistischen Narrativs resultiert also wesentlich aus der Ambiguität des Volksbegriffs. Daneben scheint es die Imagination eines Ursprungszustands als ‚Sehnsuchtsort‘ angesichts der vermeintlichen gesellschaftlichen Verfallsentwicklung zu sein, die eine Rezeption des Narrativs reizvoll macht, indem es, wie bereits erwähnt, das Sicherheits- und Gemeinschaftsbedürfnis der Rezipient:innen stark anspricht. Dies gelingt durch die Vermittlung eines stabilen Bezugspunktes, von dem aus persönliche Erfahrungen und die gegenwärtige Gesellschaftssituation eingeordnet und eine klare Handlungs- bzw. Zukunftsperspektive entworfen werden kann. Dass die Bedeutung einer Ursprungsimagination von der pessimistischen Gegenwartdiagnose abhängt, ist dabei alles andere als unwesentlich: Denn die Artikulationen von Krisenszenarien, in denen sich das Verfallsmodell des Narrativs ausdrückt, erzeugen eine Atmosphäre der Angst, bezüglich derer sich das kommunikative Aufrufen eines heartlands als spannungslösendes Moment unmittelbar anbietet. Damit ist angezeigt, dass das Narrativ durch die strukturell angelegte Spannung einen sich selbst reproduzierenden Charakter besitzt – ein weiterer, wichtiger Grund für dessen diskursive Produktivität. Am Material ließ sich beobachten, dass Narrativvarianten Unterschiede insbesondere in der Bestimmung des Volksbegriffs aufweisen, aber auch in der Ausgestaltung der Verfallsvorstellung.
4 Drei Typen narrativer identitätsbildender Identifikationsangebote
Zur Illustration der angesprochenen Affordanzen am Material greifen wir Gary Alan Fines Vorschlag zur Klassifizierung sogenannter „movement stories“ auf. Fine kann mit diesen ausdifferenzierten Typen zeigen, wie narrativ potenziell geteilter Sinn und soziale Kohäsion erzeugt werden, die stories also klare Identifikationsangebote machen. Dies ist der Punkt, der in unseren Analysen besonders interessiert, und daher erscheint uns Fines Klassifizierung als hilfreich, wenngleich Fine selbst sie auf andere Untersuchungskontexte anwendet. Fine unterscheidet drei fundamentale Typen potenziell identitätskonstitutierender Erzählungen: (1) „horror stories“, (2) „war stories“ und (3) „happy endings“ (vgl. Fine 1995, S. 135). Der erste Typ („horror stories“) betrifft solche Narrative und Narrativfragmente, die negative individuelle Erfahrungen und als problematisch wahrgenommene soziale Zustände thematisieren, die es zu überwinden gilt. Man könnte auch sagen: Es geht um Opfergeschichten, die das Engagement in der Bewegung bzw. für das politische Handeln auf sozialen Wandel hin legitimieren. In die zweite Kategorie („war stories“) fallen Berichte sozialer Anfeindung durch andere, die als Antipoden einer ‚guten‘ und ‚notwendigen‘ Sache inszeniert werden. Diese Berichte dienen auch dazu, die eigene Haltung und das eigene Handeln moralisch zu rechtfertigen. Dem dritten Typ von Erzählungen („happy endings“) werden Äußerungen zugeordnet, die eine positiv konnotierte Erfahrung oder Handlung im Zusammenhang des Engagements adressieren: „They provide a morale boost and directly reinforce movement involvement“ (Fine 1995, S. 136). Wenngleich Fines Typologie nicht eins zu eins auf unser Material übertragen werden kann, lassen sich interessante Parallelen markieren, insbesondere mit Blick auf die Affordanzen der Narrative.
4.1 „Horror Stories“ – Krisenberichte
„Horror stories“ lassen sich im Falle unseres Materials dort ausmachen, wo Kommentierende sich als Opfer, in diesem Fall als ‚Kollektivopfer‘ im Sinne der Bevölkerung, der vermeintlichen gesellschaftlichen Negativentwicklung beschreiben. Beklagt wird, dass die Kirchenvertreter:innen durch ihr Engagement für die Seenotrettung ihre zugedachte Rolle innerhalb der Gesellschaft nicht mehr ausreichend erfüllen und zur Destabilisierung der sozio-ökonomischen Verhältnisse beitragen. Im Rahmen derartiger Vorwürfe sind nicht selten Deutungen des christlichen Topos der Nächstenliebe oder auch der Barmherzigkeit anzutreffen, die implizit oder explizit nahelegen, dass sich eine falsche Theologie in fehlgeleiteten, moralisch fragwürdigen Handlungsweisen niederschlägt. Der:die Verfasser:in der folgenden E‑Mail an den Info-Service der EKD beschreibt entsprechend Nächstenliebe als Ausdruck der Anerkennung für die Ängste und die Betroffenheit innerhalb der deutschen Gesellschaft:
„Sehr geehrte Damen und Herren, nach der Resolution auf dem Kirchentag nun mit der o. g. Pressemitteilung vom 12.09.2019 der konsequente Schritt zur Anschaffung eines Schiffes zum Transfer von Migranten. Dieser Schritt hat mich sehr traurig gemacht, da die evangelische Kirche mit dieser Entscheidung die Entfernung von der Basis der Kirchenmitglieder und der Spaltung der Gesellschaft weiterführt. Die ‚Verbändelung‘ mit diversen Bündnissen, die bis in das gewaltbereite Antifa-Umfeld reichen, war schon schwer zu ertragen. Barmherzigkeit bedeutet auch das Einsetzen für die Menschen, die in unserer Gesellschaft durch verschiedenste Formen von Gewalt, Raub und Diebstahl, Beleidigungen und Diskriminierungen betroffen sind. Sie lassen die Gesellschaft im Regen stehen. Nächstenliebe heißt auch in unserer Nachbarschaft Menschen in ihrer Angst beim S‑Bahnfahren ernst zu nehmen. Trost brauchen wir vor der Ohnmacht der ansteigenden Drogendealerei und Messerstechereien. Die absolute und relative Zunahme dieser Betroffenheit ist nicht ein Gefühl, sondern ein Faktum. Den Einsatz von Kirchensteuern zur weiteren Stärkung eines Pull-Effektes, der weiteres menschliches Elend produziert, kann ich – insbesondere aus christliche Sicht – nicht folgen. Im Glauben und Hoffnung auf Gerechtigkeit mit freundlichen Grüßen“ (Info Service EKD, Seenotrettung, 43)
In Kommunikaten, die geltend machen, dass sich die angeblich falsche Priorisierung kirchlicher Aufgaben nicht nur in einer fehlenden Wahrnehmung gesellschaftlicher Missstände, sondern mehr noch in einer ernstzunehmenden ökonomischen und sozialpolitischen Belastungssituation niederschlägt, wird an einigen Stellen die biblische Figur des Barmherzigen Samariters aufgerufen. Wie in folgendem Thread der idea-Facebook-Seite explizieren User:innen das Verhalten des Samariters meist als paradigmatischen Gegenentwurf zum Handeln der Kirche: Die Hilfeleistung des Samariters wird als selbstverantwortetes Handeln gedeutet, während der Kirche zur Last gelegt wird, die Folgen ihres sozialen Engagements nicht mit zu bedenken und der Allgemeinheit aufzubürden.
„Selbst die Kirchenfürsten haben den Text über den barmherzigen Samariter nicht zu Ende gelesen, dort heißt es nämlich: ‚Dort gab er am folgenden Morgen dem Wirt zwei Denare und beauftragte ihn mit der weiteren Pflege, verbunden mit der Zusage seiner Wiederkehr und der Erstattung weiterer Kosten.‘ Und genau das versäumen diese heutigen sogenannten guten Menschen. Sie karren uns Hunderttausende vor die Tür und sagen: Nun macht mal. Kostenerstattung ? Da sagen sie auch: ‚Nein, Danke‘“ (JF_EKD-Rettungsschiff [=1], 408)
Je weiter rechts auf dem angenommen ‚Mitte-Rechts-Spektrum‘ Kommunikate angesiedelt sind, desto markanter verbinden sich Kirchenkritik und negative Gesellschaftsdiagnose mit einem territorial enggeführten Begriff von Nächstenliebe. Diese exklusive Vorstellung von Nächstenliebe spiegelt ein Selbstbild wider, das sich nicht allein über Moralvorstellungen im Kontext der Gegenüberstellung von (Kirchen-)‚Elite‘ und ‚reinem Volk‘ bzw. ‚wahren Christen‘ etabliert (vgl. Mudde 2017, S. 33). Das potenziell identitätsbildende Identifikationsangebot erfolgt vielmehr durch ethnisch-religiöse Abgrenzung mittels einer Markierung des ‚(kulturell) Fremden‘ im Unterschied zum ‚Eigenen‘. Viele Kommentierende, so auch die Person des folgenden Kommunikats aus der Jungen Freiheit, vertreten die Ansicht, dass die Kirche (hier auf die evangelische Kirche eingeschränkt) mit ihrer Unterstützung für die Seenotrettung die kulturelle Identität Deutschlands gefährdet anstatt diese zu schützen, wie es eigentlich Aufgabe der Kirche wäre.
„man muss sich mal das auf der Zunge zergehen lassen: ‚… will sich mit eigenem Schiff‘ – ist das die neue Arche Noah, es ist kaum zu glauben, welche Blüten hier aus kranken Hirnen entstehen. Die Kirche an sich hat sich schon lange aus der Gesellschaft disqualifiziert und nun fordert sie eine Hilfe, die unser Land noch weiter entfremdet. Die ‚EKD‘ eine evangelische Kirche Deutschlands holt kulturfremde in unser Land, das ist doch ein Widerspruch in sich selbst.“ (JF_EKD-Rettungsschiff [=1], 74)
Die Diagnose von einer Gefährdung kultureller Identität verweist auf eine stärker exkludierende Konstruktion des Volksbegriffs – denn erst vor dem Hintergrund einer nativistischen und ethno-nationalistischen Vorstellung sozialer Identität wird die Dringlichkeit der Warnungen vor einer fortschreitenden kulturellen Krise, die das Wesen des ‚eigenen‘ Volkes gefährdet, verständlich. Die mit dem Volksbegriff verbundene Imagination eines unberührten Ursprungszustandes wiederum, die Sicherheitsgefühl und -versprechen vermittelt, gewinnt durch die Krisendiagnose entscheidend an Relevanz: Sie fungiert, wie oben angedeutet, als positives Gegengewicht zur Verfallsvorstellung. Krisenrhetorik und essentialistischer Volksbegriff scheinen sich in den Kommunikaten also wechselseitig zu begründen und zu verstärken. Unterstützt wird diese These von der Beobachtung, dass sich die Krisendarstellungen in den Kommunikationskontexten parallel zu den Artikulationen exkludierender, ethno-nationalistischer Identitätsvorstellungen entwickeln, d. h. sie intensivieren sich, je weiter rechts wir uns auf dem ‚Mitte-Rechts-Spektrum‘ bewegen. Zu erkennen sind in diesen Kommunikationszusammenhängen typische Verflechtungen von antimuslimischem Rassismus und Ethnosexismus mit anti-genderistischen Ressentiments und Gender-Stereotypisierungen. Dies betrifft zunächst den für das Verschwörungsnarrativ eines elitengesteuerten Substitutionsprozesses zentralen Gedanken, der ‚Bevölkerungsaustausch‘, also die Ersetzung der weißen westlichen Mehrheitsbevölkerung (vgl. dazu auch Punkt 4.2.), erfahre dadurch eine Beschleunigung, dass die Geburtenrate einheimischer Frauen geringer sei als die muslimischer Immigrant:innen. Besonders augenscheinlich manifestiert sich die Verschränkung in Kommunikaten, die koloniale Denkmuster aufrufen, indem sie den nicht-weiß-gelesenen, muslimischen Mann als misogynen, gewaltbereiten und integrationsunwilligen ‚Anderen‘ darstellen und ihm ‚die deutsche Frau‘ als passives Opfer gegenüberstellen.
Ein Konnex zwischen Verfallserzählung und Anti-Gendersimus beobachten wir in unserem Material auch dort, wo im Sinne eines Slippery-Slope-ArgumentsFootnote 18 die Unterstützung der Kirche für eine gendersensible und -gerechte Position als Einfallstor moralischer Entgrenzung angesehen wird, als deren Schluss- bzw. moralischer Tiefpunkt meist die Befürwortung pädophiler Praktiken angeführt wird (vgl. Kämpf 2015):
„Fehlt eigentlich nur noch ihr [der Kirche; KM] Engagement für Pädo- und Zoophilie. Was nicht wundern würde, denn die EKD schreckt ganz offenbar vor gar nichts mehr zurück. Nicht einmal vor dem Schulterschluss mit totalitären, absolut antichristlichen Ideologien wie dem Islam […]. Jegliche theologische Substanz, jegliche moralische Relevanz ist der Evangelischen Kirche als Institution verloren gegangen. […] Die Kirche ist zu einem perversen Tollhaus verkommen, zu einer phrasenschwingenden Dauergehirnwäscheinstanz der gegenwärtigen links-grün dominierten Politik.“ (PP_Bedford-Strohm [=3], 2)
Angesichts von Kommunikate, die den:die Leser:in mit extremen Gewaltbeschreibungen konfrontieren, stellt sich der Eindruck ein, dass so manche Praxis der Kriseninszenierung mit einer ‚Lust an der Angst‘ einhergeht. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die averse Kontrastierung im rechten Kommunikationskontext, die sich eben sehr häufig mit sprachlicher GewaltFootnote 19 verbindet, sich für die Kommentator:innen als potenziell identitätsbildendes Identifikationsangebot realisiert: Die Dämonisierung des als ‚andersartig‘ Gelabelten bewirkt eine Legitimation der eigenen Weltsicht und des eigenen Wertesystems; sie geht Hand in Hand mit einem kollektiven Selbstbild der moralischen und kulturellen Überlegenheit, das sich gleichzeitig in der Darstellung einer kollektiven Opferrolle artikulieren kann.
4.2 „War Stories“ – Anfeindungsdarstellungen
Eine Fokussierung auf die destruktiven Praktiken der Kirchenvertreter:innen als elitäre Kräfte kennzeichnet den Typ der „war stories“ in unserem Material. Sie erscheinen in unserem Material als Kehrseite der „horror stories“. Im Mittelpunkt steht der Gedanke, dass die Kirchenvertreter:innen als elitäre Entscheidungsträger:innen durch ihr Engagement für die Seenotrettung eine gesellschaftliche Konfliktsituation evozieren. Sie verkörpern die elitären Gegner, so in radikaleren Aussagen, die die Gesellschaft mit destabilisieren. In unserem Material erkennen wir unterschiedliche Strategien, wie Kommentator:innen diesen Kampf und diese Anfeindungen rhetorisch inszenieren. Mit Blick auf die kirchlichen Praktiken finden sich im Wesentlichen zwei Bewertungshinsichten: die Beurteilung der Handlungen als eher ‚ignorantes‘ oder ‚naives Fehlverhalten‘ und andererseits die Behauptung, die Kirchenvertreter:innen agierten bewusst ‚böswillig‘ und aus einer ‚egoistischen‘ Handlungsmotivation. Im ersten Fall wird vorangestellt, die ‚Kirchenelite‘ unterlasse es, die Folgen ihres Engagements zu bedenken. Sie berücksichtige beispielsweise nicht die durch die Flüchtlingsnachversorgung erzeugte ‚Mehrbelastung‘ der Bevölkerung (schade ihr also, anstatt ihr zu dienen) oder unterschätze die von ihr selbst ‚geförderte Ausbreitung des Islams‘, die eine Gefährdung der christlich geprägten Werteordnung mit sich bringe. Im zweiten Fall werden den Kirchenvertreter:innen egoistische Handlungsmotivationen und böswilliges Agieren unterstellt.
In seiner ersten Variante erscheint das Urteil über kirchliches Handeln auch in Form eines Ideologievorwurfs. Ideologievorwürfe präsentieren sich als ein „rhetorische[s] Argumentationskalkül[s]“ (Švitek 2018, S. 183), das einen abwertenden Effekt hat, der durch den Vorwurf an das Gegenüber ausgelöst wird, sich der „eigenen Falschheit“ von Vorstellungen „nicht bewusst“ zu sein (vgl. Švitek 2018, S. 185). Diese Falschheit muss, so die Akteur:innen, entsprechend ‚entlarvt‘ werden. In den Kommunikaten unseres Materials fällt der Ideologiebegriff nicht immer explizit. Der mit dem Begriff verbundene Vorwurf und seine Abwertungsstrategie spiegelt sich jedoch in Posts und Kommentaren wider, die den Kirchen und ihren Vertreter:innen eine verzerrte oder illusionäre Weltsicht unterstellen, die im Widerspruch zur Alltagserfahrung und Position der meisten Menschen stehe. Kommentator:innen sehen die Kirchen und ihre Vertreter:innen in einem Zustand ideologischer Verblendung, während sie sich selbst auf Basis ihrer angenommenen Zugehörigkeit zum ‚Volk‘ eine Wahrnehmungsform zuschreiben, die ihnen einen quasi intuitiven Zugang zur sozialen Wirklichkeit und den diesbezüglichen ‚vernünftigen‘ (und ‚unvernünftigen‘), moralisch guten Maßnahmen eröffnet (vgl. Mayer 2021, S. 41).
„Diese Leute verhalten sich so, als wenn ein Nachbar für mich für eine Party, die nie enden soll, 50 Gäste einlädt und mir Unterhaltung und Bewirtung dieser auf unbegrenzte Zeit aufdiktiert. Benimmt sich jemand von denen daneben und ich fordere, daß er nach Hause geht, bin ich Rassist und zu bestrafen. Rechnet man solch Handlung einem normal Denkenden zu? Nein, wir sind im Irrenhaus.“ (JF_EKD-Rettungsschiff [=1], 23)
Folgende:r User:in beschreibt die Vernunftbegabung, die intuitive Einsicht in die gesellschaftlichen Negativkonsequenzen des Verhaltens der Kirchenvertrer:innen gewährt, als Gabe Gottes.
„Was Herr Bedford-Strohm mit der Beteiligung an der sogenannten ‚Seenotrettung‘ macht, ist also eine Bedrohung Für Wohlstand, Sicherheit und Leben seiner ‚Schäfchen‘ in Deutschland. Nennt er das christliches Handeln? Wozu hat Gott uns denn den Verstand gegeben und die Vernunft? Daß wir Unsinn anstellen? Dieser verblendete Gottesmann sollte sich um die Gläubigen in Deutschland kümmern und sie endlich mal wieder im Sinne der Bibel belehren; denn vom Glauben an die Auferstehung und das Heil im Jenseits hört man wenig bei den Protestanten. Die Kirchen haben die Aufgabe, den Glauben an Jesus Christus zu verkünden, aus der Politik müßten sie sich m. E. strikt heraushalten. Jesus hat gesagt: ‚Gebt dem Kaiser, was des Kaiser ist u. Gott, was Gottes ist‘“. (JF_Seenotrettung (= 2), 46)
Das Agieren der Kirchen im vorgegebenen ideologischen Rahmen habe organisationale Folgen, die sie aufgrund ihrer unreflektierten Übernahme jedoch weder analytisch noch kurierend in den Griff bekämen:
„Und welche Seelsorge lässt die EKD den Kirchenflüchtigen angedeihen? Ich meine damit nicht diejenigen, die schutzsuchend in Kirchen fliehen, sondern die, die aus ihr fliehen und für ihre Flucht durchaus erwägenswerte Gründe (bspw. Ehe für alle, Genderdeutsch, Lotsendienst auf dem Mittelmeer und Vulvenmalerei auf dem Kirchentag) haben. Mir scheint, dass die EKD, allen voran Bedford-Strohm, pflichtvergessen dem Zeitgeist hinterherläuft.“ (Info Service EKD, Facebook-Kommentare, 2075)
Die weltanschauliche Verblendung, die Kommentator:innen in unserem Material nicht nur hinsichtlich des Engagements für die Seenotrettung geltend machen, sondern vor allem auch in der Auseinandersetzung mit einer gendergerechten Haltung artikulieren (Stichwort: ‚Gender-Mainstreaming‘), führe zu einer Abkehr von christlichen Grundwahrheiten und -werten, einer Irreführung der Gläubigen; imaginativ heraufbeschworen werden auch Szenen der Verfolgung und Inquisition:
„[G]egen die eigenen Gemeinden [wird] gehetzt und Gesinnungsschnüffelei betrieben. Auch für das Gender Gaga ist man sich nicht zu Schade. Was diese Ökolinks-Ideologien mit Gott zu tun haben sollen, verstehen sie offenbar selbst nicht so genau. Anstatt sich wieder auf die rein christliche Lehre zu berufen, dass Gott die Wahrheit ist, dann ist die Wahrheit auch ein Teil Gottes.“ (JF_Seenotrettung [=2], 44)
Dem Vorwurf der ideologischen Propaganda und Hetze, wie er in obigem Kommentar geäußert wird, korrespondiert in anderen Kommunikaten die Behauptung, dass die Möglichkeit, sich kritisch zur kirchlich-institutionellen Positionierung zu verhalten, durch eine Ausgrenzung entsprechender Stimmen unterbunden werde.
„@ZDFheute Seit Jahrzehnten ist die EKD und neuerdings auch die kath. Kirche fleißig dabei, sich zeitgemäß an den linksgrünen Mainstream ranzuwanzen, gipfelnd im Auschluss Andersdenkender, Schlepperei von Migranten und Verleugnung des Kreuzes. Opportunisten und Polithuren.“ (Twitter 2, 3)
In solchen Kommunikaten deutet sich die zweite Variante der Anschuldigung, die Kirchen folgten dem politischen Diktat oder auch ‚Zeitgeist‘, an, die insofern eine Verstärkung des Ideologievorwurfs bzw. des Vorwurfs der verzerrten oder illusionären Weltsicht darstellt, als sie die religiöse und moralische Aufrichtigkeit der Kirchenvertreter:innen explizit infrage stellt. Den Kirchenvertrer:innen wird eine hypokritische Selbstvermarktungsstrategie unterstellt, die in einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung als moralisch überlegen (Stichwort: ‚Gutmensch‘) einerseits und der Diffamierung der Kritiker:innen andererseits gesehen wird.
Je weiter rechts wir uns auf dem ‚Mitte-Rechts-Spektrum‘ bewegen, desto öfter kann nun auch ein Shift in der Besetzung der Täterrolle mit Blick auf die negative Gesellschaftsdiagnose beobachtet werden: Im Unterschied zu den Kommunikaten im ‚mittleren‘ Feld, die das Agieren der Kirchenvertreter:innen mehrheitlich als maßgeblichen Faktor für eine Überlastung des Sozialsystems bewerten, verschieben Kommunikate ‚weiter rechts‘ dieselben in den Status von Komplizen, während das ‚(kulturell) Fremde‘ zum Hauptprotagonisten einer umfassenderen sozio-kulturellen Krisensituation bestimmt wird. Je weiter rechts wir uns also in den Kommunikationskontexten bewegen, umso öfter und deutlicher versetzten die Kriseninszenierung in den Kommunikaten ‚den‘ Islam in die Rolle des Antagonisten schlechthin. Eine verschwörungstheoretische Dramaturgie erhalten die Krisenszenarien, wenn behauptet wird (wie oben am Ende ebenfalls angedeutet), dass ‚der‘ Islam mit der Unterstützung einer weltweiten Elite, zu denen auch die Kirchenvertreter:innen gehören, das christlich-demokratische Gesellschaftssystem unterwandere. Ziel sei es, die weiße christliche Mehrheitsgesellschaft zu ersetzen.Footnote 20
Diesem Shift in der Besetzung der Täterschaft in Kommunikaten weiter rechts auf dem angenommenen Spektrum treten neben verschwörungstheoretischen Anklängen und sprachlich deutlich enthemmten Anschuldigungen gegenüber den Kirchenvertreter:innen an vielen Stellen eine zunehmend diskriminierende Kontrastierung von Eigen und Fremd zur Seite.
„Bedford-Strohm ist ohnehin von allen guten Geistern verlassen und bewegt sich auf dunklen Irrwegen. Hierbei trägt er die angebliche Menschlichkeit als Monstranz stets vorweg und fördert in unserem Land in Wahrheit die Unmenschlichkeit. Dies stets wachsende Anzahl der Opfer von Migrantenkriminalität sind ein untrüglicher Beweis für diesen abwegigen und verantwortungslosen Irrsinn derartiger Kirchenfürsten wie Bedford-Strohm, der offenbar das Klingen der Steuertaler in der Kirchenkasse höher bewertet als das durch das hiermit verbundene Leid in unserem Land. Da segnet dieser Mann in Wahrheit kriminelle Menschenschmuggler und verklärt diese zu Helden. Bedford-Strohm ist ein Pharisäer der schlimmsten Sorte und ein bedenkenloser Heuchler, der offensichtlich bereit dazu ist, über einen Berg von Leichen zu gehen. Zurecht hat die evangelische Kirche mit einem immer größer werdenden Mitgliederschwund zu kämpfen, verraten doch ihre Vertreter schon bald täglich ihren christlichen Glauben und begünstigen die gefährliche Islamisierung in unserem Land.“ (JF_EKD-Rettungsschiff [=1], 137)
Besonders der Vorwurf der Mitwirkung an der ‚Islamisierung des Abendlandes‘ ist in vielen Kommunikaten anzutreffen und wird mit der Ansicht verbunden, die Kirche hintergehe die eigenen kulturellen Wurzeln. Die Gefahr für die Christen werde verkannt oder missachtet wie folgende:r Kommentator:in feststellt:
„Ja Tonnenweise Mohammedaner aufnehmen die keine Flüchtlinge sind sondern Migranten. Ausserdem sind sie Sozialschmarotzer. Schön das man für die Vergewaltiger und Messerstecher Zeit hat, dann können einem ja mit gutem Gewissen die 500 Millionen Christen egal sein die in den Hadschi-Staaten abgeschlachtet werden wie die Juden im Dritten-reich (mit tatkräftiger Unterstützung von Adolfs Freund Husseini) Es ist der Wahnsinn wie die Kirchen heutzutage Hochverrat an den eigenen Leuten sowie am Evangelium betreibt. […] Zahlt euren Mohammedanern Unterstützung und euren Hochverrat am Evangelium nur weiter Herr Strom und Herr Marx. Ha Zahlt es euch bis zum Jüngsten Gericht. Ich habe nur eine Bedingung: NICHT MIT MEINEM GELD!!!!!“ (PI_EKD-Rettungsschiff [=1], 221)
4.3 „Happy Endings“ – Selbstermächtigung und Genugtuung durch Beleidigungen und Zynismus
Narrative und Narrativfragmente des Typs „happy endings“ markieren in unserem Material einen bedeutsamen Kontrapunkt. Denn im Gegensatz zu den „horror“ und „war stories“, für die in unserem Material Selbstpräsentationen als Opfer sowie Anfeindungs- und Konfliktdarstellungen typisch sind, demonstriert sich in „happy endings“ eine Haltung der Überlegenheit, die an den Akt der Identifikation der ‚Schuldigen‘ am sozio-kulturellen Verfallsprozess gekoppelt ist. Dies ist freilich wiederum umso stärker ausgeprägt, je weiter rechts die Kommunikate zu verorten sind. Wie auch schon bei den beiden anderen Typen von stories weicht auch hier unser Gebrauch der Klassifikation etwas ab. „Happy endings“ bestehen in unserem Material in der Regel nicht in Berichten berichteten über eine erfahrene Anerkennung der politischen Haltung und Handlung von außerhalb der Ingroup. „Happy endings“ sind in unserem Material vielmehr dort in spezifischer Weise zu sehen, wo Akteur:innen sich selbst, unter Rekurs auf eigene Haltungen und Handlungen, eines ‚gerechten Ausgangs‘ versichern, so dass das eigene Engagement für die Sache als lohnenswert erscheint.
Zur Antizipation des ‚gerechten Ausgangs‘ gehört auch, dass viele Kommentator:innen ihre kritischen Äußerungen als couragierten Akt der Wahrheitsfindung und auch des Widerstandes verstehen. Wie bereits erwähnt, schreiben sich nicht wenige Kommentator:innen die Fähigkeit zu, die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die vermeintliche Doppelmoral der kirchlichen ‚Eliten‘ zu durchschauen. Mit dem ‚Aufdecken‘ der Problemlage und der Verantwortlichkeit der Kirchenvertreter:innen, d. h. der Bestimmung von Ursache und Wirkung, wird in dieser Logik eine Handlungsorientierung angeboten, die potenziell ein Gefühl der Selbstwirksamkeit vermittelt. Man ‚weiß‘, wem oder was gegenüber Widerstand geleistet werden muss – über alle von uns untersuchten Kommunikationskontexte hinweg wird dieser Widerstand in den Kommunikaten vielfach als bereits erfolgter oder geplanter Kirchenaustritts beschrieben.
„Da kann ich nur sagen, tretet aus der Kirche aus, dann ist diesem Modell schnell das Geld abgegraben 1 Millionen Austritte wären ca 200 bis 400 Millionen Euro im Jahr. Gläubig kann ja jeder auch ohne die NGO Firma Kirche sein.“ (JF_EKD-Rettungsschiff [=1], 186)
[Person 1]: Ich bin heute Vormittag ausgetreten
[Person 2]: Beneidenswert. Bei mir ist es schon fast 2 Jahre her. Aber der Drang überkommt mich immer wieder aufs Neue
[Person 3]: [Name Person 2] bei mir 9 Jahre. Und jede Woche bestätigt sich die Richtigkeit der Entscheidung
[Person 4]: Ich vor 33 Jahren
[Person 5]: Ich vor einem guten Monat. War die einzig richtige Entscheidung.“
(Facebook, FB #Mittelmeer, 73–79)
Zum Urteil, dass ‚alles gut‘ werden kann, zum ‚happy end‘, gehört auch, vermeintliche Täter:innen zu benennen und anzuklagen. Im Sinne eines Bloßstellens kann das Benennen an sich bereits als ein ‚Akt der Vergeltung‘ gewertet werden, der eine Empfindung von ‚Genugtuung‘ auslöst.Footnote 21 In vielen Kommunikaten des Materials erfolgt dieser verbale Vergeltungsakt in Form beleidigender Äußerungen gegenüber den in der Öffentlichkeit besonders exponierten Repräsentant:innen von Kirche. In Kommunikationszusammenhängen, die am rechten Rand des angenommenen ‚Mitte-Rechts-Spektrum‘ anzusiedeln sind, erhalten die verbalen Vergeltungsakte verstärkt exzesshafte Züge, unter Zunahme sprachlicher Gewalt. Eine extreme Form des verbalen Vergeltungsaktes erkennen wir in Gerichtsfantasien, die die Kirchenrepräsentant:innen als Adressat:innen des Zorns oder der Strafe Gottes imaginieren:
„Gerade schippert der EKD Vorsitzende H. Bedford Strohm, mit einem von der Kirche finanzierten Rettungsschiff gen Mittelmeer. Dort will er dann als Gutmensch Menschen vorm Ertrinken retten. Ich hoffe, dass ihn sein Gott, wo immer er glaubt das er ist, aufs härteste bestraft.“ (Twitter 15, 34)
Einige Kommunikate reproduzieren antisemitische Stereotype, indem sie die Kirchenvertreter:innen als „Pharisäer“ oder „Judas“ bezeichnen oder sich der Teufelsmetapher bedienen.
„Welch ein Pharisäer! Da wird in beiden ‚Amtskirchen‘ ein neuer Rekord an Kirchenaustritten erreicht und dieser Anti-Christ schwafelt von angeblicher ‚Sympathiewelle‘, die mit großer Wahrscheinlichkeit von den Satansjüngern der Antifa und Konsorten kommt, also mal ein echtes Beispiel von Beifall von der falschen Seite! Ein unglaublicher und skandalöser Vorgang!“ (JF_Seenotrettung [=2], 96)
Neben dem exzessiven Ausagieren verbaler Vergeltungsakte kennzeichnet diese Form der Kommunikation, die in ihren extremen Formen im Grunde nur noch in meinungsmonoformen Kontexten stattfindet und insofern einen selbstreferenziellen Charakter bekommt, eine Zunahme phatischer Kommunikation insbesondere in Form zynischer Äußerungen. In Anlehnung an Bronislaw Malinowski kann der Begriff ‚phatisch‘ dazu genutzt werden, eine Kommunikationsform zu beschreiben, die gerade nicht dazu dient, Informationen zu vermitteln und zur Reflexion über die Sache anzuregen, sondern in erster Linie eine soziale Funktion erfüllt.
“Are words in Phatic Communion used primarily to convey meaning, the meaning which is symbolically theirs? Certainly not! They fulfil a social function, and that is their principal aim, but they are neither the result of intellectual reflection, nor do they necessarily arouse reflection in the listener. Once again we may say that language does not function here as a means of transmission of thought.” (Malinowski 1923, S. 315)
Die soziale Funktion phatischer Kommunikation besteht darin, „ein Gefühl der Gemeinschaftszugehörigkeit (‚communion‘) bzw. der parasozialen Verbundenheit herzustellen und aufrechtzuerhalten“ (Schäfer 2023, S. 16). Zynische Äußerungen können als ein Typ phatischer Kommunikation verstanden werden, der Humor als destruktives Mittel zur Selbstbehauptung einsetzt (vgl. Schäfer 2023, S. 36). So wie sich mit dem verbalen Akt der Vergeltung, dem Benennen der vermeintlich Schuldigen, Genugtuung einstellt, verbindet sich mit zynischem Humor daher ein „Lustgewinn“, „der seinen Ursprung im lustvollen Erleben von Befreiung hat, was auch die Lust an dem zu beobachtenden Schaden am Objekt des Witzes miteinschließt“ (Schäfer 2023, S. 36). Es ist offensichtlich, dass zynische Äußerungen, so wie auch Kommunikate, die Kirchenvertreter:innen eine illusionäre oder verzerrte Weltsicht vorwerfen (Ideologievorwurf), die Sachebene verlassen – sie stellen keine Ansprache an die vorgeblich adressierte Person da, sondern verkörpern ein „ausgrenzendes Lachen über Andere“ (Schäfer 2023, S. 37), mittels dessen sich die Ingroup in Opposition zur Outgroup inszeniert und selbstversichert. Zynische Äußerungen können daher als Abwertungsstrategie betrachtet werden, die sehr häufig mit sprachlicher Gewalt und einer moralisch grenzüberschreitenden Rhetorik einhergeht. Typisch für zynischen Humor ist neben seinem grenzüberschreitenden Charakter außerdem das bewusste Aufrechterhalten von Ambiguität. Sie erzeugt eine maximale Deutungsoffenheit, die es ermöglicht, dass eine bestimmte Adressatengruppe das Gesagte wörtlich verstehen kann und eben nicht als humorvolle Äußerung. Dem Subjekt der Äußerung bietet sie die Möglichkeit, sich auf unkontroversen Standpunkt zurückzuziehen. Anders als ironischen Witzen fehlt zynischen Äußerungen das Moment eines zu entschlüsselnden Sinnzusammenhangs. Die zynische Äußerung und ihr ‚Humor‘ wird nur verständlich, wenn man die sozialen Codes kennt und anerkennt, mit denen sie operiert (vgl. Schäfer 2023, S. 33–35). Das bedeutet auch, dass Zyniker:innen „[a]nders als im Falle der Ironie, bei der in satirischer Absicht das Gegenteil dessen gesagt wird, was eigentlich gemeint ist […] ohne jede Doppelbödigkeit das [meinen], was sie sagen“ (Schäfer 2023, S. 31). In unserem Material treffen wir nicht selten auf Kommunikate, die verbale Vergeltungsakte gegenüber Kirchenvertreter:innen mit zynischem Humor belegen, wie in diesem Kommunikat aus der Kommentarspalte von Politically Incorrect:
„Wenn Jesus schon über das Wasser gegangen ist, dann kann Bedford-Strohm doch auch über den Jordan gehen, oder?“ (PI_EKD-Rettungsschiff [=1], 123)
Das in diesem Kommunikat aufgerufene Bild des Überschreitens von ‚Wasser‘ fungiert zunächst als Link zum Thema Seenotrettung im Mittelmeer. Gleichzeitig dient es der destruktiven Diffamierung des ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm. In dieser Verknüpfung wird die biblische Geschichte ins Lächerliche gezogen, aber auch das Engagement der Kirche für die Seenotrettung.
Besonders eindrücklich ist auch ein als fiktiver Brief an den ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden Bedford Strohm gestalteter Kommentar unter einem Blogeintrag bei Philosophia Perennis. Der Brief ist aus der Perspektive eines Schleppers verfasst und mit dem Titel „Dankesbrief eines Schleppers an Bedford-Strohm“ überschrieben.
„O Du mein Bruder Heinrich (so nenne ich Dich in meiner Herzensfreude), Du Mitleidiger und von Humanität Durchdrungener, mit Empathie und Menschenfreundlichkeit Begabter, der Du in Deutschland als guter Hirte Millionen evangelischer Leute der Schrift umsorgst und der Du heldenmutig streitest für die Rettung in Seenot geratener Muslime aus dem Mittelmeer und für ihre Aufnahme in Europa, möge Dich Allah, der Gnädige und Barmherzige, weiterhin führen auf dem rechten Weg und gnädig Dir Erfolg verleihen! Möge er Deine Feinde, die Rechtspopulisten, vernichten und in den tiefsten Abgrund der Hölle schleudern; denn den furchtbaren Rassisten der Rechtsparteien ist es gleichgültig, wenn Tausende im Mittelmeer ertrinken.
Meine Feinde sagen, ich selber sei ein böser Verbrecher, weil ich meine Kunden, auf der Flucht befindliche bedauernswerte Menschen, in überfüllten Schlauchbooten und kleinen Holzschiffchen hinausschicke aufs endlose und lebensgefährliche Meer. Welch üble Verleumdung! Nein, nein und nochmal nein! Meine Kollegen und ich wollen auf keinen Fall, daß sie ertrinken! Nichts liegt uns ferner als das! Wir schicken sie nur (aus logistischen Gründen dicht gedrängt) auf den kurzen Weg zu euren Schiffen, die draußen hoffentlich bald wieder in großer Zahl treu und zuverlässig warten! Wir leisten eine ehrliche und gute Arbeit, stellen den Flüchtenden die Zubringerboote zur Verfügung und verlangen keineswegs übertrieben hohe Preise. Und wir wünschen wie Du, lieber Bruder Heinrich, aus tiefstem Herzen, daß all diese Menschen, die ein besseres Leben suchen und sich unserer Fürsorge anvertrauen in ihrer Not, auf sicheren und großen Schiffen weiterreisen dürfen nach Europa.
Danke, danke, danke für Deine Seawatch! […]
Die Aufgabe, die wir zusammen erfüllen, wir diskriminierten und verfolgten Schlepper in Libyen und ihr guten, von den Haßreden der Rechten überschütteten Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, diese Aufgabe gehört – das muß ich Dir, lieber Heinrich, und allen, die Ohren haben zu hören, mit frommer Begeisterung am Schluß meines Schreibens leidenschaftlich ins Bewußtsein rufen – zum Heilsplan Allahs! Wir stehen gemeinsam im Dienst einer weltgeschichtlichen Mission. Denn eine nicht abreißende Menschenflut von Muslimen strömt ohne Unterlaß von Afrika übers Mittelmeer nach Europa und Deutschland! Sie wird weiterströmen in der Zukunft. Andere Schlepper, meine Nachfolger in Libyen, und andere gute Menschen, andere Kirchenführer, Deine Nachfolger in Deutschland, werden den Strom in Gang halten und liebevoll betreuen. In wenigen Jahrzehnten werden die Muslime die Mehrheit der Bevölkerung stellen! Europa wird islamisch sein! Die wahre Religion wird in Europa herrschen! Und wir haben mitgeholfen! Wir dürfen stolz darauf sein. Wir führen das Werk fort, das der Prophet vor 1400 Jahren in Arabien begann!
Welches Glück! Welche Ehre! Welche Auserwählung! …“ (PP_Bedford-Strohm [=3], 86)
Der:die Autor:in bedient in ihrem fiktiven Brief an den ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden einschlägige rechtspopulistische Begriffe und Narrative (die Inszenierung der Kirchenvertreter:innen als Gutmenschen, die vermeintliche kulturelle Überfremdung durch den Islam/antimuslimische Ressentiments, die Ausgrenzung kritischer Stimmen) und vermittelt den Adressat:innen dadurch ein klares Bild der eigenen Weltanschauung: Sie ist sich der einschlägigen rechtspopulistischen Codes bewusst und weiß sie anzuwenden. Die Würdigung der Seenotrettung und die Darstellung der gesellschaftlichen Zustände aus der Sicht eines Schleppers verunglimpft auch in diesem Kommunikat das Engagement der Kirche und ihrer Vertreter:innen.
Interessanterweise finden sich einige Kommentierende, ähnlich wie auch oben, die Bibelverse zitieren oder ein ‚Gebet‘ formulieren, wie in folgendem Kommentar:
„Jesus, Om, mögen die Herzen der Menschen erfüllt sein von deiner Liebe, mögen sie friedlich und achtsam, mutig und stark sein. Mögen sie gesund und glücklich sein. Lieber Gott beschütze uns vor dem Bösen, das uns angetan wird, indem Merkel, Spahn, Drosten, Bedfored-Strohm uns belügen und betrügen.“ (PP_Bedford-Strohm [=3], 109)
Auch dieser Kommentar lässt sich als phatische Kommunikation mit zynischem Anklang deuten. Die schreibende Person löst das Gebet aus seiner ihr eigenen Sprechrichtung und widmet es um zu einer Ansprache an die vermeintlichen Adressaten, von der die schreibende Person ausgeht, dass sie die im letzten Teil des Gebets geäußerte ‚Elitenkritik‘ (‚belügen‘, ‚betrügen‘) teilen. Sie präsentiert sich damit als Teil einer sich kommunikativ herstellenden Gruppe Gleichgesinnter. Gleiches gilt für einen Kommentar zu einem Blogeintrag bei Philosophia Perennis, der Mt 23,13–23 referenziert:
„Jesu Weherufe über die Pharisäer und Schriftgelehrten:
Mt 23,13: Aber wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr das Reich der Himmel vor den Menschen zuschließt! Ihr selbst geht nicht hinein, und die hinein wollen, die lasst ihr nicht hinein.
Mt 23,14: Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr die Häuser der Witwen fresst und zum Schein lange betet. Darum werdet ihr ein schwereres Gericht empfangen! […]“ (PP_Bedford-Strohm [=3], 87)
Nur wem bekannt ist, dass die diffamierende Identifikation der Kirchenvertreter:innen mit den biblischen Figuren der ‚Pharisäer und Schriftgelehrten‘ eine übliche Praxis antisemitischer rechtspopulistischer bzw. rechtsextremer Kommunikation darstellt, erschließt sich die Intention der schreibenden Person, diese Verse aus dem Matthäusevangelium unkommentiert zu zitieren – sie unterliegt der Prämisse, dass die Adressaten die gleiche narrative Rahmung in der Deutung der Selbsterfahrung und der sozio-kulturellen Gegenwart vornehmen.
Es handelt sich hier und auch bei den anderen zynischen Äußerungen sowohl um eine Selbstverortung als auch um eine Aufforderung ‚mitzulachen‘, die angebotenen rechtspopulistischen Codes zu bestätigen. Damit bietet die spezifische, oftmals phatische Kommunikation in Gestalt zynischer Äußerungen, mit denen sich die Akteur:innen unter Rekurs auf eigene Haltungen und Handlungen eines ‚gerechten Ausgangs‘ versichern, neben den „horror stories“ und „war stories“, noch einmal ein eigenes Potenzial im Sinne identitätsstiftender Identifikationsmöglichkeiten und der Evozierung sozialer Kohäsion.
5 Fazit
Auf der Basis des Textmaterials des Projektes Religion und Rechtspopulismus/-extremismus. Analysen von Narrationen vorurteilsbezogener Kommunikation und Hassrede online hat der vorliegende Beitrag versucht, Konstitutions- und Stabilisierungsangebote kollektiver ‚rechter‘ Identität in religionsbezogener Kommunikation aufzuzeigen. Versteht man kollektive Identität als Emergenzphänomen, das durch Interaktionsprozesse ausgebildet und stabilisiert wird, sind die Affordanzen identitätsbildender Identifikationsangebote in der Konstruktion bestimmter Narrative angelegt. Es hat sich über die Veranschaulichung eines rechtspopulistischen (religiös getönten) Masternarrativs aufzeigen lassen, wie in ‚rechter‘ Kommunikation forcierte Distinktionsbestimmungen auf eine bestimmte Strukturierung der Wahrnehmung sozialer Realität abzielen. Dazu bedienen sich Kommunikationsteilnehmer:innen auf synchroner Ebene der Figur des Anti-Elitismus, in diachroner Perspektive der Vitalisierung der Vorstellung eines heartlands, das in scharfem Kontrast zur krisenhaft beschriebenen Gegenwart steht. Beide Momente der potenziell (gruppen-)identitätsbildenden Identifikationsangebote, so ist anzunehmen, begünstigen nicht zuletzt affektiv die diskursive Rezeptivität und Produktivität nicht nur des Masternarrativs, sondern auch entsprechender rechtspopulistischer Narrativfragmente. Wenngleich Gary Alan Fines Klassifizierung sogenannter „movement stories“ nicht eins zu eins auf unser Material anwendbar ist, so hat die Relektüre des Materials mit der Brille dieser Ausdifferenzierung noch einmal die unterschiedlichen narrativen Möglichkeiten und Realisierungen potenziell identitätsstiftender Identifikationsangebote in rechtspopulistischer, gar als rechtsextrem zu bezeichnenden Kommunikationen aufleuchten lassen. Natürlich ist hier, geht es um die Verhandlung politischer Verantwortung und Zurechenbarkeit, die Frage nach den Träger:innen von Kommunikation bedeutsam: Haben wir es mit politischen Strateg:innen zu tun oder mit Bürger:innen, die sich in Kommunikationszusammenhänge möglicherweise auch erst einmal unintentional involvieren lassen? Gleichwohl lassen die Texte auch unabhängig von der Träger:innenfrage das ‚Funktionieren‘ rechtspopulistischer Kommunikation verstehen. Ist der Befund nicht überraschend, dass in diesen Kommunikationen die Aufwertung eigener Ansichten, Einstellungen und Handlungsorientierungen sowie eine anzunehmende Stärkung des Kohäsionseffekts unter ‚Gleichgesinnten‘ vor allem über eine krisenhaft kontextualisierte Abwertung anderer erfolgt, liegt der Mehrwert einer solchen Analyse in der Aufklärung über konkrete rhetorische Strategien.
Notes
Bei der Rede von einem ‚Mitte-Rechts-Spektrum‘ handelt es sich um eine vereinfachende Schematisierung der Relationierung politischer Einstellungen und Haltungen, die darauf abzielt, ein Spektrum von Kommunikationskontexten abzubilden und kontextbedingte Varianzen herauszustellen. Dafür kamen unterschiedliche Textsorten und Plattformen in den Blick: Kommunikate auf Facebook und über Twitter, journalistische Beiträge auf Onlineseiten von Zeitschriften einschließlich der sich angliedernden Kommentare (idea, Cicero, Sezession), Blogeinträge mit Kommentaren (PI-News|Politically Incorrect, Philosophia Perennis) sowie Zuschriften zum Thema an den Info Service der EKD (v. a. E‑Mails und Kommunikate der EKD-Facebook-Seite). Es ließen sich so Kommunikate erfassen, die von ‚mittig‘ (z. B. Threads auf der Facebook-Seite der EKD) bis ‚rechtsextrem‘ (z. B. Kommentare zu Blogeinträgen bei PI-News|Politically Incorrect) reichen. Die Materialgenerierung online erfolgte bei den verschiedenen Plattformen über für das Feld einschlägige Stichworte (teilweise in Kombination), wie etwa Kirche, EKD, Mittelmeer, Flüchtlinge, Seenotrettung, Rettungsschiff, Pull-Effekt, Pull-Faktor, Schleuser, seawatch.
Der Untersuchungszeitraum konturierte sich vom Beschluss der Resolution zur Unterstützung von Seenotrettungseinsätzen auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag (DEKT) in Dortmund am 19. Juni 2019 bis Ende August 2020, um auch die Kommunikation im Umfeld des ersten Einsatzes des Schiffes am 15. August 2020 berücksichtigen zu können.
Zwischen Ausdrucksformen, die als rechtspopulistisch oder rechtsextrem bezeichnet werden müssen, sind die Übergänge als fließend zu beschreiben. Rechtspopulistische Agitationsformen verbreiten und verstärken demagogisch (gruppenbezogene) Vorurteile, vertreten autoritäre Vorstellungen und treffen rhetorisch klare Unterscheidungen zur Stabilisierung der Ingroup, während Agitationsformen des Rechtsextremismus vor dem Hintergrund einer eher geschlossenen Ideologie operieren und auf die Durchsetzung von Ungleichwertigkeitsvorstellungen abzielen. Das aus dem Material herauspräparierte Masternarrativ kann so als ‚rechtspopulistisch‘ bezeichnet werden, seine radikalisierte Durchführung kann dann auch rechtsextrem gewendet sein. Das zeigt sich auch in unserem Material u. a. in der Intensivierung sprachlicher Gewalt (vgl. hierzu Anm. 17).
Das Konzept der ‚kollektiven Identität‘ hat insbesondere in der Bewegungsforschung großen Anklang gefunden. Im Zuge einer Abgrenzungsbewegung von funktional-rationalistischen Theorien sind Identitätsansätze erwachsen aus dem „Interesse für die Sinnproduktion kollektiver Akteure“ (Daphi 2011, S. 13).
Tobias Cremer beschreibt etwa anschaulich, inwiefern christliche Semantiken und Symbole im Sinne einer rechtspopulistischen Identitätspolitik instrumentalisiert werden (vgl. Cremer 2022).
Vgl. die folgende Definition von ‚Frames‘, die Goffman gibt: „I assume that definitions of a situation are built up in accordance with principles of organization which govern events—at least social ones—and our subjective involvement in them; frame is the word I use to refer to such of these basic elements“ (Goffman 1974, S. 10 f., Hervorh. AW).
Vgl. die Definition von Snow und Benford (1992, S. 137).
Vgl. auch Ullrich et al. (2014, S. 4).
In der einschlägigen Literatur findet sich keine eindeutige Antwort auf die Frage, wie der Unterschied oder das Verhältnis von Frames und Narrativen zu bestimmen ist. Fine ist der Ansicht, dass Frames durch diskursive narrative Praktiken exemplifiziert werden (vgl. Fine 1995, S. 134). Friederike Herrmann kombiniert die beiden Begriffe und spricht von „narrativen Frames“ – sie betont deren zeitlichen Charakter im Unterschied zu anderen Typen von Frames (vgl. Herrmann 2020, S. 5 f.). Polletta argumentiert dafür, Narrative als eine diskursive Form sui generis in den Blick zu nehmen. Sie sollen deutlich von anderen Formen unterschieden und nicht der Kategorie ‚Frame‘ untergeordnet werden (vgl. Polletta 1998, S. 421).
Vgl. zur affektiven Funktion von Narrativen auch Bargetz und Eggers (2021).
Weitere Elemente des Rechtpopulismus sind: das Bezogensein auf ‚das Eigene‘, einhergehend mit einer Ablehnung von Globalisierung, Kosmopolitismus und Universalismus, die Interpretation der gegenwärtig erlebten Geschichte als Niedergang und Dekadenz und schließlich ein Moralisieren mit Blick auf politisches Handeln. (Vgl. Priester 2019, S. 12 f.).
Nach Prince bestehen die Minimalbedingungen für ein Narrativ darin, dass eine Abfolge dreier Propositionen ermittelt werden kann, welche unterschiedliche temporäre Zustände beschreiben (Anfangszustand, Transformationsereignis, Endzustand), jedoch eine identische Bezugsgröße aufweisen. Vgl. Müller 2019, S. 2 und auch Prince (1973).
Rucht ist der Ansicht, dass „kollektive Identität […] prinzipiell […] in einem Prozess des doppelten Vergleichs [d.i. synchron und diachron] konstruiert und als solches erkennbar und interpretierbar [wird]“ (Rucht 2011, S. 28). Statt von ‚doppeltem Vergleich‘ soll an dieser Stelle von ‚doppelter Negation‘ gesprochen werden, um deutlicher zu machen, dass die Identität erst durch die Abgrenzung (und Abwertung) erzeugt wird, und vor allem dass es keine positive Begriffsbestimmung gibt.
Vgl. zum Heimatbegriff auch: Merle (2019).
Vgl. Mudde (2017, S. 32): „What sets the people apart from class or nation, according to some critics, is that it has no real content at all. This critique is largely a response to Laclau’s influential work on populism, which refers to the concept of the people [and therefore also the elite] as ‚empty signifiers‘ [Laclau, 1977]. But while the signifier is certainly very flexible, in my ideological approach it is not completely empty: first of all, as populism is essentially based on a moral divide, the people are ‚pure‘; and while purity is a fairly vague term, and the specific understanding is undoubtedly culturally determined, it does provide some content to the signifier.“.
Unter Slippery-Slope-Argumenten sind solche Argumente zu verstehen, die behaupten, dass ein relativ kleiner Handlungsschritt Ausgangspunkt einer ganzen Reihe schwerwiegender negativer Konsequenzen sei.
Die Neue Rechte adressiert die Vorstellung eines elitengesteuerten Substitutionsprozesses üblicherweise mit dem von Renaud Camus geprägten Kampfbegriff des Grand Remplacement (des Großen Austauschs). In den Kommunikaten unseres Materials, die diese Verschwörungserzählung aufrufen, finden sich typische Verflechtungen von antimuslimischem Rassismus und Ethnosexismus mit anti-genderistischen Ressentiments und Gender-Stereotypisierungen. (Vgl. Merle und Watzel 2022).
Vgl. Breithaupt (2022, S. 195). Breithaupt ist der Ansicht, dass das Benennen für die Erzähler:innen einen „therapeutischen Effekt“ (ebd.) habe.
Literatur
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Förderung
Die Forschung, die zu diesen Ergebnissen führte, wurde zum Teil von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gefördert.
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Watzel, A., Merle, K. Narrative Konstitutions- und Stabilisierungsangebote kollektiver ‚rechter‘ Identität in religionsbezogener Kommunikation. Z Religion Ges Polit 8, 161–186 (2024). https://doi.org/10.1007/s41682-024-00169-4
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