Im Frühjahr 2020 löste die COVID-19-Pandemie eine globale Krise mit weitreichenden Folgen, nicht zuletzt auf die Bildung, aus. Seit Beginn der Pandemie werden die Auswirkungen der COVID-19-bedingten (Teil‑)Schulschließungen auf Lerneinbußen und zunehmende Bildungsungleichheit breit diskutiert (Dohmen und Hurrelmann 2021; Fickermann et al. 2021; Reintjes et al. 2021) und es finden sich empirische Hinweise auf Lerneinbußen und zunehmende Bildungsungleichheit in Folge der pandemiebedingten Schulschließungen (Betthäuser et al. 2023; Di Pietro 2023; Hammerstein et al. 2021; Helm et al. 2021; König und Frey 2022; Donnelly und Patrinos 2022; Rollett et al. 2022; Schräpler et al. 2021; Schreiner et al. 2022; Storey und Zhang 2021; Zierer 2021). Obwohl schon lange bekannt ist, dass insbesondere Schulferien bereits vorhandene Bildungsdifferenzen zwischen Schüler:innen verstärken (Bremm und Racherbäumer 2020), hat die COVID-19-Pandemie im Bildungsbereich diesbezüglich zu einem Brennglaseffekt geführt (Bickert et al. 2022, S. 76), „da sich ohnehin schon bestehende Herausforderungen der Zielgruppenansprache und -gewinnung pandemiebedingt“ verschärft haben. Auf bildungspolitischer und -administrativer Ebene hat dies seit 2020 Handlungsdruck erzeugt, gezielte Aufholprogramme v. a. für benachteiligte bzw. leistungsschwächere Schüler:innen zu implementieren, obwohl schon davor in vielen Ländern unterschiedliche Trägerorganisationen solche remedialen Maßnahmen implementiert haben (Herzog-Punzenberger und Kart 2021).

Vor diesem Hintergrund nimmt das vorliegende Themenheft remediale Fördermaßnahmen in den Blick, die als eine strukturierte Form pädagogischer Unterstützung gezielt Lerneinbußen und Bildungsungleichheit kompensieren sollen. Das Editorial rahmt die Beiträge des Themenhefts, in dem (1) auf den Begriff der Krise eingegangen wird, (2) die Befundlage zu den negativen Konsequenzen der COVID-19-bedingten Schulschließungen auf die Bildungsungleichheit und (3) deren vermuteten, ursächlichen Mechanismen skizziert werden. Daran anschließend werden (4) die Einzelbeiträge des Issues vorgestellt. Im Ausblick wird (5) auf weitere aktuelle Krisen und Herausforderungen im Bildungssystem (insbesondere den Lehrermangel) eingegangen.

1 Krise als Ursache von positiven und negativen Entwicklungen

Die Sichtung einschlägiger Literatur zur Krise zeigt, dass keine einheitliche und allgemeingültige Begriffsdefinition existiert, sich jedoch aus den verschiedenen Begriffserklärungsansätzen übergeordnete definitorische Merkmale ableiten lassen, die unter eine zeitliche, eine räumliche und eine strukturelle Dimension subsumiert werden können (ausführlich hierzu Forell et al. 2021). Es liegt im Charakter einer Krise, dass Menschen zeitnah aus einer Vielfalt von möglichen Handlungsoptionen mit großem Handlungsdruck bei gleichzeitig großer Ungewissheit Entscheidungen treffen müssen (ebd.). Der Begriff der Krise stellt im schulpädagogischen Diskurs und bezogen auf Mikro-Prozesse ein zentrales Merkmal pädagogischen Handelns im Sinne einer Irritation von Routinen dar (Oevermann 1996). Kennzeichnend für professionelles Handeln ist, dass Lehrer:innen „mit der stellvertretenden Krisenlösung für Personen betraut“ (Helsper 2016, S. 107) sind, um „lebenspraktische Autonomie durch Bildungsprozesse“ (ebd., S. 108) zu ermöglichen. Auch auf der Makroebene finden sich gesellschaftliche Krisen, die als Momente des Umbruchs zu verstehen sind, in denen Althergebrachtes nicht mehr gilt und die prinzipiell die Chance bieten, Neues zu etablieren. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts mehren sich solche Krisen vor dem Hintergrund rasanter technologischer Entwicklungen, eines hohen Bevölkerungswachstums, zunehmender Umweltkatastrophen, Flucht und Migration (Beck und Rosa 2022; Hadar et al. 2020). Kennzeichnend für solche globalen Krisen ist, dass sie volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig sind, was in der COVID-19-Krise dazu geführt hat, dass in globalem Ausmaß der Alltag unzähliger Menschen auf den Kopf gestellt wurde. Jedoch können Krisen Gelegenheiten für umfassende Veränderungen in Systemen bieten (Novalia und Malekpour 2020; Perry und Kingdon 1985), indem z. B. politische Entscheidungsträger krisenbedingt dysfunktionale Strukturen überdenken, um neue Rahmenbedingungen einzuführen und politische Innovationen vorzuschlagen (Boin et al. 2009).

Auch im Bildungsbereich hat die Corona-Pandemie deutlich gemacht, wie Krisen kurzfristig auf vielen Ebenen die Voraussetzungen für professionelles Handeln verändern, einschränken aber auch erweitern können durch (1) die Schutzvorgaben von Bund (und Ländern) für die Schulen, durch (2) die kommunalen Vorgaben sowie die praktische Umsetzung des Gesundheitsschutzes, durch (3) die Anforderungen an die technische Schulausstattung, ebenso wie durch (4) die durch staatliche Mittel geförderten Projekte für Kinder und Jugendliche. Schon zu Beginn der COVID-19-Pandemie wurden Hoffnungen laut, dass die COVID 19-Krise als Chance für grundlegende Veränderungsprozesse im Bildungssystem genutzt wird (Fullan 2020; Sliwka und Klopsch 2020) und die Pandemie ein wichtiger Treiber für die Digitalisierung sein könnte. Auf Ebene von Einzelschulen erwies sich die Pandemie ebenfalls als Anlass für mehr Entwicklungs- und Innovationsprozesse, insbesondere wenn Schulleitungen flexibel zwischen bewährtem Handeln und dem Explorieren von neuem Wissen wechseln konnten (Pietsch et al. 2022).

Gesamtgesellschaftlich ist der Präsenzunterricht an den Schulen immer wieder aufs Neue in Frage gestellt worden, wobei an Einzelschulen unterschiedliche Herausforderungen (Teilschließungen, Quarantäne, Infektionen) hinzugekommen sind (Reintjes 2022). Vor diesem Hintergrund fanden Entscheidungsprozesse und die Formulierung von Vorgaben auf höherer (bildungsadministrativer und -politischer) Systemebene stärker zentralisiert als vor der Pandemie statt, und wurden von Akteur:innen der nachgeordneten Meso- bzw. Mikroebenen eigenlogisch aufgenommen und interpretiert (Fend 2008; Langer und Brüsemeister 2019). Angesichts der wiederholten Schulschließungen warnten verschiedene Autor:innen schon früh während der Pandemie vor einem Auseinanderdriften der Lernbedingungen und Lernergebnisse von Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Herkunft, da dies in strukturellen Unterschieden in den Rahmenbedingungen für das Lernen zwischen benachteiligten und privilegierten Schulen grundgelegt ist (Bremm und Racherbäumer 2020) – und es liegt die Vermutung nahe, dass zeitlich begrenzte Aufholprogramme dies letztlich nur bedingt kompensieren können.

2 Negative Folgen der COVID-19-Krise

Zu den negativen Folgen der Pandemie zählen u. a. das Befinden, die (mentale) Gesundheit sowie die Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen (Andresen et al. 2022; Grommé et al. 2023; Ravens-Sieberer et al. 2022; Reintjes et al. 2021). Zurückgeführt werden diese auf eine pandemiebedingte Anhäufung von Risikofaktoren auf gesellschaftlicher (z. B. Schließung von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen), familialer (z. B. Mehrfachbelastung durch Kinderbetreuung, Homeschooling und Homeoffice) und individueller Ebene (z. B. Erfahrung häuslicher Gewalt) sowie auf eine grundlegende Divergenz zwischen den Rahmenbedingungen der Pandemie und des Pandemiemanagements mit den Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen und Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen.

Neben den psychosozialen Belastungen stehen die befürchteten Lerneinbußen und steigende Bildungsungleichheit durch die Schulschließungen im Fokus. So weisen verstärkt internationale Studien auf negative Auswirkungen der Schulschließungen auf Schülerleistungen hin (Betthäuser et al. 2023; Helm et al. 2021; König und Frey 2022; Zierer 2021). Insbesondere Kinder aus bildungsfernen oder einkommensschwachen Familien scheinen diesen Arbeiten zufolge von Lernverlusten betroffen gewesen zu sein (Engzell et al. 2021; Helm et al. 2021; Betthäuser et al. 2023). Tatsächlich weisen Meta-Analysen (z. B. Betthäuser et al. 2023) und Review-Studien (z. B. Helm et al. 2021) auf ein Auseinandergehen der Schere hin. So schreiben bspw. Helm et al. (2021, S. 59): „Nimmt man die in diesen Studien berichteten Befunde zusammen, so kann festgehalten werden, dass die bestehende Datenlage die vielfach erwarteten Lerneinbußen und die erwartete Bildungsbenachteiligung von Schüler:innen aus sozioökonomisch schlechter gestellten Familien mehrheitlich bestätigt.“ In ihrer Meta-Analyse kommen Betthäuser et al. (2023) zu einem ähnlichen Schluss: Eine große Mehrheit der Befunde deutet auf eine Zunahme der Bildungsungleichheit zwischen Kindern mit unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen hin. Dies gilt sowohl für Mathematik als auch für Lesen, in der Grund- und Sekundarstufe, in jeder Phase der Pandemie und unabhängig davon, wie der sozioökonomische Hintergrund gemessen wird. Schulze Heuling und Helm (2022) kommen angesichts dieser Befundlage zu der Einschätzung, dass die Schulschließungen als mindestens ethisch prekär, wenn nicht sogar unethisch zu bewerten sind, da unklar war und ist, inwiefern dadurch die „Verletzung der einen zum Wohle der Anderen“ (ebd., S. 641) zulässig oder nützlich gewesen ist. Allerdings gilt auch: „[E]inige Studien, insbesondere jene aus dem DACH-Raum, berichten, dass keine Lerneinbußen und keine zusätzliche Bildungsbenachteiligung durch Schulschließungen im Frühjahr 2020 beobachtet werden konnten.“ (Helm et al. 2021, S. 75) Über mögliche Erklärungen dieser erwartungswidrigen Befunde kann nur spekuliert werden. So vermuten Dep** et al. (2021), dass bildungspolitische Maßnahmen wie Notbetreuung, Nachhilfeunterricht und Sommerschulen dazu beitrugen, insbesondere Schüler:innengruppen zu unterstützen, deren Eltern den Wegfall des regulären Schulbetriebs nicht ausgleichen konnten. Eine andere Erklärung könnte sein, dass der Lernort „Schule“ aufgrund seiner strukturellen Merkmale für benachteiligte Kinder auch einfach kein guter Ort zum Lernen ist (z. B. aufgrund schlechter Ausstattung, Stigmatisierung/Diskriminierung, weniger gutem Unterricht), sodass der Fernunterricht keinen wesentlichen Unterschied macht. Jedenfalls ist die Einordnung der beobachteten Effekte keinesfalls einhellig, sondern wird durchaus kontrovers diskutiert, zumal Unterschiede zwischen den ersten Schulschließungen und späteren Maßnahmen zu verzeichnen sind (König und Frey 2022).

3 Erklärungsansätze für Lerneinbußen und Bildungsungleichheit

Als mögliche Gründe für Lerneinbußen und die Zunahme der Bildungsungleichheit während der Schulschließungen werden unterschiedliche Erklärungsansätze ins Feld geführt. Betthäuser et al. (2023, S. 380) argumentieren, dass Kinder aus sozial benachteiligten Schichten stärker von Schulschließungen betroffen waren als Kinder aus privilegierten Schichten, weil sie Nachteile hinsichtlich ihres Zugangs und ihrer Fähigkeit zur Nutzung digitaler Lerntechnologien, der Qualität ihres häuslichen Lernumfelds, der Lernunterstützung durch Lehrpersonen und Eltern sowie ihrer Fähigkeit zum eigenständigen Lernen hatten. Postlbauer et al. (2022) argumentieren ebenfalls, dass ein wesentlicher Faktor die reduzierte Lernzeit der Schüler:innen aufgrund des Wegfalls des regulären Schulbetriebs war. So stellten Grätz und Lipps (2021) einen signifikanten Unterschied von mehr als vier Stunden pro Woche bei der Reduzierung der Lernzeit zwischen Schüler:innen von Eltern mit niedrigerem Bildungsniveau und solchen von Eltern mit höherem Bildungsniveau während der ersten Schulschließung fest. Zudem wurde in der Studie von Grewenig et al. (2021) ein größerer Rückgang der Lernzeit bei leistungsschwachen Schüler:innen im Vergleich zu leistungsstarken Schüler:innen beobachtet.

Alternativ zu eher auf das Individuum und die Herkunftsfamilie gerichteten Erklärungsversuchen, kann der Blick auf systemisch ungleiche Rahmenbedingungen für das Lernen in benachteiligten und privilegierten Lagen eine mögliche analytische Folie bieten, um strukturelle Ungleichheit und differierende Lernentwicklungen in und außerhalb von Krisenzeiten einzuordnen. Dem nationalen und internationalen Forschungsstand folgend, lassen sich strukturell benachteiligende Rahmenbedingungen für das Lernen an Schulen, die überdurchschnittlich oft von Kindern aus sozialstrukturell deprivierten und von Armut betroffenen Familien besucht werden, in achtfacher Hinsicht nachweisen:

  1. 1.

    Kompetenzdimension: Studien, die Kompetenzvergleiche durchführen (wie PISA, TIMSS und der IQB-Ländervergleich), zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihrer familiären Hintergründe über wenig schulisches Vorwissen und nicht über passende Gewohnheiten und Veranlagungen verfügen, im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen aus privilegierten Umfeldern schlechtere Ergebnisse in Bezug auf die Entwicklung von Kompetenzen erzielen.

  2. 2.

    Berechtigungs‑/Bewertungsdimension: Bei der Überführung von der Grundschule in die Sekundarstufe werden bestimmte Schülergruppen strukturell benachteiligt, auch wenn sie vergleichbare fachliche Leistungen und kognitive Fähigkeiten aufweisen. Dies kann entweder darauf zurückzuführen sein, dass ihre Eltern häufiger Bildungswege wählen, die weniger anspruchsvoll sind, oder dass sie von vornherein strukturell benachteiligt werden (Maaz et al. 2010). Darüber hinaus erhalten sie trotz gleicher Leistungen schlechtere Noten von Lehrpersonen (Helbig und Morar 2017).

  3. 3.

    Befähigungsdimension: Meta-kognitive Strategien, also Fähigkeiten, den Lernprozess eigenverantwortlich zu strukturieren, sind bei sozial deprivierten Kindern im Mittel schwächer ausgeprägt als bei solchen aus privilegierten Elternhäusern (Artelt et al. 2010). Es scheint, dass komplexere Lehr-Lernsettings, die das Einüben solcher Kompetenzen ermöglichen, in deprivierten Schulen seltener zum Einsatz kommen und Methoden, die den Lehrpersonen mehr soziale Kontrolle ermöglichen (bspw. Frontalunterricht) bevorzugt werden (Hertel 2021). Zudem verfügen benachteiligte Kinder der ICILS-Studie zufolge über geringere digitale Kompetenzen als solche aus privilegierten Familien (Senkbeil et al. 2020). Beides dürfte für die Bewältigung der Herausforderungen des Fernlernens eine gewichtige Rolle gespielt haben (Bremm und Racherbäumer 2020).

  4. 4.

    Qualitätsdimension: Des Weiteren besuchen diese Schülergruppen überproportional häufig Schulen, die aufgrund der Schülerzusammensetzung weniger anregende Lernumgebungen bieten und eine geringere Qualität in der Unterrichtsgestaltung aufweisen (Wenger 2020). Die Qualität des Unterrichts ist insbesondere an benachteiligten Schulen von großer Bedeutung, da Schülerinnen und Schüler dort von einer qualitativ hochwertigen Unterrichtserfahrung (Palardy 2008) und gut ausgebildeten Lehrpersonen (Beelmann und Arnold 2022) besonders profitieren. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass benachteiligte Schulen keineswegs eine homogene Gruppe darstellen. Es gibt Schulen in benachteiligten Gegenden, die vorbildlich in Bezug auf Schul- und Unterrichtsgestaltung arbeiten, während einige Schulen in privilegierten Gegenden noch erhebliches Entwicklungspotenzial in Bezug auf zeitgemäße Unterrichtsmethoden haben (Holtappels et al. 2021).

  5. 5.

    Verantwortungsdimension: In benachteiligten Schulen überwiegen oft Defizitorientierungen, die das Aufwachsen in Armut mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten und mangelnder Lernfähigkeit verbinden. Vereinfacht ausgedrückt wird an solchen Schulen oft angenommen, dass Schülerinnen und Schüler, die aus armen Verhältnissen stammen, grundsätzlich Schwächen und Defizite aufweisen. Diese Defizitorientierungen führen dazu, dass Lehrpersonen ihren eigenen Einfluss auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler systematisch unterschätzen und Investitionen in die Qualität von Schulen und Unterricht subjektiv als nutzlos erscheinen. Zusätzlich wird die Verantwortung für erfolgreiches Lernen in benachteiligten Schulen oft abgelehnt und bei mangelndem Lernerfolg durch umfangreiche Externalisierungsstrategien ausschließlich den Eltern, dem sozialen Umfeld und der Bildungspolitik übertragen (Racherbäumer 2017).

  6. 6.

    Raumdimension: Die räumliche Auswirkung sozialer Ungleichheit, die als „Verräumlichung sozialer Ungleichheit“ bezeichnet wird (Fölker et al. 2015), wird seit Jahrzehnten beobachtet. Diese Auswirkung zeigt sich durch mangelnde öffentliche Investitionen in hochverschuldeten Kommunen (1), durch die Auswirkungen der Gentrifizierung, die dazu führt, dass einkommensschwache Bevölkerungsgruppen zunehmend an den Stadtrand gedrängt werden (2), und durch den strukturellen Bevölkerungsrückgang in ländlichen Gebieten mit schlechter Infrastruktur (3). Dies führt zu einer Verfestigung und teilweisen Vergrößerung sozialer Ungleichheiten im Raum. Diese Ungleichheiten finden sich zunehmend in ungleichen Zugangsmöglichkeiten zu Bildungsangeboten und sogar bei der Wahl der Schulform, je nach Nähe oder Entfernung zu bestimmten Bildungseinrichtungen. Darüber hinaus äußern sich diese Ungleichheiten auf der Ebene der einzelnen Schulen an diesen Standorten oft in baufälligen Schulgebäuden, die einer innovativen und qualitativ hochwertigen Unterrichtsgestaltung entgegenwirken. Andererseits können Schulen durch ihre räumliche Verbindung mit dem Stadtteil verschiedene Bildungspartnerschaften ermöglichen, die Bildungsprozesse fördern können.

  7. 7.

    Professionsdimension: Schulen, die einen hohen Anteil an armutsbetroffenen Kindern haben, scheinen bereits jetzt eine höhere Anzahl von Quereinsteigern aufzuweisen (Richter und Marx 2019), mehr Unterrichtsausfall zu verzeichnen und mit einer größeren Fluktuation bei Führungskräften konfrontiert zu sein (vgl. van Ackeren-Mindl et al. 2021). Angesichts des allgemeinen Fachkräftemangels und des spezifischen Mangels an Lehrpersonen und Schulleitern wird es für benachteiligte Schulen immer schwieriger, hochqualifizierte Lehrerinnen und Lehrer zu finden. Dies kann einerseits auf strukturelle Unterbesetzungen in Bezug auf schulische Infrastruktur und Personalanforderungen zurückzuführen sein, andererseits aber auch auf die besonderen Herausforderungen des Unterrichtens in Bezug auf die produktive Überwindung von Konflikten zwischen verschiedenen sozialen Hintergründen (Habitus-Struktur-Konflikte) und die Entwicklung einer ressourcenorientierten und anerkennenden Schulkultur im Sinne eines sogenannten „Growth Mindset“ (Kapasi und Pei 2022), bei gleichzeitigem Bedarf an hoher Unterrichtsqualität. Hinzu kommen negative gesellschaftliche Beschreibungen, die sich zum Beispiel im abwertenden Begriff „Brennpunktschule“ manifestieren (Racherbäumer und Bremm 2021). Solche Beschreibungen können zwar argumentieren, dass sie auf desaströse Zustände aufmerksam machen wollen, jedoch sind sie wahrscheinlich nicht hilfreich, weder im Hinblick auf die wichtige respektvolle Haltung gegenüber Kindern, Eltern und dem Stadtteil, noch für den Abbau von Defizitperspektiven, die die Schulentwicklung, Innovationsbereitschaft und Professionalisierung behindern, noch für die Attraktivität des Arbeitsortes insgesamt. Remediale Maßnahmen wie die österreichische Sommerschule greifen in diesem Zusammenhang zu kurz, da der kurzfristige Bedarf bei der Einführung des Programms durch Lehramtsstudierende gedeckt wurde (Groß Ophoff et al. im Druck; Kaluza et al. 2020), die jedoch scheinbar trotz entsprechender Studieninhalte nicht den besonderen Lernbedürfnissen entsprechend (z. B. sprachsensibel, vgl. Kart et al. 2023) unterrichtet haben.

  8. 8.

    Datennutzungsdimension: In diesem Spannungsfeld können die sich in Deutschland und Österreich im Nachgang zu den ersten PISA-Studien etablierenden Monitoringstrategien, die über vergleichende Outputmessungen ohne wirksame flankierende Maßnahmen der Schulentwicklung und der Professionalisierung von Lehrpersonen starken Druck im System erzeugen, auf strukturell deprivierte Schulen zusätzlich negativ auswirken. Dies gilt insbesondere für die empirisch nachgezeichneten Defizitperspektiven und Externalisierungsstrategien, wenn sie nicht in Sinne einer „No Excuses“-Policy (vgl. Bremm und Klein 2017) als Katalysator gemeinschaftlicher Verantwortungsübernahme von Schulen, Bildungsadministration und Bildungspolitik zur konzentrierten Unterstützung der Schüler:innen und Lehrpersonen verstanden werden, sondern die Verantwortung für schlechte Ergebnisse allein an die Einzelschule und -lehrkraft delegiert wird. Auf diesem Weg werden, wie Befunde zur gering ausgeprägten und oftmals wenig nachhaltigen Datennutzung an deutschen Schulen (Racherbäumer und Bremm 2021; Malin et al. 2020; Groß Ophoff und Cramer 2022; Jesacher-Rößler und Kemethofer 2022) nahelegen, Daten schlichtweg ausgeblendet und Potenziale einer evidenzorientierten Schul- und Unterrichtsentwicklung verschenkt, die gerade in benachteiligten Lagen dabei helfen könnten, soziale Stereotype in Frage zu stellen. Für eine qualitätsvolle Beschäftigung mit Daten, Evidenz oder Forschung braucht es laut Rickinson, Sharples und Lovell (2020) die Verfügbarkeit von für die jeweilige Problem- oder Fragestellung angemessenen Daten oder Evidenz sowie ein auf allen Ebenen des Bildungssystems geteiltes Grundverständnis, dass Daten als Anlass für professionelles individuelles und organisationales Lernen dienen – hierfür spielt insbesondere auch die Professionalisierung von Lehrer:innen, Schulleitungen und Bildungsadministration eine zentrale Rolle.

Die Lage scheint mit Blick auf den D-A-CH-Kontext somit sowohl im Hinblick auf die Konsistenz der Studienergebnisse als auch mit Blick auf mögliche Erklärungsansätze heterogen. Mit dem Abflauen der COVID-19-Krise steht nun die wichtige Aufgabe an, die getroffenen Entscheidungen und daraus resultierenden Handlungen zu analysieren, um die mit den Entscheidungen implizit getroffenen gesellschaftlichen Priorisierungen, wie die Konzentration des Präsenzunterrichts auf die (auf hochwertige Bildungsabschlüsse zielenden) Abschlussklassen, kritisch zu reflektieren.

4 Unter welchen Bedingungen ist zu erwarten, dass remediale Maßnahmen kompensiert wirken?

Dies führt uns zurück zum Ausgangspunkt dieses Beitrags und Themenhefts, nämlich der grundlegenden Frage, welche Rolle remediale Maßnahmen für die Kompensation der negativen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie spielen und welche Rahmenbedingungen nötig wären, damit überhaupt positive Effekte zu erwarten sind. Insbesondere an der letzten Frage setzen die fünf Beiträge des Special Issue der Zeitschrift für Bildungsforschung an.

4.1 Helm, C. & Huber, S. G.: School quality and COVID-19-related compensatory measures

Als Reaktion auf die negativen Konsequenzen der COVID-19-bedingten Schulschließungen für das Lernen der Schüler:innen haben viele Schulen Kompensationsmaßnahmen gesetzt, nicht zuletzt im Rahmen des zwei Milliarden schweren Corona-Aufholprogramms, das in Deutschland initiiert wurde. Das „Einfangen“ von COVID-19-bedingten Lernlücken und Bildungsungleichheit setzt voraus, dass insbesondere benachteiligte Schulen ein adäquates Kompensationsprogramm bieten. Vor diesem Hintergrund untersuchen Helm & Huber, ob und inwiefern Merkmale der Einzelschule (z. B. Schülerzusammensetzung, Schulqualität) mit den angebotenen Kompensationsmaßnahmen zusammenhängen. Die Ergebnisse der Studie machen die zentrale Rolle der an einer Schule bestehenden Kultur der Inklusion sowie der Schule-Eltern-Beziehung sichtbar. Gleichzeitig sagen eine Reihe anderer Schulqualitätsaspekte das remediale Angebot am Schulstandort nur indirekt über die Kultur der schulischen Inklusion vorher. Insbesondere der Befund, dass das Kompensationsangebot von der Zusammensetzung der Schülerschaft am Schulstandort (hinsichtlich Leistungsfähigkeit und sozioökonomischer Herkunft) entkoppelt ist, legt den Schluss nahe, dass remediale Maßnahmen nicht an all jenen Schulen umgesetzt wurden, wo sie aufgrund der Schülerzusammensetzung von besonderer Notwendigkeit gewesen wären bzw. sind.

4.2 Lenz, S., Gamsjäger, M., Severa, M., Kladnik, C., Prammer Semmler, E. & Plaimauer, C.: „… und dann sagten sie plötzlich Frau Lehrerin zu mir!“ Die Sommerschule als Lernfeld für Lehramtsstudierende.

Lenz et al. nehmen die österreichische Sommerschule im Jahr 2020 als Lernfeld für Lehramtsstudierende in den Blick. Unter Bezug auf die von Keller-Schneider (2021) beschriebenen Entwicklungsfelder für Berufseinsteiger:innen gehen die Autorinnen der Frage nach, welche Lerngelegenheiten von den Studierenden als bedeutsam erwähnt und inwiefern diese tatsächlich als Entwicklungsaufgaben bearbeitet und reflektiert werden. Hierzu werten die Autorinnen Gruppendiskussionen und schriftliche Reflexionen von Studierenden der Primar- und Sekundarstufe im Rahmen begleitender Lehrveranstaltungen am Standort Linz inhaltsanalytisch aus. Die Autor:innen decken beim genauen Hin„sehen“ auf, dass die Lerngelegenheiten in der Sommerschule trotz hochschuldidaktischer Begleitveranstaltung oft nur oberflächlich verarbeitet und kaum als Entwicklungsanforderung reflektiert, also nicht wirklich als Anlass zur Weiterentwicklung der professionellen Handlungskompetenz genutzt werden. Letztlich mangelt es, so die Autorinnen, an einem irritierenden, also kognitive Dissonanz erzeugenden Lernmoment und es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die Sommerschule ein adäquater Ersatz sein kann für ein durch eine:n Mentor:in betreutes Schulpraktikum. Völlig unklar ist nach aktuellem Stand, inwiefern die an der Sommerschule teilnehmenden Schüler:innen von einem Unterricht durch Lehramtsstudierende profitieren können, der erfahrungsgemäß eher den Charakter von Nachhilfe-, als von dem durch das BMBWF (z. B. 2021) empfohlenen Projektunterricht hat. Hier braucht es künftig deutlich größere Studien, die gezielt nicht nur Einstellungen, sondern explizit auch Lernvoraussetzungen und Kompetenzentwicklung während der Sommerschule untersuchen.

4.3 Anderson-Park, E., Kindlinger, M., van Veldhuizen, M. & Abs, H. J.: Examining different perspectives on „disadvantage“ in European education systems as a basis for develo** remedial interventions for disadvantaged schools

Schulen in herausfordernder Lage bilden einen Kontext, in dem remediale Aktivitäten von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer erwartet werden. Durch besondere pädagogische Bemühungen sollen ungünstige Voraussetzungen kompensiert werden. Schüler:innen sollen so Lern- und Entwicklungsbedingungen erhalten, die ihnen vergleichbare Ergebnisse wie Schüler:innen an stärker privilegierten Standorten ermöglichen. Der Beitrag geht der Frage nach, inwiefern beginnende Lehrerinnen und Lehrer an herausfordernden Schulstandorten durch ein eigens für diesen Zweck entwickeltes Mentoring darin unterstützt werden können, remedial zu wirken. Dabei greifen die Autor:innen auf Daten eines EU-Projekts (NEST) zurück, das neben Österreich in sechs weiteren europäischen Bildungssystemen durchgeführt wird. Leitend ist die These, dass die adaptive Ausrichtung des Mentorings auf konkrete Probleme der Schule eine Gelingensbedingung dafür ist, dass sich remediale Aktivitäten der Lehrpersonen einstellen können. Deshalb untersucht die Studie in einem ersten Schritt, wie die Herausforderungen der Schule aus der Perspektive der Bildungsadministration und aus der Perspektive von Lehrpersonen wahrgenommen werden. Dazu werden Dokumentenanalysen und Fragebögen einen Monat nach Beginn des Schuljahres und vor Beginn des adaptiven Mentorings eingesetzt. In einem zweiten Schritt wird sodann betrachtet, inwiefern es durch das Mentoring gelingt, die wahrgenommenen Probleme zu adressieren und Kompetenzen aufzubauen, die remediale Aktivitäten ermöglichen.

4.4 Förstner, N., Weber, C., Forthmann, B., Helm, C. & Kemethofer, D.: Kompensation von pandemiebedingten Lernlücken. Welche Rolle sollte die Diagnostik spielen?

Kompensationsmaßnahmen zur Schließung von Lernlücken und Bildungsungleichheit dürften nur dann erfolgreich sein, wenn sie – wie im Corona-Aufholprogramm gefordert (z. B. Helbig et al. 2022) – an den Lernbedarfen der Schüler:innen ansetzen. Dabei, so Förstner et al. in diesem Themenheft, reicht es nicht, sich auf statusbezogene Diagnostik zu konzentrieren. Vielmehr müssten erfolgreiche remediale Maßnahmen verlaufsdiagnostische Instrumente einsetzen, um an der Lernentwicklung der Schüler:innen anzusetzen. Vor diesem Hintergrund analysieren Förstner et al. die Rolle, die Diagnostik auf Ebene des Systemmonitorings und als Element individueller Fördermaßnahmen im Rahmen von Kompensationsmaßnahmen spielt bzw. spielen sollte. Die Autor:innen kommen in ihrem Beitrag zu dem Schluss, dass dem Corona-Aufholprogramm eine Gesamtstrategie zur systematischen und validen Erfassung von Lernrückständen fehle. Verbindlichere Vorgaben zur Nutzung standardisierter, psychometrisch geprüfter, lernprozessbegleitenden Diagnoseinstrumente sowie die verstärkte Förderung von Lehrerkompetenzen im Umgang mit diagnostische Informationen wären aus Sicht der Autor:innen notwendig, um die mit den Kompensationsmaßnahmen verbundenen Ziele (effizient) zu erreichen. Abschließend skizzieren die Autor:innen Ansatzpunkte für eine Verbesserung diagnosebasierter Förderung.

4.5 Grommé, E., Nonte, S. & Reintjes, C.: Prädiktoren des schulischen Wohlbefindens während der COVID-19 Pandemie in zwei deutschen Großstädten. Die Bedeutung von schulischen Ressourcen, Fehltagen aufgrund von Quarantäne/Isolation und Merkmalen des familiären Hintergrunds

Obgleich die Corona-Pandemie tief in die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen eingegriffen hat, werden die Auswirkungen der in diesem Kontext getroffenen Maßnahmen im sozial-emotionalen Bereich erst nach und nach sichtbar. In Folge der (Teil‑)Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen zeigen sich Lernrückstände, aber auch Belastungen der mentalen Gesundheit. Im Beitrag wird untersucht, wie sich das schulische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen in zwei deutschen Städten beschreiben lässt und welche Rolle der häusliche Hintergrund, institutionelle Merkmale sowie Indikatoren des Pandemiemanagements spielen. Die Ergebnisse dokumentieren, dass das schulische Wohlbefinden in beiden untersuchten deutschen Großstädten hoch ausgeprägt ist. Der wahrgenommene Umgang mit Schulschließungen erweist sich als signifikant negativer Prädiktor. Die wahrgenommene soziale Unterstützung zu Hause hat in beiden Städten einen positiven Einfluss. Die Befunde verdeutlichen, dass die Folgen der Pandemie nicht einseitig betrachtet werden dürfen und institutionelle Unterstützung evidenzbasiert sowie lösungsorientiert auf regionaler Ebene gewährleistet werden muss, damit Unterstützungsangebote gerade auch bei vulnerablen Gruppen zielgenau ankommen.

Zusammenfassend legen die fünf Beiträge nahe, dass eine kompensatorische Wirkung von remedialen Maßnahmen nur unter bestimmten Bedingungen überhaupt zu erwarten ist. Die Qualität der Schulen (insbesondere die Kultur der Inklusion an der Schule), die Unterstützung von beteiligten angehenden Lehrpersonen (z. B. durch ein Mentoringprogramme), die diagnostische Kompetenz von Lehrpersonen sowie das Krisenmanagement am Schulstandort, spiel(t)en eine wichtige Rolle. Zudem wird deutlich, dass „studentische Nachhilfe“ im Rahmen von Aufholprogrammen in den Sommerferien sowohl bei Schüler:innen als auch Studierenden nur bedingt zu Lernprozessen führt. Für die nachhaltige und systematische Bewältigung der Corona-Pandemie braucht es viel mehr ein geteiltes Problembewusstsein auf allen Ebenen des Schulsystems und die Bereitschaft, ressourcenintensive einzelschulische Konzepte zur ganzheitlichen, individuellen Förderung realisieren zu können. Bei Aufholprogrammen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Krisen sollte es zudem nicht allein um das Aufholen von versäumten Unterrichtsinhalten gehen, sondern auch um die Kompensation unterschiedlichster Verlust- und Verzichtserfahrungen, Ressourcenaktivierung und individuelle Resilienzförderung – hierzu braucht es entsprechend geschultes Personal.

5 Nach der Krise ist vor der Krise: Lektionen für die Lehrer:innenbildung

Die Pandemie hat gezeigt, dass Schulsysteme im deutschsprachigen Raum nur bedingt auf Krisensituationen vorbereitet waren, sodass Schüler:innen negative Konsequenzen erlitten haben (siehe oben). Nach nun etwas mehr als drei Jahren scheint zwar die Pandemie bewältigt, aber Schulen konnten den Krisenmodus bislang nicht wirklich verlassen. Dazu zählt auch der erhebliche Anstieg der Schüler:innenzahlen u. a. in der Folge des Zuzugs von geflüchteten Schüler:innen. Der Angriffskrieg auf die Ukraine führt (um in der Terminologie der oben eingeführten Krisensituation an deutschen und österreichischen Schule zu bleiben) als weitere Krise dazu, dass die Schulen geflüchtete Kinder und deren Eltern in die Schulgemeinde integrieren und mit deren (existenziellen) Ängsten sowie auch mit den Sorgen der grundständigen Schulkinder pädagogisch verantwortungsvoll umgehen müssen und wollen. Diese Entwicklungen haben zu einer Verschärfung einer weiteren Krise im Schulischen beigetragen, nämlich die Lehrkräftebedarfskrise, durch die seit mehreren Jahren der Druck auf die Einzelschulen und die darin tätigen Lehrer:innen ebenfalls kontinuierlich erhöht wird (im Überblick: Porsch und Reintjes 2023; für Österreich: BMBWF 2021), was an sozial deprivierten Standorten gleichsam pressierender ist (Bellenberg und Reintjes 2020). Sofern in der Vergangenheit auf dem Arbeitsmarkt ein Mangel an Lehrpersonen bestand, wurden regelmäßig (oftmals vorübergehend) alternative Wege in den Lehrer:innenberuf für z. B. Seiten- und Quereinsteiger:innen geöffnet (für EU-Länder siehe Klemm und Zorn 2018). Der anhaltende Lehrkräftemangel in Deutschland und Österreich hat in den letzten 10 bis 15 Jahren zu einer dauerhaften Institutionalisierung alternativer Wege in den Lehrer:innenberuf geführt und wurde von einer anhaltenden Debatte über Professionalität und die Erfüllung professioneller Standards im Lehrer:innenberuf begleitet (Porsch 2021). Bereits 2013 hat sich in Deutschland die KMK darauf verständigt, dass unter Beibehaltung der Standards für Lehrpersonen (KMK 41,42,a, b) jedes der 16 Bundesländer spezifische Maßnahmen ergreifen kann, wenn ein Mangel an Lehrerinnen und Lehrern beobachtet wird (KMK 2013). In Österreich liegt beispielsweise seit letztem Jahr eine Dienstrechtnovelle vor, welche (a) dem Lehrermangel (u. a. flexiblere Möglichkeiten zum Quereinstieg oder zur Schulleiterbestellung) entgegenwirken und (b) zur Kompensation von Lerneinbußen beitragen soll. Kampagnen wie „Klasse Job“ zielen weiters in Österreich darauf ab, junge Menschen und Berufswechsler:innen für den Beruf Lehrer:in zu gewinnen – mit moderatem Erfolg. Als weitere Maßnahmen zur Bewältigung des akuten Lehrkräftemangels werden in beiden Ländern diskutiert (und z. T. auch schon realisiert), Lehramtsstudierende sowie weitere formal nicht (vollständig) qualifizierte Personen zur Entlastung und Unterstützung von Lehrpersonen einzusetzen. Studierende und auch Lehrpersonen aus dem Ruhestand werden als Vertretungslehrpersonen mit befristeten Arbeits- bzw. Dienstverhältnissen eingestellt (Winter et al. 2023) und stellen neben Quer- und Seiteneinsteiger:innen (Porsch 2021) einen bedeutenden Anteil der rekrutierten Personen dar.

Trotz dieses Steuerungshandelns hat sich die Situation weiter zugespitzt mit der Folge, dass bisher undenkbare Optionen, wie z. B. Unterricht an nur vier Tagen die Woche anzubieten, in einzelnen deutschen Bundesländern zu Pilotierungszwecken zugelassen werden. In Österreich ist es mittlerweile gängige Praxis, dass Lehramtsstudierende bereits während ihres Bachelor-Studiums an Schulen angestellt werden und fachfremd unterrichten (Helm 2022). Hierbei kommt eine weitere Lernendengruppe in den Blick, die von den Folgen der Pandemie betroffen war: König et al. (2022) berichten, dass Lehramtsstudierende, die während der Pandemie – und damit v. a. in Distanz-Settings – ihr dreijähriges Bachelor-Studium absolviert haben, eine geringere Verbesserung ihrer Selbstwirksamkeitsüberzeugungen zeigen als man es bei „traditionellen“ Studierenden beobachtet, die davor in einem regulären Präsenz-Setting studiert haben. Dies steht vermutlich in Verbindung damit, dass schulpraktische Lerngelegenheiten während der Pandemie in geringerem Ausmaß möglich gewesen sind, die aber als bedeutsam für die Verbesserung der Selbstwirksamkeitsüberzeugungen angesehen werden (Bach 2020; Gröschner und Klaß 2020). Dafür spricht u. a. auch, dass die Möglichkeit, als Lehramtsstudierende:r in der österreichweiten Sommerschule zu unterrichten und dies als praktikumsäquivalent anrechnen zu lassen, diese fehlenden „regulären“ Lerngelegenheiten nur bedingt kompensieren konnte (Groß Ophoff et al. im Druck; Lauss 2021; Lenz et al., in diesem Themenheft). Auch wenn speziell diese Überzeugungen zu den „softeren“ Komponenten professioneller Kompetenz (Baumert und Kunter 2006) zählen, sind sie nach Bandura (1997) maßgeblich dafür, dass Herausforderungen nicht gescheut, sondern angegangen werden, und darüber Kompetenzen kontinuierlich (ganz im Sinne lebenslangen Lernens) aufgebaut bzw. weiterentwickelt werden können. Dass es sich dabei also um eine wichtige „Krisen“-Kompetenz handelt, wird u. a. durch Befunde von Röhl et al. (2022) unterstützt, wonach die Tiefe und Reichweite schulischer Innovationen während der Pandemie durch die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen von Schulleiter:innen vorhergesagt werden konnte.

Angesichts der Tatsache, dass auch Lehrpersonen und Lehramtsstudierende von besonderen Belastungen durch besagte Krisen betroffen gewesen sind (Drossel et al. 2022; Klapproth et al. 2020; Vogelsang 2021) und dies angesichts der Einschränkung von Sozialkontakten während der COVID 19-Pandemie nicht durch formelle wie auch informelle Lerngelegenheiten aufgefangen werden konnte, verdeutlicht einmal mehr, dass Lehrer:innenausbildung und -fortbildung unter Normalbedingungen auch auf etwaige Krisen vorbereiten und relevantes Wissen und Kompetenzen vermitteln muss. Um Lehrpersonen und damit Schulen resilient gegenüber aktuellen oder auch kommenden Krisen zu machen, braucht es die Förderung von professioneller Kompetenz (also Skill und Will), u. a. zum adaptiven Handeln in heterogenen Settings (Brühwiler 2014; Franz et al. 2019) oder zur unterrichtlichen/schulischen Nutzung von digitalen Medien (Drossel et al. 2022; Klapproth et al. 2020; Meile und Liebers 2022) – an diesem Bedarf hat sich letztlich auch durch die Pandemie und deren Folgen nicht wirklich etwas verändert. Speziell letzteres hat sich über digital unterstützte Kommunikationsroutinen, aber auch über schon vor der Pandemie verfügbare Lern-Apps als bedeutsam erwiesen für das Lernen und die Lernmotivation während der Schulschließungen (u. a. König und Frey 2022; Schönbächler et al. 2020).

6 Ausblick

Schule stellt gegenwärtig ein hochdruck-geladenes Handlungsfeld dar, das aufgrund aktueller Krisen und Entwicklungen mehr denn je eine umfassende, reflektierte Steuerungspolitik benötigt, um der Verantwortung, alle Schüler:innen in einer gesellschaftlich anspruchsvollen Zeit individuell und ganzheitlich zu fördern, gerecht werden zu können (Reintjes und im Brahm 2022). Gestiegene Anforderungen und Belastungen im Kontext Schule stoßen weiterhin auf kumulierende gesellschaftliche Herausforderungen. Unterstützung von Seiten einer zielgerichteten und reflektierten Steuerungspolitik ist daher essentiell. Für einen zuverlässigen, sicheren Schulbetrieb ist das schulische Personal von größter Bedeutung: Zuverlässig und in ausreichender Zahl verfügbar, adäquat (krisenspezifisch!) qualifiziert, persönlich resilient bzw. krisenfest und mit ausreichender Zeit für individuelle Bedarfs- und Bedürfnisermittlungen sowie den Aufbau und die Gestaltung professioneller Beziehungen. Darüber hinaus sollte Schule als kritische Infrastruktur verstanden und (mit den erforderlichen Ressourcen) weiterentwickelt werden (Karutz et al. 2022), um die verschiedenen Funktionen von Schule (nicht nur die Qualifikationsfunktion) zuverlässig aufrechterhalten zu können. Denn: Schule ist nicht nur Lernort, sondern insbesondere auch sozialer Lebens- und Entwicklungsraum von Kindern und Jugendlichen. Rahmenbedingungen und ihre lokale Interpretation stellen Kontextbedingungen für professionelles Handeln in Schule und Unterricht dar und beeinflussen Prozessqualität und Outcomes im Bildungssystem, z. B. die Leistungsentwicklung, aber auch das (Wohl‑)Befinden und die soziale Eingebundenheit von Kindern und Jugendlichen. Schließlich kann ein regionales und regelmäßiges Bildungsmonitoring eine sinnvolle ergänzende Strategie darstellen, um über eine evidenzbasierte Diagnose von Bedarfen einzelner Schulen konkrete Unterstützungsmaßnahmen abzuleiten und zu implementieren (Petermann et al. 2019). Hierfür ist eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Bildungsinstitutionen essenziell, um über das bisher genannte hinaus gegenwärtigen und zukünftigen Krisen resilient und proaktiv entgegentreten zu können.