1 Hintergrund

Im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs sind Analysen zu Transformationen des Arbeitsmarktes wie bspw. Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, Prekarisierung oder veränderte Arbeitsformen wie Arbeit auf Abruf, Temporärarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse oder Crowdworking zahlreich (vgl. dazu z. B. Kalleberg 2018). Aus feministischer Perspektive wird dabei die vornehmliche Fokussierung auf Erwerbsarbeit kritisiert bei gleichzeitiger Marginalisierung der unbezahlten Sorgearbeit (vgl. z. B. Aulenbacher 2009). Veränderungen der Lohnarbeitsgesellschaft haben indes nicht nur Auswirkungen auf Erwerbsarbeit, sondern auch auf Staat und Familien. Vielen Familien fehlen gegenwärtig trotz Erwerbsarbeit ausreichend finanzielle und zeitliche Ressourcen, um grundlegende Lebensbedürfnisse wie Wohnen, kulturelle Teilhabe und Bedürfnisse wie Sorge für sich selbst und andere angemessen zu befriedigen (vgl. Winker 2015, S. 77). Folgen davon sind häufig Erschöpfung, Überlastungen und psychosomatische Erkrankungen der Eltern (vgl. Lutz 2012), verbunden mit negativen Auswirkungen auf Kinder (vgl. Becklas und Klocke 2012).

In der Schweiz waren im Jahr 2021 4,2 % aller Erwerbstätigen von ErwerbsarmutFootnote 1 betroffen, 7,4 % der Erwerbstätigen armutsgefährdet. Diese Personen leben zu einem großen Teil in Mehrpersonenhaushalten mit Kindern. Man spricht in der Schweiz von rund einer viertel Million Kindern, die von Erwerbsarmut betroffen sind (vgl. Streuli und Bauer 2001, S. 11). Die Einkommensschwäche erhöht den familiären Stress, der hohe Erwerbsaufwand absorbiert viel Energie und schränkt die zeitlichen Ressourcen ein (vgl. Kutzner und Pelizzari 2004). Haushalte mit Kindern zeichnen sich im Weiteren durch einen höheren finanziellen Bedarf und aufgrund von Betreuungspflichten häufig geringerer Erwerbsbeteiligung aus, so dass das Risiko besteht, dass Erwerbsarmut sich im zeitlichen Verlauf chronifizieren kann (vgl. Pérez 2018). Es ist insofern ein komplexes Zusammenspiel zwischen Erwerbseinkommen, der jährlich bezahlten Arbeitszeit, wie auch zwischen atypischen Arbeitsverhältnissen, Beschäftigung im informellen Sektor und Sozialleistungen, die Erwerbsarmut begünstigen (vgl. Crettaz 2018). Zusätzliche Herausforderungen wie Migration, Trennung, Scheidung, gesundheitliche Einschränkungen oder Geschlechteraspekte (vgl. Amacker et al. 2015) können die familiäre Situation akzentuieren.

2 Fokus und Ziele des Forschungsprojekts

Das Ausmaß von Erwerbsarmut und die Lebenslage Betroffener wurde in der Schweiz durch verschiedene Studien vertiefter erforscht (z. B. Caritas Schweiz 1998; Knöpfel 2004; Kutzner et al. 2004; Mäder 2012). Es besteht ein großes Bewusstsein um die Problematik des sich verändernden Arbeitsmarktes, die Veränderung familiärer Binnenstrukturen sowie eine hohe Sensibilität hinsichtlich aktueller Erwartungen an Sorgearbeit und kindlicher Förderung in den Familien. Trotz dieser Sensibilisierung fehlt es in der Schweiz an einer systematischen Untersuchung, die sich im Sinne einer Mikroperspektive auf das Familienleben fokussiert und aus einer klassen-, geschlechts- und ethnizitätssensiblen Perspektive das Leben der Familienmitglieder, welche von Erwerbsarmut betroffen sind, im Kontext der (sozial)politischen, rechtlichen, arbeitsrechtlichen, institutionellen und arbeitsmarktlichen Bedingungen der Schweiz beleuchtet. In den vergangenen Jahren gab es international zunehmende Bestrebungen, die Perspektive von armutsbetroffenen Kindern in den Blick zu nehmen (vgl. exemplarisch Chassé et al. 2010; Richter 2000; Ridge 2002). Für die Schweiz fehlt indes eine solche Perspektive, insbesondere in Zusammenhang mit Erwerbsarmut und Prekarität, weitgehend.

Ziel des Forschungsprojektes ist es daher, mehr Wissen zu generieren, wie Familien in Erwerbsarmut in der Schweiz ihren Familienalltag gestalten und wie sich gegenwärtige Transformationen des Arbeitsmarktes auf den Familienalltag und die Sorgearbeit auswirken. Im Zentrum steht die Frage, wie die einzelnen Familienmitglieder, nämlich Kinder, Eltern und/oder weitere relevante inner- und außerfamiliäre BezugspersonenFootnote 2, diese Situation (er)leben. Unter Familienleben wird der FamilienalltagFootnote 3, das Verhalten und Handeln der einzelnen Familienmitglieder, das teilnehmend beobachtet wird, verstanden, während unter Familienerleben die kommunizierte Perspektive der Kinder und Eltern über ihr Familienleben, welche mittels Interviews erhoben wird, gefasst wird. Im Forschungsprojekt stehen 42 Haushalte, die von Erwerbsarmut betroffen sind, in drei Sprachregionen der Schweiz im Fokus. Für die Erfassung der subjektiven Sicht der Kinder orientiert sich das Projekt an dem in der pädagogischen Ethnographie angewendeten „freien Gespräch mit Kindern“ (Zinnecker 1996, S. 44 zit. in Fuhs 2012), bzw. dem „ero-epischen Gespräch“ (Girtler 2001, S. 147). Ziel ist es, sich vom Kind in seiner Lebenswelt leiten zu lassen, ihm die Möglichkeit zu bieten, dem:der Forscher:in seine Lebenswelt mit seinen eigenen Gegenständen zu zeigen und diese als Erzählstimuli zu nutzen. Die Interviews mit Kindern werden systematisch durch die teilnehmende Beobachtung erweitert, um die unterschiedlichen Ausdrucksweisen der Kinder durch Mimik, Körper (Nentwig-Gesemann 2013, S. 762), Spiel oder kreative Gestaltung zu berücksichtigen. Die Auswertung des erhobenen Datenmaterials erfolgt anhand der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse (Lorenzer 1995). In der Datenauswertung werden die unterschiedlichen Perspektiven im Sinne einer Perspektiventriangulation systematisch und vergleichend aufeinander bezogen, um eine größere Breite und Tiefe, aber auch eine Validierung der Rekonstruktion der Einzelperspektiven zu erreichen (vgl. Rieker 2008).