Gemeinwesenarbeit wird oft mit Stadteilen oder Quartieren in Verbindung gebracht. In diesem Projekt sind die geflüchteten Frauen das Gemeinwesen. Offene Diskurse bei Prozessen und Strukturen und umfassende Beteiligung förderten die Verständigung und Solidarität unter den Frauen. Parallelen zum Community Organizing und Bezugspunkte zur Gemeinwesenarbeit sind deutlich erkennbar.

Der allgemeine Auftrag für den „Bereich Integrationsmanagement“ der Landeshauptstadt Hannover ist, Geflüchtete nach der Anerkennung des Asyls beim Wechsel aus der Flüchtlingsunterkunft in eine eigene Wohnung zu beraten und zu begleiten. Das sind Aufgaben, wie z. B. Wohnungssuche, Umzug, behördliche Anmeldung, Kita- und Schulbesuch, Meldung beim Job-Center sowie Information und Anleitung bei wichtigen Dingen des Alltags: von Mülltrennung, über Nutzung des ÖPNV bis zu TV-Gebühren. Darüber hinaus erfolgt eine Vermittlung an Treffpunkte und Beratungsstellen vor Ort im Stadtteil. Die Beratung und Betreuung läuft jeweils über einen Zeitraum von ca. vier Monaten. Die Arbeit in den Erzählcafés ging über die Kernaufgaben hinaus.

Projektbeteiligte und Vorgehen

Das Projektteam bestand aus der Sozialarbeiterin Yildiz Sahinde Demirer, die bereits 2005 ein erstes Erzählcafé entwickelte, und zeitweise einer weiteren Kollegin (vgl. ebd. u. a. 2017). Die Sozialarbeiterin Demirer ist 1988 als politische Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Ihr Jurastudium und ihre Tätigkeit als Anwältin im Heimatland wurden in Deutschland nicht anerkannt. Deshalb studierte sie an der Evangelischen Fachhochschule Hannover Sozialarbeit mit den Schwerpunkten Gemeinwesenarbeit, Migration und Menschenrechte und absolvierte Zusatzausbildungen als Mediatorin und Diversity-Trainerin. Sie war als Sozialarbeiterin in der Migrationsarbeit in Stadtteilen Hannovers, der Stadt Hannover und im Land Niedersachsen aktiv und hat dabei in verschiedenen sozialkulturellen Vereinen, in der LAG Soziale Brennpunkte Nds. e. V. und im Integrationsmanagement der Landeshauptstadt Hannover gearbeitet. Sie selbst bezeichnet ihre Arbeit als Gemeinwesenarbeit mit feministischen und politischen Schwerpunkten.

Das Forschungsteam der Hochschule Hannover besteht aus den Autor_innen, Rebecca Hassan und Joachim Romppel. In Hannover wurde schon längere Zeit ein Ansatz der partizipativen Praxisforschung erprobt (vgl. Esser et al. 1996, angelehnt an Heiner 1988, 2004; Moser 1995, 2015). Regelmäßige Reflexionsgespräche mit den Sozialarbeiterinnen zur Projektpraxis dienen dazu, die Ausgangslage und das Arbeitsfeld mit den Kontextbedingungen festzuhalten. Dann wird der Prozess des professionellen Handelns begleitet und nachvollzogen. Die Gruppenleiterinnen und Teamerinnen berichteten in Kleingruppen von ihren Erfahrungen im Alltag und im Projekt. Zusammen mit den Sozialarbeiterinnen befragten sie als Co-Forschende ca. fünfzig Frauen der Erzählcafés in kleinen Gruppen. Abschließend erfolgte die fachliche Einordnung des Projektes (vgl. Romppel und Lüters 2005; Romppel und Hassan 2021).

Forschungs- und Praxisteam bringen eigene reflektierte Erfahrungen mit Migration und Folgen in das Projekt ein. Prozesshaftigkeit und Partizipation der Forschung und regelmäßige Reflexion der Zusammenarbeit werden forschungsethisch beim Umgang mit vulnerablen Personengruppen von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit gefordert (vgl. DGSA 2020). Die hier umgesetzte Praxisforschung ist macht- und migrationssensibel mit Beteiligung auch beim Forschungsdesign konzipiert. Rückkopplung der Zwischenergebnisse ermöglichen Reflexion und Mitsprache. Interventionen und Aktionen konnten im Prozess die Praxis beeinflussen und verändern (vgl. Alisch und May 2017).

Konzept der Erzählcafés

Das Projekt richtet sich an geflüchtete Frauen in vier ausgewählten Flüchtlingsunterkünften in verschiedenen Stadteilen und an eine Gruppe yezidischer Frauen, die aus Schutzgründen dezentral in Wohnungen leben. In einem Stadtteil wurde die Arbeit in einen nahegelegenen Kulturtreff verlegt und für Frauen mit Migrationserfahrung geöffnet. Die Gemeinwesenarbeit in den „Erzählcafés“ besteht aus wöchentlichen Gruppenangeboten mit Kinderbetreuung, situativen Beratungs- und Betreuungsangeboten sowie der Schulung und Unterstützung der Gruppenleiterinnen und Teamerinnen, die sich in den Erzählcafés für diese Aufgaben kompetent zeigten. Das Sprachlernen in den Erzählcafés ist angelehnt an Freires Bildungsarbeit zur Alphabetisierung und das pädagogische Konzept von Dewey (vgl. Freire 1973; Oehler 2018).

Die Frauen der Erzählcafés berichten, dass sie durch die Haustürgespräche und die Werbung in den Integrations- und Deutschkursen überzeugt wurden, die aufsuchende Art und Weise hat sie angesprochen. Wertvoll ist, in den Erzählcafés unter Frauen sein, über Geschichten des Alltags und auch über belastende Ereignisse (wie z. B. Krieg, Armut, Flucht, Gewalt) sprechen zu können. Beratung und Information durch die Sozialarbeiterinnen helfen weiter. Aktuell erfahrene Beleidigungen und Diskriminierungen werden besprochen und es wird gezeigt, wie es geht, sich zu wehren. Die Rechte der Frauen sind stärkend. Die Frauen sind selbstbewusster geworden.

Die Projektleiterin hat Frauen, die schon als Dolmetscherin, in Kursen oder Gruppen, aktiv waren, angesprochen und für Gruppenleitung und die Unterstützung als Teamerin geworben. Die Frauen finden die Arbeit interessant, weil es zwischen Frauen mit vergleichbarer Erfahrung starke Verbindungen gibt. Die Frauen haben viel durchgestanden. Die gute Begleitung durch die Sozialarbeiterin fördert das Zutrauen und die Handlungsfähigkeit. Die offene Atmosphäre in den Erzählcafés ist wichtig. Alle müssen teilhaben können, deshalb sind die Verständigung und Umsetzung gemeinsamer Interessen so wichtig.

Umsetzung des Konzepts

Die Projektleitung übernimmt zunächst (1) die Werbung mit Haustürgesprächen und den (2) Aufbau der Erzählcafés, die Gruppenbildung und (3) schult Gruppenleiterinnen und arbeitet sie ein. Zur Unterstützung sind Teamerinnen bereit, Aufgaben zu übernehmen. Darüber hinaus gibt es Begleitkräfte, Sprachmittlerinnen und Kinderbetreuungskräfte mit Honorarverträgen. (4) Wichtig ist, dass alle Tätigkeiten als Erwerbsarbeit anerkannt werden und die Finanzierung geklärt ist. Das Modell ließe sich auch als Lernwerkstatt bezeichnen, in der das Arbeiten im Bildungsbereich vertraglich geregelt organisiert wird (vgl. VEL 2009). (5) Eine wesentliche Methode in den Erzählcafés ist das offene Gespräch, das von der Gruppenleitung initiiert und moderiert wird, ergänzt durch gezieltes Nachfragen. Die Leitung achtet mit einem Diversity-Ansatz darauf, dass die Beiträge der Frauen im Hinblick auf Aussagen über Hierarchien und patriarchale Strukturen, kulturelle Codes, Bewertungen und Vorurteile reflektiert werden. Das Lernkonzept in den Erzählcafés enthält informelles und alltagsbezogenes Lernen und unterscheidet sich von anderen Kursen. Das Konzept zum Sprachlernen in den Erzählcafés ist angelehnt an Freires Bildungsarbeit zur Alphabetisierung und dem pädagogischen Konzept von Dewey (vgl. Oehler 2018).

Handlungsebenen und Aktivitäten zur Beteiligung

Beteiligung in den Erzählcafés wird unterschieden und abgegrenzt von der weit verbreiteten Teilnahme an Kursen und Veranstaltungen, bei denen die Rahmenbedingungen und die Strukturen vorab festgelegt sind. Hier findet eine kritische Diskussion um Bezeichnungen und Rollen statt (z. B. Geflüchtete statt Flüchtlinge usw.). Bitzan und Bolay haben sich grundlegend mit den Zielgruppen Sozialer Arbeit auseinandergesetzt und kritisieren die damit verbundene Zuschreibung von Merkmalen oder abwertenden Bedeutungen (Bitzan und Bolay 2017). Auch der Begriff „Teilnehmerinnen“ enthält oft Annahmen und Verallgemeinerungen, die den Blick auf die Vielfalt der Aktivitäten und Kompetenzen der geflüchteten Frauen verstellen und eher mit der Haltung eines Machtgefälles arbeiten. Um sich davon bewusst abzugrenzen, finden Aktivitäten auf verschiedenen Handlungsebenen und in unterschiedlichen Handlungsformen statt:

  1. 1.

    Frauen kommen zu den offenen Gruppentreffen: Die Frauen bringen mit ihrer Persönlichkeit ihre Lebens- und Alltagserfahrungen, ihre Sichtweisen, Bedürfnisse und Interessen ein. Die Tätigkeiten sind: Kontakt aufnehmen, Kennenlernen, Treffen, Erzählen, Zuhören, Ideen einbringen und umsetzen, Mitgestalten, Mitfühlen, Unterstützen, Feiern, Musizieren, Tanzen.

  2. 2.

    Frauen geben ihr Wissen und Können weiter: Die vertraute Gruppe im Erzählcafé bietet einen niedrigschwelligen Einstieg für geflüchtete Frauen, das eigene Wissen und Können als Besonderheit und Wert wahrzunehmen und es an andere Frauen weiterzugeben. Die Tätigkeiten sind: Selbstwahrnehmung, Vorstellen, Werben, Vortragen, Präsentieren, Anleiten, Vermitteln, Informieren.

  3. 3.

    Frauen gehen in die Öffentlichkeit: Die Vertretung der Erzählcafés nach außen wird gemeinsam besprochen und beschlossen, durchgeführt und danach reflektiert. Die Gruppenleiterinnen und die Sozialarbeiterinnen begleiten den oftmals ungewohnten Gang in die Öffentlichkeit, machen Mut und bestärken die Frauen. Die Tätigkeiten sind: Präsentieren, Darstellen, Berichten, Positionieren, Nachfragen, Diskutieren, Vertreten, Treffpunkte aufsuchen, Orientieren, Verkehrsmittel und andere Infrastruktur kennen und nutzen.

  4. 4.

    Frauen bilden sich weiter und übernehmen pädagogische Aufgaben: Frauen übernehmen kontinuierliche Aufgaben für eine Gruppe. Sie werden von den Sozialarbeiterinnen geschult oder in eine Schulung vermittelt. Die Aufgaben der Gruppenleitung werden in Teams durch regelmäßige Besprechungen vor- und nachbereitet. Die Tätigkeiten sind: Arbeits- und Bildungsprozesse verstehen, Lernen und Lehren, Organisieren, Sprechen, Informieren, Werben, Kontakte knüpfen und Beziehung herstellen, Planen, Beteiligen, Moderieren, Bilden, Leiten.

  5. 5.

    Frauen planen für die Zukunft: Die Finanzierung des Projekts der Erzählcafés ist auf drei Jahre begrenzt. Schon früh haben die Sozialarbeiterinnen das Thema einer möglichen Fortsetzung mit den Frauen besprochen. Die Fortsetzung ist gewünscht. Konzept und Finanzierung werden gemeinsam überlegt. Die Tätigkeiten sind: Organisationen und Kommunalpolitik verstehen, Informieren, Fragen, Beraten, Vorsorgen, Ideen sammeln, Abwägen, Entscheiden.

  6. 6.

    Frauen beteiligen sich an der wissenschaftlichen Begleitung: Üblicherweise werden wissenschaftliche Begleitungen von den Trägern der Sozialen Arbeit und den Hochschulen ausgehandelt und vereinbart. In diesem Fall waren die Frauen in den Erzählcafés von Beginn an informiert und beteiligt. Das ist zeitaufwändig, bestätigt aber den wichtigen Grundsatz, dass Inhalt und Struktur zur Diskussion stehen und veränderbar sind. Die Tätigkeiten sind: Beschreiben, Erklären, Dokumentieren, Fragen, Analysieren, Reflektieren, Auswerten.

Anhand der sechs Handlungsebenen und der vielen Handlungsformen/Tätigkeiten in den Erzählcafés lassen sich Erweiterungen der anfänglichen Rollen geflüchtete Frau, Mutter, Teilnehmerin usw. erweitern in z. B.: Macherin, Aktivistin, Planerin, Erzählerin, Tänzerin, Musikerin, Moderatorin, Beraterin, Referentin, Teamerin, Leiterin, Repräsentantin … Auf diese Weise wird der Diskriminierung durch zu eng geführte Rollenbilder mit unausgesprochener gesellschaftlicher Abwertung entgegengewirkt. Eine Besonderheit des Konzepts ist das stetige Bemühen, die Anliegen der Frauen zunächst in geschützten Räumen zur Sprache zu bringen und dann in der Öffentlichkeit Geltung zu verschaffen. Der Weg in die Öffentlichkeit ist Teil des Konzepts. Dadurch erproben die Frauen, welche Orte, Vereine, Behörden und Personen sie als Unterstützung für Ihre Anliegen gewinnen können. Das kategoriale Gemeinwesen der geflüchteten Frauen wird so erweitert um das territoriale Gemeinwesen (Szynka 2013).

„Gemeinwesenarbeit“ wird von Sabine Stövesand in einem Lexikonbeitrag umfassend vorgestellt (vgl. ebd. 2019). Drei Positionen lassen sich u. a. erkennen: GWA als Arbeits- oder Handlungsfeld, GWA als Konzept oder Prinzip und GWA als professionelle Tätigkeit. In diesem Projekt und der wissenschaftlichen Begleitung wird von letzter Definition ausgegangen, die auch das GWA Netzwerk Deutschschweiz formuliert: „Gemeinwesenarbeit“ ist eine auf das Gemeinwesen gerichtete professionelle Tätigkeit. Unter der aktiven Mitarbeit der Bevölkerung und dem gezielten Einbezug von Institutionen, Organisationen und weiteren Akteuren trägt Gemeinwesenarbeit dazu bei, die Lebensbedingungen der Bevölkerung, insbesondere jene sozial benachteiligter Gruppen, zu verbessern. Im Laufe des Problemlösungsprozess werden verschiedene Methoden, spezifische Verfahren und Techniken angewendet (GWA Netzwerke Deutschschweiz 2008).

Die „Erzählcafés“ stehen für ein ganz eigenes Konzept der Arbeit mit geflüchteten Frauen in Hannover. Mit theoretischen und praktischen Bezügen zur Gemeinwesenarbeit ist es fachlich vielfältig verankert. Die wesentlichen Eckpunkte sind:

  • eine Ressourcen- und Beteiligungsorientierung mit dem Ziel einer „doppelten Handlungsfähigkeit“ (Holzkamp) der Frauen (vgl. Kalpaka et al. 2017)

  • ein macht-sensibler Umgang in der Gruppe der Frauen mit offenem Diskurs über Begründungen und Widersprüchlichkeiten von Kulturen, Religionen, Organisationen, Hierarchien, Rollen (vgl. Boulet et al. 1980; May und Stock 2019; Alisch und May 2017)

  • Projekt- und Gruppenleitung vertreten ein humanistisch aufgeklärtes Menschenbild und stellen Bezüge zu Grund‑, Sozial- und Menschenrechten her (vgl. Staub-Bernasconi 2019a)

  • die Zusammenarbeit in den Erzählcafés wird als Bildungsarbeit und entlohnte Tätigkeit verstanden. Frauen entwickeln sich stufenweise über Ermutigung und Förderung zu Macherinnen oder Multiplikatorinnen und bleiben nicht nur Teilnehmerinnen und Adressatinnen (vgl. Bitzan und Bolay 2017; Oehler 2018).

  • Bildungsarbeit zur Demokratieentwicklung im Gemeinwesen, wie hier angewandt, gehört schon seit den Anfängen der Gemeinwesenarbeit zu den fachlichen Grundlagen Sozialer Arbeit dazu (vgl. Addams 1935; Freire 1973; Ries 1995; Bitzan und Klöck 1993; Staub-Bernasconi 2007, 2019b; Stövesand 2019 und Oehler 2018).

Beispiele für die Öffentlichkeitsarbeit der Frauen der Erzählcafés:

Das Projekt wird von den Sozialarbeiterinnen sowie von den Frauen der Erzählcafés als Erfolg gewertet. Für die Letztgenannten ist es ein bedeutsamer Baustein im Alltag und schafft Raum für Entwicklung und Selbstwirksamkeit. Noch mehr Einblick in die Arbeit der Erzählcafés und Zitate der interviewten Frauen bietet der bereits erschienene Bericht, einsehbar unter https://serwiss.bib.hs-hannover.de/frontdoor/index/index/docId/2130.