1 Einleitung

Alle, die den Zweiten Weltkrieg nicht miterlebt haben – und das sind heute doch die meisten – konnten sich bis zur Corona-Krise der Illusion hingeben, dass es in unserer Welt mit rationalen Dingen zugeht, dass wir einen immer höheren Grad der Zivilisation erreichen und dass die irrationalen Elemente des Menschen mehr und mehr in den Hintergrund treten. Spätestens mit der Corona-Krise und der Pandemie zeigt sich allerdings, dass die irrationalen Aspekte unseres Daseins nicht nur nicht verschwunden sind oder zurückgedrängt wurden sondern im Gegenteil: Sie brechen im großen Stil wieder auf und schalten die zivilisatorischen Entwicklungen zurück oder drängen sie zumindest in den Hintergrund.

Ich vermute, dass der Grund dafür im evolutionären Erbe unseres Gehirns liegt. Es ist im Laufe der Entwicklung des Homo sapiens bis zum heutigen Höhepunkt angewachsen und hat eine Vernunft entwickelt, die in der Lage ist, unser Handeln zu kontrollieren; mithilfe des sogenannten präfrontalen Kortex können wir denken, handeln und die alten und uralten Verhaltensmuster unterdrücken, die bei unseren Vorfahren in der tiefen Vergangenheit ihren Sinn hatten. Wie sich heute herausstellt, sind diese Verhaltensmuster aber nur unterdrückt und nicht verschwunden. Sie sind in unserem Gehirn nach wie vor gespeichert und können unter bestimmten Bedingungen wieder hervorkommen. Diese Bedingungen sind zum Beispiel eine affektive Aufrüstung: Wenn wir Angst haben (panisch sind), uns ärgern (blind vor Wut), aber auch wenn wir uns freuen (blind vor Liebe), dann fallen wir auf manche alten Muster zurück. Unsere Vernunftkontrolle setzt aus und wir agieren offenbar wieder so wie unsere Vorfahren seinerzeit in der Steinzeit. Damals, vor tausenden, vor hunderttausenden, vor Millionen Jahren hatten diese Muster einen guten Sinn. Heute sind sie sehr oft kontraproduktiv und werden zurecht unterdrückt, um unser Zusammenleben, das heute nach anderen Regeln stattfindet als damals, zu ermöglichen (ausführliche Darstellung dieser These siehe Schwarz 2019a).

Phylogenetisch betrachtet hatten Panikreaktionen einen Sinn: Wenn unsere Vorfahren in Gefahr gerieten, zum Beispiel von einem Raubtier verfolgt wurden, dann war es sinnvoll zu flüchten; je schneller, desto besser. Dabei hatten die Schnellsten die besten Überlebenschancen, also jene, bei denen in Gefahrensituationen der gesamte Organismus automatisch auf rasche Flucht schaltete. Bestimmte körpereigene Substanzen wurden ausgeschüttet, alle Kraft auf die Flucht verwendet usw. Es war sozusagen der Natur zu gefährlich, die Menschen in einer Gefahrensituation auch noch denken zu lassen.

Je höher die Zivilisationsentwicklung wurde, desto seltener war es hilfreich, ohne Denken in Panik zu geraten. Wenn also Menschen heute an der Börse Geld anlegen und beim Fallen der Kurse in Panik geraten und verkaufen, dann handeln sie nicht vernünftig, sondern irrational, weil hier vermutlich die Angst überwiegt. Die umgekehrte Panikreaktion tritt als Gier auf: Je höher die Kurse steigen, desto mehr wird an der Börse gekauft. Die meisten Menschen kaufen, wenn die Kurse am höchsten sind und verkaufen, wenn die Kurse am tiefsten sind. Dies ist aber rational gesehen völlig unsinnig. Wenn die Kurse fallen, müsste man kaufen, denn es wird immer billiger, und wenn die Kurse steigen, müsste man verkaufen. An so einem Phänomen zeigt sich beispielhaft, wie sehr die Menschen immer noch in steinzeitlichen Mustern verhaftet sind, die gewissermaßen irgendwie nicht in die moderne Zeit passen.

2 Corona-Krise, Angst und der Ruf nach Autorität

Auslöser für einen Rückfall in archaisches, unkontrolliertes Verhalten wie bei Panikreaktionen können alle Situationen sein, in denen Menschen Angst haben. Angst bekommt man, wenn wir über die uns betreffenden Ereignisse keine Kontrolle haben. Das trifft bei Krisen aller Art zu – bei wirtschaftlichen, politischen, gesundheitlichen Krisen und eben auch bei Pandemien.

Aktuell beschäftigt uns die Corona-Krise. Wir blicken staunend auf das Verhalten vieler unserer Mitmenschen und beobachten, dass hier so einiges irrational, unvernünftig oder realitätsfern erscheint. Einige „neue“ Verhaltensphänomene sind meines Erachtens besonders auffällig:

  • Der Ruf nach Autorität

  • Lügen und Verschwörungstheorien

  • Konformitätsdruck

  • Auseinanderdriften von Arm und Reich

  • Gewaltbereitschaft

  • territoriale Verteidigung

  • Hass im Netz

Es ist naheliegend anzunehmen, dass hier archaische, steinzeitliche Verhaltensformen wirksam sind. Betreffend Angst und Autorität konnte ich selbst in der Wildnis in Afrika ein interessantes Phänomen beobachten (worüber auch die Verhaltensforscher berichten): Es gibt in jeder Affenhorde eine Alpha Position. Dieses Alphatier ist wichtig für das Überleben der ganzen Gruppe. Affen schlafen meist in den Bäumen; besonders gefährlich sind Leoparden, die sich in der Nacht anschleichen. In der Alphaposition ist jener Affe, der am besten hört und der als erstes das Anschleichen eines Leoparden bemerkt. Seine Reaktion: er flüchtet. Die anderen Mitglieder der Horde flüchten mit ihm. Diese Gefolgschaft ist bedingungslos und blindlings. Wenig Überlebenschancen hätte die Gruppe, wenn sie – in einer fiktiven Überspitzung – zunächst eine Konferenz einberufen würde mit Tagesordnungspunkten wie etwa: Täuscht sich der Alpha vielleicht? Flüchtet der Alpha in die richtige Richtung? Gibt es Alternativen zur Flucht? In so einem Szenario würde der Leopard ohne Schwierigkeiten seine Beute machen, und mit der Zeit würde die Gruppe der Ausmerze anheimfallen. Das archaische Grundprinzip der Primaten lautet – auf den Menschen übertragen: Führer befiehl, wir folgen dir! Maßgeblich für diese Gefolgschaft ist in dieser lebensbedrohlichen Situation natürlich die Angst der Gruppe, dass – wenn sie dem Alpha die Gefolgschaft verweigern – höchstwahrscheinlich jemand aus der Gruppe getötet würde.

Dieses Grundprinzip, in Angstsituationen einem „starken“ Führer zu folgen, um Orientierung und Sicherheit zu gewinnen und um Angst zu minimieren, hat sich durch die Geschichte hindurchgezogen. Auch wir moderne Zivilisationsmenschen können bei Unsicherheit wieder auf dieses Muster zurückfallen. Ob es starke politische Autoritäten sind oder Wissenschafter*innen, die wissen, um welche Art von Krankheiten es sich handelt und wie man sie bekämpfen kann – die Menschen wollen aus der Unsicherheit heraus zu mehr Sicherheit kommen. Der Ruf nach Autorität zeigt sich aber nicht nur in der Politik und der Öffentlichkeit, auch in Organisationen höre ich immer wieder Statements wie: „Meine Mitarbeiter*innen haben freie Hand, Entscheidungen zu treffen. Trotzdem kommen sie jetzt immer häufiger zu mir, um zu fragen und sich abzusichern“. Autorität ist offenbar in Zeiten von Unsicherheit wieder mehr gefragt.

Das Prinzip der Autorität wird am Affenbeispiel unmittelbar veranschaulicht – metaphorisch gesprochen: Die Richtung, in der der Alpha-Affe läuft, ist die richtige. Auf menschliche soziale Systeme übertragen heißt das: Was eine Autorität sagt, ist somit geltende Wahrheit. Solange diese Wahrheit erfolgreich ist, wird auch niemand an ihr zweifeln. Mit der Entwicklung der Sprache und später in der neolithischen Revolution mit der Entwicklung von Hierarchien werden die Autoritäten an der Spitze mit immer mehr Superlativen ausgezeichnet: Sie sind allmächtig, allwissend, allgegenwärtig, allweise usw. Die Metapher dafür ist der Sitz der Autoritäten an den höchsten Punkten, auf denen sie am besten beobachten können und den größten Weitblick haben. Das sind ursprünglich Bäume oder Hügel, von denen aus die Alphatiere diesen Überblick gewinnen und zum Beispiel warnen können, wenn sich Feinde (Raubtiere) nähern. Später sind das die höchsten Berge, auf denen die Götter wohnen oder eben dann (im Monotheismus) der Himmel, in dem Gott wohnt; von dort aus sieht er alles und kann daher auch eine vollständige Kontrolle über das Verhalten der Untertanen erreichen. Gott ist eine Universalmetapher für Autorität. In vielen Organisationen ist dieses Muster bis heute wirksam. So residiert oft die Geschäftsleitung oder der Vorstand eines Unternehmens im obersten Stockwerk eines Hauses (die „Axiome der Hierarchie“ habe ich an anderer Stelle ausgeführt, siehe Schwarz 2019b).

Dieser Ordnungsbegriff – nämlich Ordnung als Über- und Unterordnung – wurde seit der Erfindung der Pyramiden über die Jahrhunderte weiterentwickelt; er hat sich dabei auch als universelle Denkform etabliert. An der Spitze der heiligen Ordnung (griechisch: Hierarchie) steht seit den Ägyptern der Pharao. Pharao heißt wörtlich übersetzt: Herr der Geheimnisse. Nachdem die Untertanen jeweils an die zentralen Positionen – an ihre Vorgesetzten – ihre Informationen weitergaben, gibt es eine einzige Position, die alles weiß, nämlich jene, die sich im Zentrum bzw. an der Spitze der hierarchischen Pyramide befindet. Damit ist das archaische Muster von der Alpha Position, die alles weiß und der daher mehr oder weniger blindlings und bedingungslos zu folgen ist, institutionalisiert. Dieses Informationsmonopol mit dem Zweck der Kontrolle ist heute im digitalen Zeitalter technisch wahrscheinlich schon perfekter gelungen als es in der Phantasie unserer Vorfahren noch gedacht wurde.

3 Erosion der Autorität, Verlust von Sicherheit und Verschwörungstheorien

Die hierarchische Ordnung hat weitere Konsequenzen: Wenn das, was die Autorität sagt, somit grundsätzlich als Wahrheit definiert werden muss, dann erkennt man schon, dass Lügen (fake news) sowohl ein Herrschaftsinstrument der Autorität darstellen als auch eine Möglichkeit, gegen die Autorität Widerstand zu leisten. Wenn die Götter oder ein Gott oder eben Autoritäten wirklich allmächtig sind, dann ist es auf der anderen Seite auch klar, dass sie für Unglücksfälle verantwortlich zeichnen. Die Menschen haben gerade auch für Pandemien immer höhere Gewalten verantwortlich gemacht: Die Pest kam bei den Griechen, weil Apollo seine Pestpfeile auf bestimmte Menschen schleuderte, die die Krankheit dann weitergaben. Gott schickte im Mittelalter die Pest als Strafe für die Verfehlungen der Menschen. Auch reiche Menschen oder Außenseiter der Gesellschaft wurden oft verantwortlich gemacht; so vermutete man im Mittelalter, dass die Juden die Brunnen vergiftet hätten, wodurch die Pest entstand. Heute ist in manchen Verschwörungstheorien etwa Bill Gates für das Coronavirus verantwortlich.

Begünstigt werden heute die Verschwörungstheorien durch die Möglichkeit, sich global virtuell zu vernetzen; das Internet hat hier neue Kommunikationsräume eröffnet. Es ist ganz leicht, in den sozialen Medien rasch Gleichgesinnte zu finden, die sich dann gegenseitig bestätigen und manchmal sogar in einem relativ geschlossenen Regelkreis ihren Mitgliedern den Eindruck vermitteln, dass alle – nämlich alle, mit denen sie kommunizieren – derselben Meinung sind. Der Konformitätsdruck verstärkt dann die Wahrheitsfindung in einer größeren Gruppe. Statt der Geister und Dämonen, die unsere Vorfahren noch für Unglück der verschiedensten Art verantwortlich machten, glaubt man heute etwa an 5G-Strahlen, an anonyme Eliten oder Konzerne, den man unterstellt, dass sie die Menschen manipulieren.

Das archaische Muster hier lautet: Ich fühle mich sicherer, wenn ich weiß, woher ein Unglück kommt und wer dafür verantwortlich ist. Dieses Muster ist in der Menschwerdung schon relativ frühzeitig aufgetreten und hat eigentlich die zivilisatorische Höherentwicklung erst ermöglicht. Nur wenn ich die Ursache kenne, kann ich einen Prozess beeinflussen und mir die „Erde untertan machen“. Wie Untersuchungen in der Gegenwart gezeigt haben, ist es für die Menschen wichtiger, mithilfe von Informationen, an die sie glauben, Sicherheit zu gewinnen als die wahrheitsgemäßen Informationen zu haben. Das archaische Muster lautet: Sicherheit geht vor Wahrheit, denn Angst (=Unsicherheit) hindert am Handeln.

Ein schönes Beispiel für dieses Muster liefern in der Gegenwart die Versicherungsgesellschaften. Versicherungen sind – sozialphilosophisch betrachtet – ein Unglücksvermeidungszauber. Ist man versichert, so hat man den Vorteil, dass man im Schadensfall aufgrund des Risikoausgleichs den Schaden oder zumindest einen Teil davon wieder ersetzt bekommt. Aber vermeiden kann die Versicherung den Unfall nicht. Es ist dies das archaische Muster des Opfers: Man führt einen kleinen Anteil des Schadens selbst herbei und damit verschwindet die Angst. Versicherungen sind also nicht das Geschäft mit der Angst, sondern das Geschäft mit der Vermeidung der Angst. Indem nämlich ein kleiner Schaden in Form der Versicherungsprämie herbeigeführt wird, können über den Risikoausgleich große Schäden minimiert werden. Bei manchen Menschen wird beim Autofahren etwas zu viel Angst weggenommen, was mitunter zu riskanterem Fahrverhalten führt.

Angstvermeidung und Sicherheitsbedüfnisse sind auch bei der Entstehung von Verschwörungstheorien ganz wesentliche Triebkräfte. Hier kommt hinzu, dass heutige soziale Medien Gruppenbildungen sehr leicht machen und schnell die Illusion aufkommen lassen, sich zu einer (virtuellen) Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Menschen, die sich hier gegenseitig in einer Art synthetischen Gruppierung über das Internet in ihrer Meinung bestätigen, fühlen sich offenbar sicherer durch die in der Gruppe vorhandene Konformität. Der Konformitätsdruck in einer Gruppe oder einer Organisation ist auch ein interessantes archaisches Muster. Über sehr lange Zeit hinweg war die Einheit einer Gruppe eine Bedingung ihres Überlebens oder zumindest eine Begünstigung. Gruppen, die in sich uneins waren, konnten sich unter Konkurrenzbedingungen nicht gegen Gruppen durchsetzen, die vereint agierten. Daher gab es das Muster, Außenseiter zu bekämpfen und im Extremfall auch auszuschließen oder zu töten. Es war damals gefährlich, etwas besser zu wissen als die Autorität, also zum Beispiel in eine andere Richtung zu rennen als die Alpha Position vorgab. Wer es besser wusste, musste des Todes sterben – modern gesprochen: Der Ausschluss aus einer Gruppe bedeutete den sozialen Tod. Dieses Ur-Mobbing hatte eine sozial-konstitutive Funktion; durch Ausschluss einzelner konnte die Einheit der Gruppe gewährleistet werden.

Wenn heute das Phänomen Mobbing auftaucht, so ist also anzunehmen, dass hier ein „Rückfall“ auf das archaische Muster der Veraußenseiterung vorliegen könnte. Ich habe mich bei Mediationen und Konfliktmanagement in Mobbingsituationen oft gewundert, wieso die Gemobbten relativ rasch die ihnen zum Vorwurf gemachten Verhaltensweisen auch tatsächlich auszuüben begannen. Wenn man ihnen etwa vorwarf, keine Information zu geben, weil man ihnen gegenüber misstrauisch wäre, dann gaben sie relativ rasch tatsächlich keine Informationen, was wiederum das Misstrauen erhöhte. Man gab seinerseits den Gemobbten keine Informationen – was deren Misstrauen bestätigte und sie veranlasste, noch weniger Informationen weiterzugeben usw. Dabei sind, wie ich feststellen konnte, Mobbingopfer oft wichtige Spezialist*innen, zum Beispiel im IT-Bereich, die die Gruppe wirklich notwendig brauchen würde. Aber das archaische Muster, die Einheit einer Gruppe aufrechtzuerhalten, ist anscheinend wichtiger als die rationale Einsicht in die Kompetenz des Außenseiters.

Ab einem bestimmten Komplexitätsgrad im Zivilisationsprozess – ich vermute, dass dies mit dem ersten Habitatswechsel unserer Vorfahren aufgetreten ist – konnte die Alpha-Position nicht mehr alles wissen und einzelne Mitglieder der Gruppe verfügten über Informationen, die die Alpha-Position nicht besaß. Ab hier setzten sich in der Evolution jene Gruppen durch, in denen Widerspruch nicht mit dem Tode bestraft wurde, sondern wo er erlaubt oder sogar geboten wurde. Damit ist ein neues Zeitalter angebrochen, denn Widerspruch gegen die Autorität widerspricht dem archaischen Muster des Führer, befiehl – wir folgen dir. In Krisensituationen, wie sie bei Bedrohungen von außen etwa durch Kriege oder eben durch Pandemien entstehen, fallen wir wieder zurück auf das archaische Muster, dass Widerspruch als kontraproduktiv erlebt wird.

In vielen Organisationen, in Unternehmen aber auch zunehmend in Bürokratien wird diese Dialektik zu einem großen Problem. Denn die Kompetenzumkehr – die Tatsache, dass Mitarbeiter*innen oft mehr von einer Sache verstehen als ihre Vorgesetzten – führt dazu, dass im Konfliktfall Untergebene von der Sache her Recht haben, der Chef oder die Chefin aber vom System her, also qua Funktion. Damit entsteht ein Dilemma: Lässt man Kritik zu, dann schadet dies der Vorgesetzen-Autorität. Denn wer kritisiert, setzt sich mit der Position der Oberen mindestens gleich oder sogar darüber, wenn er es wirklich besser weiß. Lassen Vorgesetzte aber keine Kritik zu, schaden sie damit der Sache. In autoritären Systemen ist daher der „kreative Dienst nach Vorschrift“ oft schon eine Art Volkssport geworden.

Diese Dialektik zeigt sich ganz besonders stark in der Corona-Krise: Lässt man keinen Widerstand gegen angeordnete Maßnahmen zu, fühlen sich die Menschen unterdrückt und leisten unter Umständen noch mehr Widerstand. Lässt man aber Widerstand zu – und in der modernen Form eben individuelle Freiheiten – dann gelingt es nicht, die Pandemie einzudämmen. Wir erleben hier den Rückfall auf die vor-sündenfällige Existenz der Einheit einer Gruppe. Diese Dialektik lässt sich auf der ganzen Welt im Zusammenhang mit dem Führungsstil von politischen Parteien beobachten. Bewältigen Diktaturen die Pandemie besser als Demokratien? Diese Frage wird heute am Beispiel Chinas immer wieder aufgeworfen.

4 Soziale Polarisierung: arm versus reich, Leistung versus Bedürfnisse

Ebenfalls zu den Folgen der Corona-Krise zählt man heute das stärkere Auseinanderdriften von Arm und Reich oder besser gesagt von Erfolgreicheren und weniger Erfolgreichen. Denn Arm und Reich ist nur ein Spezialfall des allgemeinen Musters: „Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.“ (Matthäus 25, 29) Hier wird in einem Gleichnis von einem Dienstherrn berichtet, der sein Geld gleichmäßig an drei Mitarbeiter verteilte, bevor er verreiste. Er gab den Auftrag, das Geld zu vermehren bis zu seiner Rückkehr. Als er zurückkehrte, hatte der erste den zehnfachen Ertrag erwirtschaftet, der zweite den fünffachen, der dritte aber hatte das Geld vergraben und gab das Nominale ohne Zinsen an den Herrn zurück. Dieser wurde wütend, kritisierte den Dritten, ordnete an, das Geld dem Dritten wegzunehmen und dem Ersten zu geben.

Das Bibelzitat aus dem Matthäus Evangelium beschreibt ein klassisches Muster der Evolution, das uns heute denkbar ungerecht vorkommt. Es ist aber nur ungerecht, wenn man es vom Standpunkt der Bedürfnisgerechtigkeit betrachtet. Bedürfnisgerechtigkeit bedeutet, dass der mehr bekommt, der mehr braucht. Dies ist zum Beispiel das kleine Kind, das mehr Zuwendung von der Mutter braucht als das größere. Als gerecht wird aber auch die Leistungsgerechtigkeit empfunden: Es bekommt mehr, wer mehr leistet, also zum Beispiel das Kind, das in der Schule die besseren Noten bekommt. Dieses Muster sehen wir in unserer Welt überall – es führt zu Akkumulation von Vermögen, Konzentration von ökonomischen Ressourcen und folgt dem Ausdehnungsprinzip. Man findet dieses Phänomen auch in der Wissenschaft: Wer gute und plausible Antworten hat, wird für Informationen in den Medien eher herangezogen (ausführlich dazu die systematische Abhandlung der Religion des Geldes, Schwarz 2016).

Dieses archaische Muster der zwei Gerechtigkeiten, die einander widersprechen, musste und muss in der Zivilisationsentwicklung immer neu ausbalanciert werden. Die Leistungsgerechtigkeit hat das Prinzip Konkurrenz zur Grundlage, die Bedürfnisgerechtigkeit das Prinzip Kooperation. Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem beruht auf einem kompetitiven Mechanismus – hier überwiegt das Konkurrenzprinzip gegenüber dem Kooperationsprinzip. In der Corona-Krise stellt sich allerdings heraus, dass diese nicht mit dem Konkurrenzprinzip bewältigt werden kann, jedenfalls nicht mit diesem allein. Vielmehr sind Kooperation und Solidarität gefordert, ebenso die Priorität der Gesundheit vor Ökonomie, um die Pandemie einzudämmen. Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung, so ist wohl damit zu rechnen, dass viele (kleine) Unternehmen nicht überleben, viele Konkurse sind vorprogrammiert. Hier wird mit Recht verlangt, dass die Öffentlichkeit im Sinne des Bedürfnisprinzips gegengesteuert, denn die Pandemie verstärkt das Muster Survival of the fittest. Hier wird übrigens auch ganz deutlich, dass der Gewinn eines Unternehmens nicht nur Privatsache des Unternehmers sein kann, sondern dass eine Gewinnreserve für das Überleben des Unternehmens in Krisenzeiten notwendig ist. Haben Unternehmen heute zu wenig Reserven angesammelt, dann muss der Staat einspringen und gegen das Konkurrenz-Muster gegensteuern.

(Gesellschafts‑) Politisches Gegensteuern ist überhaupt ein Prinzip, das aktuell und in Zukunft wohl noch mehr gefordert sein wird. Ein eindrückliches Beispiel für eine Regelungsproblematik ist der Hass im Netz. Es fällt auf, dass hier viele Menschen auf alte Muster zurückfallen, weil es bisher keine Kontrolle gab: In der Anonymität lassen sie den Emotionen freien Lauf. In Gruppierungen, in denen der Mensch als Mitglied einer Sozietät lebt und ständig beobachtet und kontrolliert wird, ist so etwas wesentlich seltener. Angesichts dieser neuen globalen Möglichkeiten könnte man sentimental werden, getreu dem Motto: Wie schön war die Zeit, in der es in jedem Dorf nur einen Trottel gab! Heute vervielfältigen sich die Bedingungen der Möglichkeiten zur sogenannten freien Meinungsäußerung in den sozialen Medien, die allerdings auch Shitstorms, Hetzkampagnen und Cybermobbing exponentiell kollektivieren. Die soziale Kontrolle zur Unterdrückung des Ausagierens unangemessener und asozialer Emotionen muss hier erst den neuen technologischen und vor allem den demokratischen Standards (z. B. Minderheitenschutz, Schutz der Persönlichkeitsrechte) angepasst werden. Dies gilt auch für den Kleptoparasitismus; Diebstahl als Form der Ressourcenoptimierung gab es immer schon. Aber heute erreicht er im Rahmen einer unkontrollierbaren Technologie wieder einen neuen Höhepunkt.

Einen deutlichen Rückfall erleben wir auch in dem archaischen Muster der territorialen Verteidigung. Jede Gruppierung – schon im Tierreich aber natürlich dann auch bei den Primaten – braucht für ihr Überleben ein Territorium mit einer bestimmten Größe. Die Größe hängt von der Art der Nahrungsbeschaffung ab. Das größte Territorium brauchte der Homo sapiens als Jäger. Wenn eine Gruppe sehr erfolgreich war und viele Tiere bei der Jagd erlegt hatte, verringerte sich der Tierbestand und sie musste ihr Territorium vergrößern. Aber dort trafen die Jäger ebenfalls auf Menschen, die ihrerseits ihr Territorium verteidigten. Dadurch entwickelte sich das Muster der territorialen Aggressivität. Die größten Überlebenschancen hatten jene Gruppen, die gegenüber territorialen Eindringlingen maximale Aggressivität entwickelten. Die toleranten Gruppen, die gastfreundlich im heutigen Sinn waren, gehören vermutlich nicht zu unseren Vorfahren. Das Muster der territorialen Aggressivität, zieht sich durch die ganze Weltgeschichte. Die zivilisatorische Höherentwicklung brachte aber eine Wende, wodurch es möglich wurde, dass eine immer größere Anzahl von Personen in einem immer kleineren Territorium Überlebenschancen hatte. Die Jäger brauchten noch das größte Territorium. Schon viel kleiner konnte es für die Viehzüchter sein, und noch kleiner für die Ackerbauern. Diese hatten allerdings den Nachteil, dass sie beim Auftauchen von Feinden nicht einfach wegziehen konnten, sondern ihr Territorium verteidigen mussten. Seit damals hat es Sinn gemacht, Grenzen zu definieren. Bis heute erleben wir die häufigsten und emotional stärksten Konflikte im Bereich von Grenzverletzungen und Nachbarschaftskonflikten. Weiten sie sich aus, so führen sie auch zu Kriegen. Wenn hingegen Grenzen respektiert werden, verhindern sie auch die Bildung größerer Einheiten, wie das etwa heute die kapitalistische Wirtschaft verlangt. Daher bildeten sich sukzessive verschiedene Formen von Staatsvereinigungen hin zu größeren Wirtschaftsgebilden. Dies führte zu einem großen Aufschwung, weil dies eine bessere Form der Arbeitsteilung und einen weitläufigeren Handel ermöglichte.

Durch die Pandemie gewinnen heute die Grenzen plötzlich wieder eine brisante Bedeutung und die alten archaischen Muster kommen zum Vorschein. Wir können beobachten, dass die Globalisierung zugleich ihre Gegenbewegung erzeugt – die Regionalisierung. Tatsächlich gelingt es verschiedenen Staaten – zum Beispiel Neuseeland – durch Abschottung ihres Territoriums der Pandemie zu entkommen (bis jetzt jedenfalls).

5 Archaische Muster und Konfliktlösungen

Wenn meine Thesen zutreffen – dass archaische Muster heute sozusagen in einem neuem Gewand erscheinen – so stellt sich die Frage, wie man damit umgehen soll. Wie können diese Phänomene der kollektiven Regression verstanden und handhabbar werden?

Zunächst ist jeweils zu prüfen, welchen Gesetzmäßigkeiten solche Regressionen unterliegen. Ich möchte das am Beispiel der Konfliktlösungen demonstrieren. Ich habe vielfach festgestellt, dass diese Rückfälle bei Konflikten, die im Allgemeinen einen sehr hohen affektiven Anteil haben, von einer Stufe der Konfliktlösung zu einer anderen Stufe der Konfliktlösung verschoben werden. Ich habe hier sechs Stufen der Konfliktlösungen im Laufe der Menschheitsgeschichte entdeckt, die die zivilisatorische Höhe der Entwicklung widerspiegeln (Schwarz 2014).

Die unterste Stufe ist die Flucht. Schon etwas höher entwickelt ist der Kampf. Dieser Übergang dürfte in der Feuerrevolution der Menschheitsgeschichte stattgefunden haben. Es musste ja die menschliche Psyche, die auf Flucht programmiert war, auf Aggression umgepolt werden. Denn Jäger rennen nicht vor ihrer Beute davon, sondern ihr nach. Wie macht man also aus einem Feigling einen Helden? Dies geschieht aufgrund des großen Gehirns und der Erzeugung von Werkzeugen, die man als Waffen verwenden kann. Männer schlossen sich in Jagdgruppen zusammen. Als Individuen sind wir Männer bis heute noch immer die Feiglinge, die wir immer schon waren, aber in der Männergruppe sind die Männer stark. Diese Jagdgruppe läutete eine große Epoche der Menschheitsgeschichte ein. Die nächste Stufe nach dem Kampf und der Vernichtung eines Gegners ist die Unterwerfung des Gegners, ohne ihn zu töten; wenn man stark und bewaffnet ist, kann man natürlich nicht nur Tiere jagen, sondern auch Feinde bekämpfen. Damit kann eine Kooperation mit einem Verhältnis Herren-Sklaven entwickelt werden.

Diese Obertanen-Untertanen-Situation ist im Wesentlichen mit der neolithischen Revolution, also der Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht und der Entwicklung von Hierarchien entstanden. Konflikte werden dann an eine jeweils höhere Stelle im Rahmen einer Hierarchie delegiert. Wird das institutionalisiert, so entwickelt sich ein Rechtssystem. Der Nachteil dabei ist, dass die bei den Konfliktparteien die Entscheidung, wer Recht hat, an eine Instanz delegieren, die damit nichts zu tun hat und darin auch nicht kompetent ist. Die nächste Stufe verbesserte diesen Mangel – es kam zur Entwicklung von Kompromissen und schließlich von Konsenssystemen.

Individuelle und kollektive Regression bedeutet jedoch, den umgekehrten Weg der Höherentwicklung zu gehen. Wir fallen von der erreichten zivilisatorischen Stufe der Konsenslösung zurück auf die archaischen Lösungsmuster. Dabei gibt es eine wichtige Gesetzmäßigkeit: Wenn die beiden Kontrahenten sich nicht auf derselben Stufe befinden, schlägt die jeweils niedrigere Stufe als stärkere zu. Ich selbst konnte das lange Zeit nicht akzeptieren, weil es mir extrem ungerecht vorkommt, aber das scheint eine Art soziale Gesetzmäßigkeit zu sein. Das bedeutet dementsprechend, dass zwei Kontrahenten nur dann einen Konsens finden können, wenn beide konsenswillig und konsensfähig sind. Ist einer der beiden entweder nicht konsensbereit oder auch nicht in der Lage, einen Konsens zu finden, dann kann man mit ihm nur Kompromisse machen; dies ist jedoch ein Rückfall auf eine frühere Stufe.

Aber auch beim Kompromiss brauchen wir Kompromissbereitschaft und Kompromissfähigkeit. Ist eine der beiden nicht vorhanden, dann kann man wieder nur zu Gericht gehen und den Konflikt an eine Autorität delegieren. Ist man auch damit nicht einverstanden, fällt man zurück auf das System der Über- und Unterordnung ohne Vermittlung eines Dritten wie einen Richter. Das bedeutet, dass sich die stärkere Position – in welcher Hinsicht auch immer – durchsetzt. Wenn man sich aber auch dem Stärkeren nicht unterordnen will, muss man den Kampf riskieren entlang der Dialektik: lieber tot als Sklave. Der Ausweg aus dieser Vernichtungslösung lautet natürlich: lieber Sklave als tot. Will man auch diese Lösung nicht akzeptieren – also nicht den Kampf um die Freiheit riskieren, kann man nur noch davonlaufen. Flucht (physisch wie psychisch) ist also die letzte und unterste Stufe und damit das letzte archaische Muster, auf das wir in dieser Regressionskaskade zurückfallen.

Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass eine Lösung nur dann möglich ist, wenn die beiden Konfliktparteien bereit sind, sich auf eine gemeinsame Stufe zu begeben. Wenn die einen in den Panzern sitzen und die anderen am Verhandlungstisch, dann gewinnen die in den Panzern, weil die primitivere Konfliktlösung, nämlich die Vernichtung, stärker ist als die zivilisatorisch höherentwickelten Lösungen, nämlich Kompromiss- oder Konsensbereitschaft. Beide Seiten befinden sich schließlich auf derselben Stufe – auf der Stufe der Vernichtung. Im Zuge meiner beraterischen Tätigkeit mit Gruppen und Organisationen habe ich immer wieder insbesondere beim Konfliktmanagement mit solchen Rückfällen zu tun gehabt. Ich versuchte natürlich meist die auf einer archaischen Stufe befindlichen Konfliktparteien zu höherwertigen Lösungen zu führen, da die primitiveren archaischen Muster sehr oft, aber nicht immer, für alle Beteiligten große Nachteile gehabt hätten. Übrigens argumentieren Politiker*innen beim sogenannten Brexit ganz ähnlich: Ein Kompromiss – so wurde gesagt und dann auch beschlossen – sei allemal besser als eine Trennung ohne Deal. Denn in diesem Fall wäre es eine Flucht aus der europäischen Gemeinschaft mit unabsehbaren Konsequenzen.

6 Überlegungen zum Umgang mit der Corona-Krise

Es ist naheliegend davon auszugehen, dass die gegenwärtige Corona-Krise am besten bewältigt werden kann, wenn diese Art von Regressionen kontrolliert ablaufen oder jedenfalls bald wieder unter Kontrolle gebracht werden können. Aber wie bringt man archaische Muster unter Kontrolle? Was muss man tun, um die zivilisatorische Höherentwicklung zu sichern bzw. zu stärken? Die Antwort ist ebenso naheliegend – man sollte diejenigen Elemente stärken und entwickeln, die zur Höherentwicklung der Zivilisation geführt haben. Das ist die Vernunft des Menschen, die in der Lage ist, Zusammenhänge zu reflektieren. Hier können wir uns auf das Erbe der Aufklärung stützen, wonach wir in der Lage sind, mithilfe des Denkens Orientierung zu finden, um komplexe Situationen und deren Zusammenhänge zu verstehen und verändern zu können.

Menschheitsgeschichtlich betrachtet ging die Entwicklung der sogenannten Vernunftbegabung mit der Entwicklung der Sprache einher. Mithilfe der Sprache kann eine Metaebene über der Realität erreicht werden, in der es möglich ist, sich gefahrlos zu irren. Solange wir über etwas diskutieren und noch nicht in die Realität umsetzen (probehandeln), ist noch nichts passiert. Als Konfliktintervention gilt es, die Situation zu kommunizieren und die Reflexion über die Zusammenhänge voranzutreiben. Dies geschieht in der Pandemie, wie wir sie aktuell erleben, durch die verschiedenen Kommunikationsmedien, in denen über Zusammenhänge reflektiert wird. Dabei ist größtmögliche Transparenz sowie auch jede mögliche Kritik notwendig. Je eingeschränkter der Horizont der Diskussion ist, desto schlechter kommt man wieder zur Höherentwicklung.

In meiner praktischen Arbeit, vor allem bei Konfliktberatungen habe ich hier meistens die Vor- und Nachteile einer möglichen Lösung diskutieren lassen. Wer zur Lösung Flucht tendiert, indem zum Beispiel Konflikte unter den Teppich gekehrt oder ignoriert werden, der gibt möglicherweise viel auf, wo er aber vielleicht recht hat; hier riskiert man vor allem, dass der Konflikt wiederkommt. Wer aber grundsätzlich auf Vernichtung ausgeht, muss sicher sein, dass er den Konflikt sozusagen gewinnt. Beim Konfliktlösungsmodus Vernichtung muss man immer gewinnen, denn einmal verlieren würde das Ende bedeuten. Aber auch die Unterordnung hat viele Nachteile. Man muss davon ausgehen, dass die vorgesetzte Position immer recht hat, was heute allerdings bei immer komplexeren Situationen immer seltener der Fall ist. Selbst die Delegation an eine höhere Instanz, etwa an ein Gericht, hat Nachteile; man gibt die eigene Konfliktkompetenz auf. Und auch bei Kompromissen muss man oft ziemliche Abstriche machen. Die beste Form wäre eine Konsenslösung, denn hier durchlaufen alle Konfliktparteien einen Lernprozess, als dessen Resultat eine neue Lösung steht, mit der beide Seiten zufrieden sind. Meistens, aber nicht immer, ist es mir gelungen, Konfliktparteien auf höhere Formen der Konfliktlösung zu führen.

Ähnlich sehe ich die Aufgabe der heutigen Politiker*innen – sie sollten die unterschiedlichen Positionen in einer Weise miteinander vermitteln, sodass am Ende möglichst akzeptierte Lösungen herauskommen. Bei der Corona-Krise handelt es sich meines Erachtens um ein komplexes System von miteinander verbundenen, interessensgeleiteten Regelkreisen, die keine monokausalen und schon gar nicht archaische Lösungen sinnvoll machen. In diesem Zusammenhang bekommen die wissenschaftlich legitimierten Fachleute eine besondere Bedeutung, gleichzeitig sind sie aber eben „nur“ Fachleute. Sie sehen die Dinge aus der Sicht ihres Faches und auch mit der Methode ihres Faches. Die Hochspezialisierung ist eine der großen Schwierigkeiten unseres Zeitalters, denn die politisch Verantwortlichen sind einerseits auf die Expertise der Fachleute angewiesen, sie dürfen aber auf der anderen Seite nicht allein den Fachleuten vertrauen, sondern müssen auch den Interessensvertreter*innen der verschiedenen Interessensgruppen vertrauen und ihnen entgegenkommen. Aber auch hier dürfen die Zugeständnisse nicht Überhand nehmen, sondern bedürfen des permanenten Ausgleichs.

Wie schon angesprochen wurde, ist die zivilisatorische Höherentwicklung immer fragil, weil sie durch Destruktivität und Demontage auf niedrigere und somit auch ungewollte Ebenen zurückgeworfen werden kann – das kann man auch an den Diktaturen unserer Welt beobachten. Das auffälligste Phänomen an Diktaturen ist, dass sie keine Kritik dulden, daher verbieten sie sie. Daraus folgt, dass für die Höherentwicklung aber Kritik notwendig ist. Dies gilt übrigens auch für Kritiker*innen. Auch sie müssen kritisiert werden, denn wenn die Kritik etwa im Fall der Pandemie dazu führt, dass Menschen demotiviert werden, sich an Maßnahmen zu halten, dann ist Kritik schädlich. Eine höchst effiziente Form der Äußerung von Kritik sind verschlüsselte Kommunikationsformen, wie Karikaturen und Witze. Der Humor ist eine Art Mittelding zwischen Kritik und Akzeptanz, er hat eine wichtige psychohygienische Funktion. Auch das Ausmaß der Ablehnung von Karikaturen in Diktaturen zeigt, wie wichtig sie sein können (diese Thesen habe ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt, siehe Schwarz 2015).

7 Kollektives Lernen mittels Rückkoppelungsschleifen

Das wichtigste Element für das Herausführen aus regressiven Situationen ist meines Erachtens das Handhaben von Rückkoppelung und ihre Institutionalisierung in Form von Rückkoppelungsschleifen. Sie können aufzeigen, welche Konsequenzen welche Handlungen haben. Aus meiner Sicht sind sie wahrscheinlich der wichtigste Stimulus für Lernprozesse überhaupt.

Gerade die Corona-Krise zwingt uns zu einer Fokussierung auf breite gesellschaftliche Lernfelder, wobei hier die leitende Fragestellung nicht mehr lautet, wie Individuen lernen, sondern wie Gruppen, Organisationen und Systeme lernen. Aktuell hört man des Öfteren von Expert*innen und Politiker*innen, dass man aus der ersten Welle der Pandemie gelernt habe, das zeige sich etwa am Beispiel der Impfstoffpriorisierung. Hier konnte man zunächst beobachten, dass das Problem nicht so sehr darin liegt, dass sich ein junger Mensch ansteckt, einige Male hustet dann wieder gesund ist, sondern dass er Angehörige, insbesondere alte Menschen anstecken kann. Diese kommen in Krankenhäuser oder womöglich dann auf Intensivstationen, die dann zu überlasten drohen. Hier hat man offenbar aus der sogenannten ersten Welle gelernt, welche Personen besonders gefährdet sind und intensivmedizinische Behandlung brauchen (abhängig vom Alter, Vorerkrankungen). Bei den Vorerkrankungen konnte man wieder eine Reihenfolge feststellen, mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Personen welchen Alters mit welchen Vorerkrankungen auf die Intensivstation kommen. Wenn es nun gelingt, diese besonders gefährdeten Personen – die Hochrisikopatient*innen – bevorzugt zu impfen, zusammen mit dem betreuenden Spitalspersonal, dann würden diese Personenkreise sozusagen aus dem gefährdeten Bereich ausscheiden, und dann können auch höhere Infektionszahlen für die übrige Bevölkerung in Kauf genommen werden. Und dann können auch wieder Lockerungen des Lock-downs angedacht werden. Hier zeigt sich also, dass durch das Einbauen von Rückkoppelungsschleifen offenbar ein Lernprozess stattgefunden hat.

Ebenfalls zu sinnvollen Rückkoppelungsschleifen, die die Diskussion auf die Metaebene heben können, gehören meiner Meinung nach die Möglichkeiten, sich virtuell auszutauschen (virtuelle Stammtische). Diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten werden über (soziale) Medien organisiert und müssen natürlich einer gewissen Kontrolle unterliegen.

Viele der heute auftretenden Probleme sind aporetischer Natur. Damit ist zum Beispiel gemeint, dass eine Maßnahme das Gegenteil von dem erreicht, was sie erreichen will. Nehmen wir das oben erwähnten Beispiel: Um zu erreichen, dass sich mehr Menschen an die Regeln halten, wird von politischer Seite entsprechender Druck ausgeübt (Maskenpflicht, Abstand halten, etc.). Die Ausübung der Staatsgewalt wird offenkundig, auch dadurch, dass die Nichteinhaltung der Zwangsmaßnahmen sanktioniert wird (die Präsenz der Polizei gewinnt an Bedeutung). Damit steigt aber auch die Kritik an den politisch Verantwortlichen, die auch noch verstärkt wird, wenn sich die politische Opposition dazu gesellt, was dann insgesamt die De-Motivation massiv steigern kann. Und das führt dann wiederum dazu, dass sich statt mehr Personen immer weniger an die Regeln halten. Das wäre dann eine Rückkoppelung mit negativen Vorzeichen. Im allgemeinen Sprachgebrauch spricht man hier von einem Teufelskreis, mir erscheint es hier treffender, anstelle dieser mythologischen Bezeichnung von einem aporetischen Regelkreis zu sprechen.

Was ist in einem solchen Fall zu tun? Um einen aporetischen Regelkreis zu unterbrechen, ist es zunächst erforderlich, dass er öffentlich diskutiert und reflektiert werden kann. Hier kommt den Medien eine besondere Bedeutung zu (Medium als Vermittlungsinstrument zwischen Expertise und öffentlicher Meinungsbildung). Auch hier sind Rückkoppelungen zu beobachten, etwa wenn politischer Druck durch teilweise Lockerung von Bestimmungen oder Ähnlichem wieder verringert wird. Diese Lernprozesse werden bzw. sollten medial begleitet werden (wie gut dies aktuell gelingt, müsste noch einer eingehenderen Prüfung unterzogen werden, hier sind unterschiedliche Medien bzw. deren Formate zu unterscheiden). Dabei sollten, wie gesagt, sehr viele Rückkoppelungsschleifen eingezogen werden, so dass es möglich ist, dass ein möglichst breites Spektrum von Expertisen nicht nur vermittelt wird, sondern auch in einen Austausch mit Betroffenen gebracht wird. Das geschieht z. B. in TV-Sendungen, wenn ein Virologe auftritt, der Fragen aus dem Publikum beantwortet (zum Beispiel, wie er die Steigung der Infektionszahlen erklären würde). Der Virologe antwortet auf diese Frage, dass es drei Gründe gäbe; erstens, dass wir mehr testen, zweitens gäbe es mehr Mutationen und drittens sei dies eine Folge der Lockerungen. Solche Rückkoppelungsschleifen werden dann auch von anderen Medien aufgegriffen, diskutiert und jeweils kommentiert.

Kollektive Lernprozesse durch Rückkoppelungsschleifen bedürfen also einer Steuerung durch Medien, welche jedoch ebenso auch den Boden für die aporetischen Regelkreise aufbereiten, denen sie sich dann wiederum widmen müssen. Die so etablierten Regelkreise interagieren miteinander und schaffen untereinander mehr oder weniger Rückkoppelungsmechanismen; auf diese Art lernt das ganze System. Das zeigt sich auch an den vielen Innovationen, sei es im technischen wie auch im kreativen oder sozialen Bereich. Wirtschaftsforscher*innen prophezeien uns einen großen Aufschwung, weil in der Pandemie ganz neue Geschäftsmodelle kreativ entwickelt wurden. Wir werden in einigen Punkten, in denen es Sinn macht, wieder zur sogenannten alten Normalität zurückkommen, in anderen Punkten aber werden wir das Gelernte beibehalten (müssen), wobei dieser Lernprozess noch nicht abgeschlossen ist; ich nehme an, dass wir als Gesellschaft noch sehr viel lernen werden.