Entscheidungen über eine Therapie von Erkrankungen mit hoher Bedrohlichkeit stellen wegen des existenziellen Charakters häufig eine ethische Herausforderung dar und werden auch als solche wahrgenommen. Das erleben und berichten klinisch Tätige aus ihrem Alltag. Doch moralische Empfindsamkeit allein genügt nicht, es bedarf der begrifflichen Schärfe, um die komplexen Zusammenhänge klinischer Entscheidungen gerade in der Onkologie transparent werden zu lassen.

Ethische Probleme dürfen nicht unter dem bloßen Mantel empathischer Freundlichkeit versteckt werden

Daher ist es notwendig, die ethischen Herausforderungen im Alltag der klinischen Onkologie genau in den Blick zu nehmen. Ethische Probleme dürfen nicht unter dem bloßen Mantel empathischer Freundlichkeit versteckt werden, vielmehr geht es darum, abgewogene Argumente für die vielfältigen Aspekte und Komponenten komplexer Fragestellungen zu formulieren, zu bewerten und schließlich in eine Entscheidung münden zu lassen. Dies gilt etwa für die Eruierung des Willens von Betroffenen, aber auch für die vielfältigen Hintergründe und Voraussetzungen der Indikationsstellung. Denn allein das Konzept der Indikation als grundlegende Konzeption medizinischen Handelns ist keine wertneutrale Angelegenheit [1].

Bernhard Bleyer und Lea Hocher reflektieren die Begriffe einer ethischen und moralischen Sensibilität. Sie verweisen dabei auch auf die Theorie des kommunikativen Handelns, wie sie von Habermas [2] entwickelt wurde, der in den 90er-Jahren über den pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft reflektiert hat.

Die Reflexion weist aus, dass es notwendig ist, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in der Patientenversorgung tätig sind, für Werturteile zu sensibilisieren/in ethischer Deliberation zu schulen und im kommunikativen Austausch die verschiedenen Perspektiven in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zu einer partizipativen Entscheidungsfindung, die selbst das Potenzial hat, therapeutische Gewichtungen zu verändern.

Eine offene Kommunikation und partizipative Entscheidungsfindung ist auch notwendig im Blick auf die Integration komplementärmedizinischer Maßnahmen in die onkologische Behandlung von Patienten. Dies ist notwendig, um schädliche und den Therapierfolg negativ beeinflussende Wechselwirkungen zu vermeiden. Hier gilt es, die Autonomie der Betroffenen und die ärztliche Fürsorge zu verknüpfen, wie Jochen Grassinger und Christof Schäfer darlegen.

Christine Barbara Grün und Miriam Krug berichten über Erfahrungen mit der Implementierung einer komplementärmedizinischen Sprechstunde in einem großen Krebszentrum, dem Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Ziel der Anstrengung war es, eine interprofessionelle, wissenschaftlich fundierte Beratung in das Angebot des Zentrums zu integrieren. Dabei verkennen die Autorinnen nicht, dass manche Wünsche von Patienten im Blick auf alternative Therapien auch ein Schadenspotenzial in sich bergen. Dies stellt aus klinisch ethischer Sicht eine große moralische Herausforderung dar, für die es keine einfache Lösung gibt. Umso mehr kommt es auf eine transparente, empathische und zugewandte Kommunikation an.

In der Nutzung von Patientendaten steckt ein großes wissenschaftliches Potenzial, aber auch eine erhebliche ethische Problematik. Christoph Schickhardt, Katja Mehlis, Eva C. Winkler und Martin Junguonz befassen sich mit der Sekundärnutzung von Patientendaten aus Diagnostik und Therapie für die medizinische Forschung. Sie klären zunächst die ethischen Probleme, die bei der Sekundärnutzung von Patientendaten auftreten.

Diese werden vor dem Hintergrund der Ergebnisse ethischer und wissenschaftlicher Erfahrungen und im Rahmen eines von der DFG geförderten Verbundprojekts diskutiert. Nach ihrer Einschätzung sollten Patientendaten für die Forschung genutzt werden, wenn ein entsprechender Governance-Rahmen mit praktischen Maßnahmen des Datenschutzes die Rechte der Patienten und Daten vor unberechtigtem Zugriff schützt.

Die Gruppe um Jan Schildmann berichtet über eine sozialempirische Studie zum assistierten Suizid. Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie hat im März 2021 eine Umfrage unter ihren Mitgliedern zum assistierten Suizid durchgeführt. Die Ergebnisse werden detailliert dargestellt. Die Autoren kommen zum Schluss, dass nach Ansicht der Befragten die Regulierung des assistierten Suizids eine sorgfältige Beurteilung der Entscheidungsfähigkeit und eine vorangehende Beratung braucht. Darüber hinaus wird auf die Schwierigkeit verwiesen, angemessene und praktikable Kriterien zur Bewertung der Qualität der Maßnahmen zu entwickeln.

Claudia Bausewein stellt die aktuelle Situation zur Gesetzeslage im Blick auf den assistierten Suizid dar. Dies ist notwendig, nachdem Ansätze, eine neuerliche Regulierung des assistierten Suizids zu schaffen, im Bundestag gescheitert sind. Nachdem der § 217 aus dem StGB vom Bundesverfassungsgericht im Jahre 2020 verworfen wurde, besteht wieder die Rechtslage, wie sie vor dem Jahr 2015 Geltung hatte. Daraus folgt derzeit, dass die Hilfe beim Suizid nicht strafbar ist. Allerdings plädiert Claudia Bausewein dafür, dass die Betroffenen in der von ihnen erlebten Not primär Unterstützung erhalten sollten.

Einen anderen Blick auf die ärztliche Tätigkeit werfen Thomas Bein, Bernd Schönhofer und Sandra Apondo in ihrem Aufsatz, in dem sie sich mit der Erkrankung von Ärzten befassen. Das Team der Autoren schildert einen plötzlichen Perspektivwechsel, wenn ein Arzt zum Krebspatienten wird und den Verlust der eigenen ärztlichen Souveränität erlebt. Die Erfahrungen im Umgang mit den behandelnden gesunden Ärzten verändern die Sicht auf die bisherige scheinbar so selbstverständliche berufliche Tätigkeit und das Handeln. Es erweist sich, was schon lange in der Medizin bekannt ist: die Weise von Empathie, Körperlichkeit, Sprache und Mimik hat einen großen Einfluss auf das Gefühl von Vertrauen und die Annahme der eigenen Hilfsbedürftigkeit.

Alle die vorliegenden Beiträge erinnern daran, dass im medizinischen Alltag nahezu jede Entscheidung einen ethischen Anteil hat, den es zu reflektieren gilt. Oftmals ist er auch explizit mit dem Patienten zu besprechen. Das Themenheft „Ethik in der Onkologie“ möchte den onkologisch Tätigen in die wesentlichen Facetten der aktuellen ethischen Debatte einführen, damit sie die ethisch herausfordernden Fragen der gegenwärtigen Praxis souverän beantworten lernen.

S. Sahm, E.C. Winkler, C. Schaefer

Schriftleitung

K. Höffken

Für die Herausgebenden