Die Neuroethik ist ein Teilbereich der angewandten Ethik, der sich mit den ethischen Implikationen der Neurowissenschaften und Neuromedizin befasst [7]. Als interdisziplinärer Ansatz widmet sich die Neuroethik unterschiedlichen Handlungsfeldern von der biomedizinischen Forschung bis zu klinischen Anwendungen mit dem Ziel, dem Handeln der Akteure eine ethische Orientierung zu geben [9]. Somit lässt sich der Anwendungsbereich der Neuroethik auf drei Hauptfelder festlegen, die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung, die klinischen Interventionen in der Neurologie und die Neurotechnik. Manchmal wird auch die Forschung zu neurologischen Prozessen als Grundlage moralischen Handelns zur Neuroethik gezählt [9]. Da diese Forschung jedoch nicht dem oben formulierten Ziel der Handlungsorientierung dient, liegt der Fokus dieses Beitrags auf den drei genannten Handlungsfeldern.

Neurowissenschaftliche Grundlagenforschung

Die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung umfasst unterschiedliche Handlungsfelder mit spezifischen ethischen Herausforderungen. Grundsätzlich ergeben sich forschungsethische Fragestellungen in der klinischen Hirnforschung, da Eingriffe in das Gehirn Persönlichkeitsmerkmale beeinträchtigen können [11]. Des Weiteren können vor allem bei der Anwendung bildgebender Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) Zufallsbefunde anfallen, die eine Herausforderung für den Informed Consent und das Recht auf Nichtwissen darstellen [9]. Ein weiterer Aspekt ist das sog. „brain reading“, bei dem bildgebende Verfahren mit mathematischer Datenanalyse verknüpft werden, um Hirnareale mit erhöhter neuronaler Aktivität zu identifizieren [11]. Die statistische Auswertung dieser Aktivitätsmuster lässt Rückschlüsse auf kognitive Inhalte wie Gedanken zu, wodurch die kognitive Privatsphäre von Personen betroffen ist. Zudem könnten die Ergebnisse dieser Forschung etablierte Konzepte von Autonomie und Willensfreiheit infrage stellen, was wiederum Auswirkung auf Persönlichkeitsrechte und somit auch gesellschaftliche Auswirkungen haben könnte.

Neuroethik zielt auf ethische Orientierung in Forschung und klinischer Praxis

Ähnliches gilt für Verfahren des Neuroimaging im Kontext von normativen Hirnscans [14]. Dabei werden mittels bildgebender Verfahren sog. „normative modells“ erstellt, um individuelle Unterschiede hinsichtlich der Hirnanatomie und -physiologie zu dokumentieren. Entscheidend ist hierbei, dass diese Modelle dazu dienen sollen, einen Standard zu definieren und individuelle Abweichungen als mögliche Indikatoren pathologischer Risiken zu identifizieren. Aus ethischer Sicht ist hierbei die Rolle von Normativität in den Blick zu nehmen, die in der Medizin und insbesondere der Psychiatrie das Risiko einer politischen Pathologisierung und in weiterer Folge politischer Instrumentalisierung birgt. Als historisches Beispiel lässt sich die Pathologisierung der Homosexualität seit dem 19. Jahrhundert heranziehen [3]. Hier zeigt sich, wie gesellschaftliche Normen medizinische Krankheitskonzepte und die Diagnostik beeinflussen können, indem eine Normabweichung als psychische Krankheit definiert wird. Erst in den 1990er-Jahren wurde Homosexualität als Krankheitsentität aus dem ICD der WHO entfernt.

Somit hat die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung sowohl individualethische Implikationen wie die Herausforderungen für „Informed Consent“ und kognitive Privatsphäre als auch sozialethische wie die möglichen soziopolitischen Auswirkungen hinsichtlich Persönlichkeitsrechte und Normativität.

Klinische Interventionen

Ein wichtiges Forschungsthema hinsichtlich klinischer Intervention ist das Hirntod-Konzept, das 1968 entwickelt und seither ausdifferenziert wurde [7]. Der irreversible Hirnfunktionsausfall (IHA), umgangssprachlich als Hirntod bezeichnet, tritt neben den unaufhebbaren Herz-Kreislauf-Stillstand (sog. Herztod) und die sicheren Todeszeichen (Totenflecke, Totenstarre, Leichenfäulnis, mit dem Leben nicht vereinbare Verletzungen) als Todeskriterium hinzu. Die Anerkennung des IHA als Todeskriterium hat immer wieder für Debatten gesorgt und Stellungnahmen von medizinischen Fachgesellschaften sowie ethischen Gremien hervorgerufen. Zu nennen sind hier v. a. die Empfehlung des Österreichischen Bundesinstituts für Gesundheitswesen [5], die Richtlinie der Deutschen Bundesärztekammer [2] sowie die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats [3].

Zentrales Thema ist die philosophisch-ethische Dimension von Bewusstsein

Kontrovers diskutiert wird der IHA als Todeskriterium v. a. im Kontext der Organspende [15]: Aus medizinischer Sicht bedeutet der IHA den Tod des menschlichen Organismus, da keine kognitiven Prozesse mehr vorliegen, die auf ein Ich oder eine Person hinweisen und auch die zentrale Steuerungsfunktion des Gehirns für die Lebensprozesse des Organismus ausfällt. Diese Position findet auch in der Ethik Zustimmung, ist jedoch nicht die allein vorherrschende. Nach einer kritischen Sichtweise ist der IHA nur ein unzureichendes Kriterium, da eine Gleichsetzung von Funktionsausfall des Gehirns und Tod des Organismus nicht erwiesen sei [11]. Diese Gleichsetzung basiert auf Grundannahmen, die ihrerseits strittig sind, so etwa die Rückführung von Personalität auf kognitive Prozesse oder die Steuerungsfunktion des Gehirns als Voraussetzung für das Leben eines Organismus [9]. Des Weiteren verweisen Kritiker:innen auf die äußeren Anzeichen von Lebensprozessen, wie etwa Atembewegungen, Körperwärme, Körperausscheidungen etc., die potenzielle Zeugungs- und Gebärfähigkeit, das Vorliegen von Schmerzreaktionen und die Tatsache, dass der Ausfall eines Organs nicht den Tod des Organismus bedeuten muss [15].

Diesen Formen der Kritik kann auf unterschiedlichen Ebenen mit empiriebasierten Argumenten begegnet werden (für eine ausführliche Diskussion siehe [15]). Allerdings zeigt diese Debatte, dass Leben und Tod nicht allein medizinische Phänomene darstellen, sondern auch eine philosophische, soziale und kulturelle Dimension besitzen (siehe hierzu [1, 12, 16]). Zudem ist zu beachten, dass das Hirntod-Kriterium nicht zuletzt deshalb eingeführt wurde, um über eine Entnahme von Organen zum Zweck einer Organspende entscheiden zu können. Somit ließe sich einwenden, der IHA diene lediglich dazu, ein Allokationsproblem zu lösen, weshalb er als Resultat eines sozialen Drucks zu betrachten sei [7].

Eine ähnlich gelagerte ethische Diskussion besteht hinsichtlich chronischer Bewusstseinsstörungen (CBS) [6]. Auch hier gibt es Bedenken hinsichtlich der diagnostischen Trennschärfe. Im Allgemeinen wird zwischen dem Syndrom reaktionsloser Wachheit (auch Wachkoma oder apallisches Syndrom), dem minimalen Bewusstsein („minimal mental state“) und dem Locked-in-Syndrom unterschieden. Studien zeigen, dass in 40 % aller Fälle das Minimal-Bewusstsein-Syndrom als Wachkoma fehldiagnostiziert wird [4]. Das zentrale philosophische Problem ist hier die qualitative Abgrenzung von Bewusstseinszuständen, die quantitativ bestimmt werden. Anders ausgedrückt: Es gibt kein Mittel, die qualitativen Aspekte der genannten Zustände zu beschreiben, weshalb quantitative Kriterien, etwa der Glasgow Coma Score, und deren Trennschärfe letztlich spekulativ bleiben. Ob bzw. inwieweit Bewusstsein noch vorliegt, bleibt daher vielfach unklar.

Bei CBS handelt es sich meist um medizinische Extremzustände, die eine maximale Vulnerabilität für Betroffene bedeuten [6]. Die kumulative Ungewissheit hinsichtlich Diagnose und Prognose sowie das Fehlen effektiver Therapie- bzw. Rehabilitationsoptionen erschweren die Entscheidungsfindung. Aus ethischer Sicht ergeben sich potenzielle negative Auswirkung auf das Patientenwohl, wenn Behandlungsentscheidungen wie der Abbruch einer Behandlung aufgrund unsicherer Kriterien getroffen werden. Zugleich ist es vor dem Hintergrund der Ressourcenproblematik in vielen Fällen fraglich, ob lebenserhaltende Maßnahmen über mehrere Jahre bei unklarer Prognose vertretbar sind [7].

Neurotechnik

Innerhalb der Neurotechnik können diejenigen Technologien, für deren Einsatz eine medizinische Indikation vorliegt, von denjenigen abgegrenzt werden, die zum Enhancement eingesetzt werden. Zu den indizierten Anwendungen gehört etwa die tiefe Hirnstimulation, bei der zwei Elektroden operativ ins Gehirn eingeführt werden, um mithilfe elektrischer Impulse gezielt Hirnareale zu aktivieren [11]. Indikationen hierfür sind etwa Morbus Parkinson oder Dystonie. Des Weiteren sind Neuroimplantate als indizierte Neurotechnologien zu nennen, etwa das Cochlea-Implantat bei Hörschädigungen.

Unter Neuroenhancement versteht man den Einsatz von technischen Hilfsmitteln oder Medikamenten zur Verbesserung kognitiver Fähigkeiten, Leistungen oder Resilienz [7]. Darunter fallen z. B. sog. Brain-Computer-Interfaces (BCI), die es Menschen erlauben, durch eine Kopplung des Nervensystems mit elektronischen Geräten diese zu steuern oder als Werkzeuge zu benutzen. Die Abgrenzung von medizinisch indizierter und somit klinisch sinnvoller Neurotechnik von Technologien des Neuroenhancements zur Verbesserung von kognitiven Fähigkeiten ist nicht immer eindeutig. Zumeist erfolgt die Abgrenzung nicht anhand der einzelnen Technologien, sondern der Zwecke, für welche diese eingesetzt werden.

Neuroenhancement bedroht das Wohl von Individuum und Gesellschaft

Ein auch in den Medien höchst präsentes Beispiel ist das Neuroimplantat der Firma Neuralink, das im Januar 2024 erstmals einem Menschen eingesetzt wurde [13]. Zweck des Implantats ist die Steuerung eines Computers durch kognitive Operationen ohne manuelle Beteiligung. Als Anwendungsgebiete werden Schizophrenie oder Querschnittslähmung genannt. Allerdings spricht die Firma explizit davon, mittelfristig über medizinisch indizierte Anwendungen hinauszugehen und das Implantat allgemein verfügbar zu machen mit dem Ziel, die Erfahrung der Welt zu erweitern, wie es auf der Neuralink-Webseite heißt [10]. Dabei wird explizit eine Verbesserung kognitiver Fähigkeiten von Gesunden zu militärischen oder ökonomischen Zwecken angestrebt [8].

Die ethischen Herausforderungen ergeben sich hier zunächst aus der schwierigen Abgrenzung zwischen indizierten und nicht indizierten Technologien. Ab wann stellt ein Neuroimplantat eine Verbesserung im Sinne eines Enhancements dar? Bei klar nicht-indizierten Anwendungen entsteht das Risiko der Fremdsteuerung und Ausschaltung von Autonomie. BCI könnten eingesetzt werden, um kognitive Inhalte oder Handlungen von Personen zu manipulieren oder zu steuern. Somit würden sich erhebliche Folgen für unsere Auffassung von Autonomie und personeller Integrität ergeben. Zudem brächte die Machtasymmetrie zwischen denen, die diese Technologien herstellen und kontrollieren und denen, auf die sie angewendet werden, politische Verwerfungen und negative Auswirkungen im Sinne sozialer Gerechtigkeit mit sich.

Interdisziplinäre Kooperation von Forschung, Klinik, Ethik und Politik ist entscheidend

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die ethischen Herausforderungen auf den Gebieten der neurologischen Grundlagenforschung, der klinischen Interventionen und der Neurotechnologie jeweils spezifische Handlungsstrategien erfordern. Allen gemeinsam ist die Notwendigkeit einer interdisziplinären Kooperation in der Forschung sowie der Entwicklung von Richtlinien („policies“) und Regelwerken, die Entwicklungen steuern und den Akteuren Handlungssicherheit geben sollen. Dafür ist eine enge Kooperation zwischen Forscher:innen, Kliniker:innen, Ethiker:innen und politischen Entscheider:innen notwendig.

Fazit für die Praxis

  • Neurowissenschaftliche Grundlagenforschung, klinische Interventionen in der Neurologie und Neurotechnik sind wesentliche Handlungsfelder der Neuroethik.

  • Grundlagenforschung: Herausforderungen sind der Informed Consent, die kognitive Privatsphäre sowie mögliche soziopolitische Auswirkungen hinsichtlich Persönlichkeitsrechte und Normativität.

  • Klinische Interventionen: Die Debatte hinsichtlich IHA ist oft wenig stichhaltig. Chronische Bewusstseinsstörungen (CBS) werfen die Frage nach einer qualitativen Bestimmung von Bewusstseinszuständen auf.

  • Neurotechnik: Enhancement gefährdet die Autonomie und personelle Integrität sowie die soziale Gerechtigkeit.

  • Eine interdisziplinäre Kooperation in der Forschung sowie bei der Entwicklung von Richtlinien und Regelwerken ist erforderlich, um den Akteuren Handlungssicherheit zu geben.