Im Rahmen der stationären Behandlung von Anorexia nervosa ist die Gewichtsnormalisierung ein wichtiges Ziel. Während der Behandlung werden jedoch im Verlauf der Gewichtszunahme automatisch die Angst vor einer Gewichtszunahme und der hohe Stellenwert eines niedrig gewichtigen Körpers für den Selbstwert, zwei weitere Kernsymptome der Anorexia nervosa, aktualisiert. In dieser Fallserie werden explorativ dynamische Entwicklungen in aktuell empfundenem und idealem Körpergewicht mithilfe biometrischer Figure-rating-Skalen (FRS) untersucht. Die Ergebnisse zeigen hochgradig individuelle Verläufe, die klinisch gut adressierbar wirken.

Anorexia nervosa ist eine schwerwiegende psychische Störung (Treasure et al. 2020; Zipfel et al. 2015); die u. a. durch massive körperliche Auswirkungen der Symptome imponiert. Selbst bei vital bedrohlichem Untergewicht bedingen die weiteren Kernsymptome „Angst vor Gewichtszunahme“ und „Körperbildstörung“ bei den meist weiblichen Patienten häufig eine ausgeprägte Ambivalenz gegenüber einer Gewichtszunahme, weshalb eine stationäre Behandlung mit multimodalem Behandlungskonzept häufiger als bei anderen Essstörungen erforderlich ist (AWMF 2020; National Institute for Health und Care Excellence N 2017). Primäres Ziel der stationären Behandlung ist nach der S3-Leitlinie (AWMF 2020) die körperliche Stabilisierung über eine ausreichende Gewichtszunahme.

Eine Besonderheit der Anorexia nervosa ist, dass das Behandeln des Leitsymptoms Untergewicht nicht zu einer Besserung des Gesamtbefindens führt. Während etwa bei PatientInnen mit affektiven Störungen Besserung in Leitsymptomen bereits eine merkliche Besserung des Gesamtbilds hervorruft, können sich die Kernsymptome der Anorexia nervosa gegenseitig negativ beeinflussen (Glashouwer et al. 2019; Murray et al. 2018). Eine Gewichtszunahme kann PatientInnen trotz grundsätzlicher Genesungsmotivation erheblich unter Druck setzen, da sie für den Selbstwert essenzielle Ängste vor einer Gewichtszunahme aktualisiert. Es erscheint in diesem Kontext logisch, dass Körperbild und Angst vor einer Gewichtszunahme negative Prädiktoren für den Therapieerfolg sind (Berends et al. 2018) und Behandlungsabbrüche mit rund 30 % häufig vorkommen (Schlegl et al. 2014). Neben praktischer Unterstützung ist die Adressierung von Ambivalenz für den Behandlungserfolg zentral.

Es wird vermutet, dass Vermeidung eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung von Angst vor einer Gewichtszunahme spielt, analog zu den bei Angststörungen bekannten Teufelskreisen (Maier et al. 2019; Murray et al. 2018). Allerdings sind PatientInnen im Behandlungsverlauf meist früher in der Lage, ihr Essverhalten zu ändern als ihre Kognitionen und Affekte bezüglich des restriktiven Essens (Geller et al. 2005). Für die Praxis lässt sich daraus schlussfolgern, dass es eine therapeutische Aufgabe ist, die PatientInnen zur Auseinandersetzung mit der zu erfolgenden Gewichtszunahme und möglichen Konsequenzen zu ermutigen und sie dabei zu unterstützen. Während spezialtherapeutische Angebote wie etwa die Spiegelexposition selbstwertdienlichere Aufmerksamkeitsprozesse fördern können (Vocks et al. 2007), braucht es auch möglichst breit im Behandlungssetting implementierte Konzepte, PatientInnen in ihrem Alltag bei der Detektion von Gewichtsveränderungen und deren Verarbeitung zu begleiten.

Eine Gruppe von zeitökonomischen und einfachen Instrumenten zur Erfassung von Kognitionen und Affekten gegenüber dem eigenen Körpergewicht sind sog. Figure-rating-Skalen. Es existiert eine Vielzahl entsprechender Instrumente (Gardner und Brown 2010), die jeweils skizzenhaft eine Serie gewichtsgestufter Körper präsentieren. Die PatientInnen markieren denjenigen Körper, der am ehesten ihrem aktuellen Körper entspricht, sowie denjenigen, der ihrem idealen Körper entspricht, wobei derselbe Körper auch für beide Fragestellungen markiert werden könnte. Aus den Angaben lässt sich schlussfolgern, ob ihr idealer Körper mehr oder weniger wiegt als der aktuelle und wie groß die Diskrepanz ist (Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht). Je nach Güte der Skala kann außerdem die Genauigkeit bestimmt werden, mit der die PatientInnen ihr aktuelles Körpergewicht repräsentieren. Die Bearbeitung von FRS lässt sich unkompliziert in den Klinikalltag integrieren, etwa im Rahmen der Wiegetermine. Dadurch wird es möglich, bei Auffälligkeiten bei der Auswahl der FRS gezielt Bezug zu nehmen und Ambivalenzen mit geeigneten Gesprächstechniken, etwa der motivationalen Gesprächsführung, aufzulösen.

Die Auswahl einer geeigneten Skala ist jedoch nicht trivial. Ähnlich wie bei experimentellen Verfahren können die Antworten von der Spannweite und Skalenmitte der dargeboten Körper (Ankereffekte) abhängen (Doll et al. 2004; Mölbert et al. 2017). Zusätzlich wird die Interpretation von Antworten im Einzelfall dadurch erschwert, dass Skalennutzer bei der Beantwortung individuelle Schwerpunkte setzen können, etwa auf kognitiv-affektive Prozesse (Diskrepanz zwischen aktuellem und als ideal empfundenem Körper) oder auf perzeptuelle Aspekte wie die biometrischen Merkmale der Körper. Aus einer Vielzahl experimenteller Studien ist bekannt, dass Patientinnen mit Anorexia nervosa im Hinblick auf ihr Körperbild lediglich bei kognitiv-affektiven Prozessen Auffälligkeiten zeigen, die Perzeption der Körpermaße jedoch grundsätzlich unauffällig ist (Mölbert et al. 2017). Überschätzungen des eigenen Körpers werden demnach dann beobachtet, wenn Patientinnen ihren individuellen Schwerpunkt bei der Bearbeitung auf kognitiv-affektive Prozesse legen, etwa einen höher gewichtigen Körper als „aktuell“ markieren, um trotz begrenzter Skala zum Ausdruck zu bringen, dass ihr idealer Körper deutlich dünner wäre. Wie sehr und häufig dies auftritt, hängt jedoch von der verwendeten Methode sowie dem Kontext ab.

Um den Nutzen einer bestimmten FRS für den Gebrauch im therapeutischen Einzelfall abschätzen zu können, bedarf es Pilotdaten, aus denen hervorgeht, ob die Auflösung der Skala sinnvolle Abstufungen in den Antworten, auch im Längsschnitt, ermöglicht und wie die Antworten auf der Skala interpretiert werden können. In dieser Beobachtungsstudie wurden daher im Rahmen einer Fallserie Verläufe in „aktuellem“ und „idealem“ Körper auf einer für den Unter- bis Normalgewichtsbereich optimierten FRS während stationärer Behandlung von Anorexia nervosa erhoben. Die Antworten wurden mit dem Gewichtsverlauf der Teilnehmerinnen verglichen, um zu untersuchen, ob sich aus dem Antwortverhalten Hinweise auf typische Antwortstrategien ergeben.

Methodik

Stichprobe

Untersucht wurden 13 Patientinnen, die mit der Diagnose einer typischen Anorexia nervosa (ICD-10 F50.0) stationär am Universitätsklinikum Tübingen behandelt wurden.

Untersuchungsablauf

Studienablauf und -prozedur wurden gemäß den ethischen Richtlinien der Deklaration von Helsinki durchgeführ und von der lokalen Ethikkommission genehmigt (Antrag-Nr. 668/2017BO2). Nach erfolgter schriftlicher Einwilligung zur Teilnahme an und Einweisung in die Abläufe der Studie markierten die Patientinnen wöchentlich montags nach dem Wiegetermin, der im Rahmen der stationären Versorgung angesetzt wird, ihren geschätzten aktuellen und idealen Körper auf einer biometrischen FRS. Die genutzte Skala ist für den Unter- bis Normalgewichtsbereich optimiert (Abb. 1). Der wöchentliche Zeitaufwand betrug < 1 min. Körpergröße, Gewichtsverläufe und die Werte des Eating Disorder Examination Questionnaire (EDE‑Q; Hilbert et al. 2007), den die Patientinnen bei Aufnahme auf die Station ausgefüllt hatten, wurden mit dem Einverständnis der Patientinnen zum Zweck der Auswertung aus der Akte übernommen. Eine systematische Rückmeldung an die Patientinnen erfolgte im Rahmen dieser Studie nicht.

Abb. 1
figure 1

Verwendete Figure-rating-Skala (Mölbert et al. 2017), auf der die Teilnehmerinnen ihren aktuellen und idealen Körper markierten. Die Auswertung erfolgt anhand der Werte 1–9, die Body-Mass-Index (BMI)-Angaben dienen lediglich als Richtwert fürs Bestimmen des tatsächlich akkuraten BMI

Materialien

Zur Erfassung der Gewichtswahrnehmung und der Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht wurde die in Abb. 1 dargestellte biometrische FRS (Mölbert et al. 2017) eingesetzt, die 9 Körper mit Body Mass Index (BMI) 13,8 bis 32,2 kg/m2, also BMI 23 kg/m2 ±10 %, ±20 %, ±30 % und ±40 % abbildet. Die Patientinnen wurden gebeten, auf der Skala diejenigen Körper zu markieren, die am ehesten (a) ihrem aktuellen Körper und (b) ihrem idealen Körper entsprechen. Die Skala zeigt nicht nur Körper vom extremen Untergewicht bis in den Adipositasbereich hinein, der Skalenmittelpunkt bildet außerdem den durchschnittlichen BMI deutscher Frauen ab (Mikrozensus 2017, Statistisches Bundesamt 2018). Die Skala hat sich in einer vorherigen Studie als geeignet erwiesen, um die Gewichtswahrnehmung, aber auch die Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht bei Patientinnen mit Anorexia nervosa abzubilden (Mölbert et al. 2017). Größe und Gewicht der Teilnehmer wurden im Rahmen der klinischen Routine mit geeichten Maßstäben bzw. Körperwaagen ermittelt.

Datenanalyse

Für die Auswertung wurden die Körper der FRS von 1–9 durchnummeriert. Die FRS wurden analog zum Vorgehen in der Studie von Mölbert et al. (2017) im Hinblick auf zwei Maße ausgewertet: (1) Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht als Diskrepanz zwischen Wunsch- und geschätztem Gewicht und (2) Genauigkeit, mit der sich Patientinnen hinsichtlich ihres BMI einordnen. Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht wurde gemäß der Formel Unzufriedenheit = als aktuell geschätzter Körper – idealer Körper berechnet, wobei positive Werte einem Wunsch nach Abnahme, negative Werte einem Wunsch nach Zunahme entsprachen. Die Genauigkeit wurde ermittelt, indem der „aktuell“ markierte Körper mit dem tatsächlich am ehesten dem BMI der Patientin entsprechenden Körper verglichen wurde (Genauigkeit = als aktuell geschätzter Körper – aktuell am besten passender Körper). Positive Werte entsprechen nach dieser Formel einer Überschätzung des aktuellen BMI, negative Werte einer Unterschätzung.

Um eine Einschätzung der Validität der Maße zu erhalten, wurden intraindividuelle Schwankungen längsschnittlich abgetragen und mit dem Gewichtsverlauf verglichen. Statistische Analysen fokussieren aufgrund der Stichprobengröße und des Charakters der Studie als Fallserie auf deskriptive Auswertungen.

Ergebnisse

Eine Übersicht über den Aufnahme-BMI, die Aufenthaltsdauer, den Entlass-BMI sowie die bei Aufnahme und Entlassung erzielten Skalenwerte für „weight concern“ und Gesamtscore im EDE‑Q (Hilbert et al. 2007) der jeweiligen Patientinnen ist in Tab. 1 dargestellt. Der Aufnahme-BMI der untersuchten Patientinnen betrug im Mittelwert M = 14,45 kg/m2 (SD ± 1,17 kg/m2), mit einer Spannweite von 12,31–15,89 kg/m2. Der Entlass-BMI betrug M = 16,66 kg/m2 (SD ± 1,19 kg/m2) mit einer Spannweite von 14,81–18,21 kg/m2. Im EDE‑Q erreichten die untersuchten Patientinnen bei Aufnahme im Mittel einen Gesamtwert von M = 3,83 von 6 möglichen Punkten (SD ± 1,57 Punkte, Md = 4,33 Punkte, n = 12). Für die Subskala Restraint wurde M = 3,8 (SD ± 1,92; Md = 4,6), für Eating Concern M = 3,15 (SD ± 1,53; Md = 3,70), für Weight Concern M = 3,99 (SD ± 1,55; Md = 4,88) und für Shape Concern M = 4,39 (SD ± 1,69; Md = 4,88) berechnet. Die Aufenthaltsdauer betrug im Mittel M = 12 Wochen, bei einer Spannweite von 6 bis 17 Wochen. Insgesamt wurden 128 Wiegetermine mit FRS ausgewertet.

Tab. 1 Klinische Eckdaten der in die Studie eingeschlossenen Patientinnen. Für Patientin 9 liegen keine Angaben im EDE-Q vor.

Angaben in der Figure-rating-Skala

Im längsschnittlichen Verlauf und Vergleich mit der Gewichtsentwicklung gaben die Teilnehmerinnen differenzierte, im Verlauf variierende Antworten an, sowohl bezogen auf den aktuellen als auch auf ihren idealen Körper. Es fanden sich drei typische Muster, die innerhalb der Patientinnen konstant waren: (1) konstante Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht und akkurate Einschätzung bei wenig Gewichtsveränderung (2/13 Patientinnen), (2) konstante Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht (±1 Körper) und akkurate Einschätzung (±1 Körper) bei konstanter Zunahme (7/13 Patientinnen, davon 3 mit dem Wunsch nach Abnahme vs. 4 mit dem Wunsch nach Zunahme), (3) wechselnde Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht und Genauigkeit, die abhängig vom Gewichtsverlauf springen (4/13 Patientinnen). Die Zuordnungen der Patientinnen zu den Mustern war über beide Parameter der FRS konsistent, d. h., Patientinnen, deren Verlauf in der Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht zu Muster 1 passte, zeigten in der Genauigkeit der Gewichtseinschätzung dasselbe Muster, und ebenso verhielt es sich mit den Zuteilungen zu den Mustern 2 und 3. Eine Übersicht über die Zuordnung zu den jeweiligen Mustern findet sich in Tab. 1, Beispielverläufe für die jeweiligen Muster sind in Abb. 2 dargestellt.

Abb. 2
figure 2

Fallbeispiele für die drei Antwortmuster (graue Linien) im Verglech mit der Gewichtsentwicklung (schwarze Linien). Links Verläufe von Unzufriedenheit mit dem Gewicht, rechts Verläufe von Genauigkeit beim Identifizieren des eigenen Körpergewichts. Positive Werte bei Unzufriedenheit mit dem Körper entsprechen einem Wunsch nach Abnahme, negative Werte einem Wunsch nach Zunahme. Bei Genauigkeit entsprechen positive Werte einer Überschätzung, negative Werte einer Unterschätzung. A–D vier Patientinnen, FRS „Figure-rating“-Skala

Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht

Der Modalwert der Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht betrug −1, d. h., Patientinnen gaben am häufigsten (24 %) an, dass ein leicht höher gewichtiger, also immer noch untergewichtiger Körper ihr Ideal sei. Nur 4 % der Patientinnen teilten mit, dass das aktuelle Gewicht als ideal empfunden werde, je 42 % der Angaben entfielen auf den Bereich bis zu zwei Körpern Zunahmewunsch und 32 % bis zu 2 Körpern Abnahmewunsch. Die Spannweite bei den Angaben betrug −3 bis 8, wobei etwa 78 % der Angaben auf den Bereich −2 bis +2 entfielen und sich die Angaben bimodal symmetrisch um 0 verteilten.

In Abb. 2 sind die oben angegebenen typischen Verläufe an 4 Patientinnen illustriert. Patientin A gab konstant eine negative Unzufriedenheit mit ihrem Körpergewicht, d. h. einen Wunsch nach Zunahme, an, was sich jedoch nicht in ihrer Gewichtskurve spiegelte. Die Behandlung war, möglicherweise auch aufgrund ihrer Schwierigkeiten, eine Gewichtsnormalisierung zu erzielen, mit 6 Wochen vergleichsweise kurz. Patientin B hingegen gab im gesamten Behandlungsverlauf einen deutlichen Wunsch nach Zunahme (2 Körper) an und nahm auch kontinuierlich zu. Es ist anzumerken, dass die Kurven bei 4 der 7 Patientinnen aus Muster 2 ähnlich aussahen. Allerdings gaben 3 der 7 Patientinnen, die ein solches Muster konstanter Unzufriedenheit mit dem Gewicht bei gleichzeitiger Zunahme zeigten, dabei durchgehend einen Wunsch nach Abnahme an, kreuzten also einen niedriger gewichtigen Körper als ideal an, als sie bei der Frage nach ihrem aktuellen Körper schätzten. Patientin C und D zeigten jeweils starke Schwankungen in ihrer Unzufriedenheit mit dem Gewicht, die sich jedoch im Vergleich zum Gewichtsverlauf unterschiedlich entwickelten. Bei Patientin C wirkt es, als sei die 40-kg-Grenze emotional stark besetzt gewesen. Während ihr Gewicht über mehrere Wochen knapp unterhalb dieser Schwelle stagnierte, kippte ihre Unzufriedenheit mit dem Gewicht von einem Wunsch nach Zunahme in einen Wunsch nach Abnahme. Dieser verstärkte sich zunächst, ließ jedoch nach dem Überschreiten der 40-kg-Marke wieder nach. Patientin D hingegen begann die Behandlung mit einem starken Wunsch nach Abnahme, der sich im Verlauf der Behandlung langsam reduzierte.

Genauigkeit der Gewichtseinordnung

Der Modalwert der Genauigkeit in der Stichprobe betrug über alle erfassten Messtermine 0, d. h., die häufigste Einordnung des eigenen Gewichts war akkurat. Dabei gab es eine Spannweite von −2 bis 7, d. h. von leichter bis deutlicher Überschätzung des eigenen BMI. Es lagen 73 % der Angaben im Bereich ±1, die Mehrheit der Angaben ordnete den aktuellen Körper also korrekt im untergewichtigen Bereich ein.

Rechts in Abb. 2 sind die oben beschriebenen Muster hinsichtlich der Genauigkeit der Gewichtseinschätzung illustriert. Patientin A, die innerhalb des 6‑wöchigen Behandlungszeitraums wenig Gewicht zunehmen konnte, reflektierte sowohl ihr Untergewicht als auch dessen Kontinuität korrekt in ihren Angaben auf der FRS. Patientin B hingegen schätzte ihr Gewicht zu Beginn der Behandlung akkurat ein, passte ihre Einschätzung im Verlauf aber nicht dem gestiegenen Körpergewicht an, sodass es schließlich zu einer leichten Unterschätzung kam. Möglich ist, dass dies auch aufgrund eines gleichbleibenden idealen Körpers und konstanten Zunahmewunsches so angekreuzt wurde. Patientin C gibt ausgehend von einer akkuraten Einschätzung im Verlauf einer 12-wöchigen Behandlung manchmal eine Unter-, manchmal eine Überschätzungen ihres Gewichts an. Ein großer Sprung in Richtung Überschätzung tritt mit dem Überschreiten der 40-kg-Grenze auf und nähert sich in den Folgewochen wieder einer akkuraten Gewichtseinschätzung. Gleichmäßige Gewichtsentwicklungen, etwa zwischen der 6. und 10. Behandlungswoche, gehen mit Korrekturen der Einschätzungen bis hin zur kurzzeitigen Unterschätzung einher. Überschätzungen (+2) tauchten vorwiegend nach größeren Wochenzunahmen auf und wurden in den Folgewochen wieder nach unten korrigiert. Eine mögliche Interpretation könnte sein, dass die Patientin sich bei ihren Angaben mehr auf ihr erlebtes Gewicht bezog als auf visuelle Vergleiche. Patientin D hingegen begann ihre 12-wöchige Behandlung mit einer deutlichen Überschätzung ihres Körpergewichts, die sich im Verlauf der Behandlung bei konstanter Zunahme einer akkuraten Einschätzung annäherte. Auch hier liegt der Verdacht nahe, dass das Antwortverhalten sowohl das „erlebte“ Gewicht widerspiegeln könnte als auch teilweise durch relative Abstände von aktuell geschätztem und idealem Körper bedingt ist.

Diskussion

Interpretation der Ergebnisse

Insgesamt stützen die vorliegenden Ergebnisse die Sinnhaftigkeit von FRS für das Monitoring von Kognitionen und Affekten im Hinblick auf das eigene Körpergewicht im stationären Kontext der Behandlung der Anorexia nervosa. Die Teilnehmerinnen machten schlüssige, differenzierte Angaben, die sich im Verlauf der Behandlung auch änderten. Allerdings weisen die unterschiedlichen Antwortmusterdarauf hin, dass Angaben auf FRS auf individueller Ebene nur unter Hinzunahme weiterer Informationen sinnvoll interpretierbar sind. Denkbar ist die Anwendung im Sinne eines Symptomtagebuchs, das parallel zur Gewichtskurve geführt wird. Figure-rating-Skalen können dann dazu beitragen, eine Ausdrucksform für Ambivalenzen der Patientinnen zu finden und diese gemeinsam zu reflektieren.

Die aktuelle Fallserie untersucht eine Stichprobe von 13 stationär behandelten Patientinnen mit Anorexia nervosa. Im bei Aufnahme auf die Station durchgeführten EDE‑Q erzielten die Patientinnen überwiegend hohe Ausprägungen, insbesondere auf der Skala Weight Concern. In den FRS gab ein Großteil der untersuchten Patientinnen dennoch an, leicht zunehmen zu wollen, was einerseits Vorbefunde zur vorwiegend behavioralen Änderungsmotivation bei Behandlungsbeginn bestätigt (Geller et al. 2005), aber auch auf eine ausgeprägte Ambivalenz gegenüber der Zunahme bei grundsätzlicher Behandlungsmotivation schließen lässt. Die Angaben der Teilnehmerinnen passen insgesamt gut zu Vorbefunden in stationär erhobenen Stichproben von PatientInnen mit Anorexia nervosa (Hilbert et al. 2007). Bei den meisten Teilnehmerinnen war im EDE‑Q der Skalenwert für Weight Concern bei Behandlungsende gesunken, wobei sich in den FRS nicht durchgehend ein analoger Effekt zeigte.

Das aktuelle Gewicht wurde bei den meisten Messterminen akkurat eingeschätzt, was darauf hinweist, dass die Spannweite der verwendeten FRS für die Anwendung im stationären Kontext angemessen ist. Abweichungen können sowohl kognitiv-affektiv bedingt sein, etwa weil ein sehr ausgeprägter Wunsch nach Abnahme zum Ausdruck gebracht werden sollte. Möglich ist aber auch, dass ein interozeptives Erleben oder Verdauungsbeschwerden das „erlebte Gewicht“ und damit das Antwortverhalten zumindest zeitweise beeinflusst haben. Verdauungsbeschwerden treten insbesondere zu Beginn des Kostaufbaus im Rahmen der stationären Behandlung häufig auf (Riedlinger et al. 2022) und können etwa das Gefühl, „aufgebläht“ zu sein, bedingen. In diesem Fall könnte eine Überschätzung des eigenen Körpers Ausdruck entsprechender Empfindungen sein und mit zum Antwortverhalten, wie bei Patientin D beobachtet, beitragen.

Etwa zwei Drittel (9/13 Patientinnen) der untersuchten Stichprobe zeigte im Verlauf lediglich geringfügige Schwankungen sowohl in der Unzufriedenheit mit dem Körpergewicht als auch in der Genauigkeit der Einschätzung. Die meisten dieser Patientinnen nahmen während des Beobachtungszeitraums Gewicht zu, bei ihnen war also die Zunahme von Gefühlen und Kognitionen gegenüber dem eigenen Körpergewicht entkoppelt. Diese Beobachtung passt zu Vorbefunden, nach denen persistierende Körperbildstörungen eher den Regelfall denn Ausnahme nach der Behandlung sind (Schlegl et al. 2014) und einen Risikofaktor für den langfristig schwächeren Therapieerfolg darstellen (Berends et al. 2018). Die FRS könnten bei diesen Patientinnen ein hilfreiches Memorandum bzw. Anlass für die BehandlerInnen sein, die Interpretation der Antworten mit den PatientInnen zu explorieren und mögliche Ambivalenzen für sie zugänglicher zu machen.

Bei etwa einem Drittel der Stichprobe kam es im Verlauf der Behandlung zu ausgeprägten Änderungen im Antwortverhalten, die auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Verlauf der Gewichtszunahme assoziiert waren. Diese Sprünge lassen sich analog zu den Befunden in experimentellen Verfahren am besten dadurch erklären, dass Schätzungen der Körpermaße oft kognitiv-affektiv getönt sind (Mölbert et al. 2017). Die begrenzte Skala der FRS bedingt, dass ein starker Wunsch nach Abnahme nur zum Ausdruck gebracht werden kann, indem der „aktuelle“ Körper mit einem höheren Gewicht markiert wird. In diesem Fall können die Antworten in der FRS als valides Maß für die Behandlungsambivalenz und deren Verlauf interpretiert werden.

Limitationen

Die erhobenen explorativen Pilotdaten legen nahe, dass biometrische FRS auf individueller Ebene ein valides Instrument sind, um die Wahrnehmung und Bewertung der Gewichtszunahme im Rahmen der stationären Behandlung von PatientInnen mit Anorexia nervosa zu erfassen. Die beobachteten Verläufe weisen darauf hin, dass unterschiedliche, jedoch individuell stabile Antwortmuster, die jeweils mit verschiedenen individuellen Faktoren assoziiert sein können, auftreten. Diese konnten in der aktuellen Studie aufgrund der kleinen Stichprobe nicht systematisch untersucht werden. Auch bleibt unklar, ob verschiedene FRS gleichermaßen geeignet sind, um die Körperwahrnehmung und Bewertung der Gewichtszunahme zu erfassen, da nur eine einzige, auf den Unter- bis Normalgewichtsbereich optimierte FRS eingesetzt wurde. Die meisten FRS ermöglichen nur die Erfassung von Unzufriedenheit mit dem Gewicht (Gardner und Brown 2010), hierbei sind möglicherweise Ankereffekte zu beachten (Doll et al. 2004; Mölbert et al. 2017). Abschließend soll angemerkt werden, dass die in dieser Arbeit verwendete FRS auch in einer Version für männliche Körper vorliegt. Inwieweit die in dieser Studie beobachteten Muster auf diese Version zutreffen, konnte nicht ermittelt werden, da sich alle Studienteilnehmer als weiblich identifizierten.

Fazit für die Praxis

  • Eine auf den Unter- bis Normalgewichtsbereich optimierte Figure-rating-Skala eignet sich zum längsschnittlichen Monitoring von Körperbild und Angst vor einer Gewichtszunahme während der stationären Anorexia-nervosa-Therapie.

  • Antwortverläufe sind individuell stabil, jedoch interindividuell heterogen. Die Interpretation erfordert im Einzelfall die individuelle Exploration von Ambivalenz gegenüber einer Gewichtszunahme sowie weiteren Faktoren, die die aktuelle Körperwahrnehmung beeinflussen.