Marlene Streeruwitz’ Erfahrungspoetik des Lebenswissens

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Marlene Streeruwitz

Part of the book series: Kontemporär. Schriften zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ((KSDG,volume 12))

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Zusammenfassung

Marlene Streeruwitz schreibt sich in ein literaturtheoretisches Feld ein, das sich derzeit ausgesprochen dynamisch entwickelt, nämlich das der Wissenspoetik. Bemerkenswert ist freilich weniger, dass sich ihr Nachdenken über Literatur auch wissenspoetisch lesen lässt, sondern vielmehr, wie Streeruwitz das Verhältnis von Literatur und Wissen konzeptuell fasst und wie sie Literatur und Wissen in ihrer Schreibpraxis miteinander verwebt. Dieser Beitrag untersucht, inwiefern die Autorin mit ihren poetologischen, politischen und literarischen Beiträgen wissenspoetische Ansätze schärft und die Wissenspoetik um eine wesentliche, bislang zu wenig beleuchtete Dimension ergänzt: die einer Erfahrungspoetik. Ich widme mich hierfür in erster Linie zwei Romanen, die gerade in ihrer Verschiedenheit in einen produktiven Dialog miteinander gebracht werden können: Jessica, 30. von 2004 und Flammenwand. von 2019. Ziel dieses Beitrags ist es, an ihnen die verschiedenen Dimensionen von Erfahrungs- und von Körperwissen herauszuarbeiten.

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Notes

  1. 1.

    Marlene Streeruwitz: „Was Literatur kann.“ [2018]: http://www.marlenestreeruwitz.at/werk/was-literatur-kann/ (1.6.2020); abgdr. in diesem Band, 19–22, hier 20 (im Folgenden als „WL“ mit Seitenzahl im Haupttext nachgewiesen).

  2. 2.

    Wie es zunächst etwa von Joseph Vogl oder Ralf Klausnitzer entworfen und dann von Roland Borgards u. a. systematisch abgesteckt wurde; vgl. Joseph Vogl: Poetologien des Wissens um 1800. München 1999; Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin u. a. 2008 und Roland Borgards/Harald Neumeyer/Nicolas Pethes u. a. (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013.

  3. 3.

    Vgl. Yvonne Wübben: „Forschungsskizze: Literatur und Wissen nach 1945“. In: Borgards (Hg.): Literatur und Wissen (wie Anm. 2), 3–16.

  4. 4.

    Vgl. hierzu etwa Andrea Albrecht: „Zur textuellen Repräsentation von Wissen am Beispiel von Platons Menon“. In: Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin u. a. 2011, 140–163.

  5. 5.

    Besonders anschaulich illustriert von Roland Borgards am Beispiel von Wissenstexten über Tiere; vgl. Roland Borgards: „Tiere und Literatur“. In: ders. (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2016, 225–244, bes. 228–232.

  6. 6.

    Wesentlich befördert wurde die Debatte über ein Wissen der Literatur durch Ottmar Ettes Streitschrift zur Literatur als ein „Speicher von Lebenswissen“ und die zahlreichen Reaktionen und Weiterentwicklungen dieser literaturwissenschaftlichen Position. Ottmar Ette: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften“. In: Wolfgang Asholt/Ottmar Ette (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen 2010, 11–38, hier 12.

  7. 7.

    So etwa Nicolas Pethes: „Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers“. In: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004, 341–372.

  8. 8.

    Vgl. hierzu etwa Manfred Engel: „Traumtheorie und literarische Träume im 18. Jahrhundert. Eine Fallstudie zum Verhältnis von Wissen und Literatur“. In: Scientia Poetica 2 (1998), 97–128 und ders.: „Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur. Am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik“. In: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt/Hartmut Böhme u. a. (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002, 65–91.

  9. 9.

    Nicht erst die feministische (Literatur-)Theorie macht hierauf seit Jahrzehnten aufmerksam, etwa über den Begriff situated knowledge; vgl. u. a. Donna Haraway: „Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“. In: Feminist Studies 14 (1988), 575–599. Bereits frühe Ansätze der kritischen Literaturwissenschaft betonen die notwendige Selbstreflexion des eigenen Standortes und des damit verbundenen Erkenntnisinteresses, also dass Literaturwissenschaft niemals ideologisch voraussetzungslos sein kann (z. B. Peter Bürger: Aktualität und Geschichtlichkeit. Studien zum gesellschaftlichen Funktionswandel der Literatur. Frankfurt a. M. 1977, bes. das Kapitel: „Zum Problem der Aneignung literarischer Texte der Vergangenheit“, 9–17).

  10. 10.

    Ich denke u. a. an Toni Tholens „Philologie als Ethik und Überlebenskunst“, an Christa Bürgers feministisches Projekt einer „Literatur als Lebensimmanenz“, mit der sie die „Literatur in das Leben zurückschreiben“ will, oder auch an Vittoria Borsòs „Wissen für das Leben“, das sie von Agambens Biopolitik ausgehend entwickelt; vgl. Toni Tholen: „Überlebenskunst. Zur Situierung der Philologie im Zeitalter der Biopolitik“. In: Renate Stauf/Cord-Friedrich Berghahn (Hg.): Wechselwirkungen: Die Herausforderung der Künste durch die Wissenschaften. Heidelberg 2014, 323–339 und ders.: „Philologie als Ethik. Eine Skizze“. In: Margot Brink/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Écritures: Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie. Tübingen 2004, 261–274; Christa Bürger: Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart 1990, VII–VIII und dies.: „Diese Hoffnung, eines Tages nicht mehr allein zu denken“. Lebensentwürfe von Frauen aus vier Jahrhunderten. Stuttgart 1996, 1; Vittoria Borsò: Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik. Bielefeld 2014 und dies.: „Bio-Poetik. Das ‚Wissen für das Leben‘ in der Literatur und den Künsten“. In: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven (wie Anm. 6), 223–246.

  11. 11.

    Vgl. Christiane Solte-Gresser: „Materialität der Schrift und des Weltwissens“. In: Vittoria Borsò (Hg.): Weltliteratur. Grundbegriffe der Literaturwissenschaft. Bd. 8. Berlin u. a. 2022 [im Druck].

  12. 12.

    Solche Verfahren bilden zudem einen wichtigen Forschungsgegenstand im Graduiertenkolleg „Europäische Traumkulturen“, das sich mit wissenschaftlichem Traumwissen in der Literatur, mit ästhetischen Strategien der Wissensproduktion in der Traumforschung und mit dem im Traum manifesten wie in künstlerischen Traumdarstellungen ästhetisch generierten Erfahrungs- und Körperwissen beschäftigt; vgl. hierzu das Forschungsprogramm des GRK 2021: https://www.traumkulturen.de/forschung-publikationen/forschungsprogramm.html#acc-2790 (8.1.2021).

  13. 13.

    http://www.marlenestreeruwitz.at (1.9.2021).

  14. 14.

    Man denke nur an den Artikel „Schriftstellerin Marlene Streeruwitz zu 100 Jahren Frauenwahlrecht in Österreich“ (2018): https://www.derstandard.de/story/2000090979409/schriftstellerin-marlene-streeruwitz-zu-100-jahre-frauenwahlrecht (8.3.2021), an das „Mutter-Sein als historische Kategorie“. In: „Schon wieder. Muttertag.“ (2017) oder an das Verhältnis zwischen Vätern und Töchtern in „Prinzessinnenkunde.“ (2018), alle publiziert auf http://www.marlenestreeruwitz.at/texte/ (8.1.2021); eine Liste, die sich problemlos verlängern ließe.

  15. 15.

    Marlene Streeruwitz: „Was Frauen sind und wie sie leben sollen.“: http://www.marlenestreeruwitz.at/werk/was-frauen-sind-und-wie-sie-leben-sollen/ (1.9.2021).

  16. 16.

    Vgl. Marlene Streeruwitz: Flammenwand. Roman mit Anmerkungen. Frankfurt a. M. 2019, 42 (im Folgenden als „FW“ mit Seitenzahl im Haupttext nachgewiesen).

  17. 17.

    Etwa auf die Politik Wolfgang Schüssels oder Thomas Klestils (J 147) oder die Wähler*innenstimmen der FPÖ (J 50); vgl. Marlene Streeruwitz: Jessica, 30. [2004]. Frankfurt a. M. 22006, 147 u. 50 (im Folgenden als „J“ mit Seitenzahl im Haupttext nachgewiesen).

  18. 18.

    Marlene Streeruwitz: „Frag Marlene.“ (2018): https://www.youtube.com/channel/UC26a_w2db28xQKie1c-czIw/featured (3.6.2020). Alle Folgen auch auf http://www.marlenestreeruwitz.at/werk/frag-marlene (3.6.2020). Hier kommt das Thema Massenvergewaltigung übrigens ebenfalls vor, nämlich in der logischen Weiterführung des Skandal-Satzes von Wolfgang Zanger: „Familie ist da, wo gezeugt wird“, der in Folge 5 zum Thema gemacht wird. Streeruwitz: „Frag Marlene – Folge 5“ [7.6.2018]: https://www.youtube.com/watch?v=soVpMw33Egw (3.6.2020).

  19. 19.

    Dieser Satz wird zu Beginn jeder der 11 Folgen wörtlich zitiert aus: Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022, 105: https://www.wienerzeitung.at/_em_daten/_wzo/2017/12/16/171216_1614_regierungsprogramm.pdf (27.5.2021).

  20. 20.

    Etwa auf die religiöse Praxis der Marienverehrung in Folge 10. Streeruwitz: „Frag Marlene – Folge 10“ [8.1.2018]: https://www.youtube.com/watch?v=0EUi2uppEMA (3.6.2020).

  21. 21.

    Beides in Streeruwitz: „Frag Marlene – Folge 11“ [22.11.2018]: https://www.youtube.com/watch?v=P_HW10XkxFQ (3.6.2020).

  22. 22.

    Eine ausführlichere Analyse dieser Passage, ihre Einordnung in den Gesamtkontext des Romans sowie eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern Jessica, 30. als Klassiker der österreichischen Literatur gelten kann, findet sich in Christiane Solte-Gresser: „Marlene Streeruwitz: „Jessica, 30. (2004)“. In: Stefanie Kreuzer (Hg.): Klassiker österreichischer Literatur. Eine ‚Literaturgeschichte‘ in Einzeltextanalysen vom 19. bis 21. Jahrhundert. Paderborn; erscheint voraussichtlich 2022. Einige Beobachtungen zu Jessica, 30. sind dem Beitrag dieses Bandes entnommen.

  23. 23.

    Die zitierte Passage umfasst zweieinhalb Seiten und wurde hier um ca. ein Drittel gekürzt.

  24. 24.

    Wie tiefgreifend Denken und Sprache Jessicas von einer Logik der Ökonomisierung durchdrungen sind, darauf verweisen Annemarie Matthies und Alexander Preisinger in ihrem Beitrag „Literarische Welten der Ökonomisierung. Gouvernementale Schreibweisen im Gegenwartsroman“. In: Thorsten Erdbrügger/Ilse Nagelschmidt/Inga Probst (Hg.): Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit. Arbeitskulturen in medialer Reflexion. Berlin 2013, 135–150, bes. 145–149; vgl. auch „[…] dann bist du total im Plus, dann hast du etwas geleistet […].“ (J 35)

  25. 25.

    Anush Köppert erörtert diese Praktiken überzeugend als Selbsttechnologien im Sinne Foucaults; dies ist nicht zuletzt deshalb naheliegend, weil die Protagonistin diesen Zusammenhang selbst durchschaut. Anush Köppert: Sex und Text. Zur Konstruktion/Produktion weiblicher Sexualität in der Gegenwartsliteratur von Frauen um 2000. Tübingen 2012; vgl. hierzu (J 84).

  26. 26.

    Vgl. hierzu Eva Illouz: Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey [engl. 2013]. Berlin 2013.

  27. 27.

    Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990.

  28. 28.

    Der Roman liefert auch Bezüge zu anderen Serien wie Sex and the City (J 9), Friends (J 241) oder Denver Clan (J 18).

  29. 29.

    Vgl. die Rekonstruktion in Karen Struve: Les artistes de l’intime. Erotische Körper im Spannungsfeld zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Münster 2005, bes. 73–90.

  30. 30.

    Eine vergleichbare Argumentation findet sich auch in der Auseinandersetzung mit einem Text von Charles Bukowski, aus dem wörtlich zitiert wird (J 62–65); vgl. aber auch die Verweise auf Hedda Gabler (1890; UA 1891) von Henrik Ibsen (J 47) und auf Rat Krespel (1819) von E. T. A. Hoffmann (J 220), sowie auf Carson McCullers (J 205) oder Pirandello (J 206). Eine Zusammenstellung der wichtigsten – nicht nur literarischen – intertextuellen Referenzen liefert Loreley French: „Prostitution and Sex Trafficking of Women in Austria: The Legalities and Illegalities of the Sex Trade Meet Marlene Streeruwitz’s Jessica, 30.“ In: Rebecca S. Thomas (Hg.): Crime and Madness in Modern Austria: Myth, Metaphor and Cultural Realities. Cambridge 2008, 150–172, hier 158–160.

  31. 31.

    Die populistische Politik wird, ähnlich wie in Frag Marlene., als „Kasperltheaterskript für die Öffentlichkeit“ (FW 290) bezeichnet; auch hier werden, wie in Frag Marlene. und in Jessica, 30., die staatsfinanzierten Bordellbesuche der Politiker angeprangert. Und auch hier bringt sich die Protagonistin mitunter selbst mit der Figur aus einer Fernsehserie in Verbindung (FW 314).

  32. 32.

    Vgl. beispielsweise: „Es war das Wissen. Das machte es so schwer. Machte so unfähig. So langsam. Einstimmen. Mit den anderen. […] Mitlaufen. Das war schnell. Das war rasant. Lustvoll. […] Jüngerinnen und Jünger der Eindeutigkeiten. […] Die Eindeutigen taten sich zusammen und hoben die Arme wieder. Phallische Gemeinschaft des Gemächts. Totmacher.“ (FW 127)

  33. 33.

    Bürger: „Diese Hoffnung, eines Tages nicht mehr allein zu denken“. Lebensentwürfe von Frauen (wie Anm. 10), 1–33, hier 31.

  34. 34.

    Und wie bei Jessica, 30. die Eiscreme mit Schokoladensauce, so ist es hier die Schokolade, die in der Erinnerung den kaum erträglichen Schmerz des Körperwissens vorübergehend zudeckt (FW 115).

  35. 35.

    Vgl. die „Tragödie“ der Abtreibung: „Sie teilte das Wissen um diesen Ort mit niemandem.“ (FW 56)

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Solte-Gresser, C. (2022). Marlene Streeruwitz’ Erfahrungspoetik des Lebenswissens. In: Dröscher-Teille, M., Nübel, B. (eds) Marlene Streeruwitz. Kontemporär. Schriften zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, vol 12. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-64772-1_5

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