Zu meinem Essay „Aufopferung als Gabe ohne Maß?“ habe ich vier sehr wertschätzende und bedenkenswerte Kommentare mit wichtigen Ergänzungen und Kritik erhalten, für die ich mich bedanken möchte. Ich kann nicht auf alle Punkte eingehen, auf manche nur implizit.

1 Die Freiwilligkeit der Gabe

Mit meinem Vorschlag, die Beziehung zwischen pflegenden Angehörigen und Pflegebedürftigen als Gabe-Beziehung zu thematisieren, wollte ich eine andere Sicht in die moralphilosophische Debatte um die Bewertung von Pflege einbringen, eine Sicht, die mit Hilfe dieses Ideals eine radikale Kritik dieser schwierigen Praxis erlaubt. Pflege ist in nicht-professionellenFootnote 1 Kontexten immer eine Gabe, die als Gabe freiwillig erfolgen muss: Jede Person sollte frei, unabhängig von den Erwartungen anderer, entscheiden können, ob sie eine Angehörige pflegen möchte oder nicht. Das ist unter den gegebenen patriarchalen Bedingungen für Frauen nur schwer möglich, weil ihnen zumeist immer noch die alleinige Verantwortung für die Pflege zugeschrieben wird.

In meinem Diskussionsbeitrag hatte ich den gesellschaftlichen Kontext nur indirekt angesprochen. Clarissa Melzer, die den Pflegenotstand benennt, und Johanna Sinn, die von einer „Vielzahl nicht erwähnter Voraussetzungen materieller und sozialer Art“ für die Erfüllung der von mir benannten Kriterien spricht, haben damit recht, dass die sozialen Umstände, welche die Pflegebeziehung in der Realität prägen, explizit in Betracht genommen werden müssen; auch Marie-Luise Raters spricht das an. Fest steht: Jede Art von Zwang oder eine drängende Erwartungshaltung anderer verhindert, dass eine Gabe-Beziehung entstehen kann. Denn die Gabe kann, wenn sie unter Zwang zustande kommt, nicht mehr als Gabe anerkannt werden, etwa wenn Pflege von außen als Verpflichtung der potenziell Pflegenden betrachtet wird, als eine Selbstverständlichkeit. Zu zeigen, dass die Pflege von Angehörigen aus der Sicht von Außenstehenden niemals als Pflicht oder Selbstverständlichkeit behandelt werden sollte, war ein Anliegen meines Beitrags.

Um von einer Gabe-Beziehung zu sprechen, ist es zunächst gleichgültig, ob die gebende Person die Gabe als initiierende Gabe oder als Gegengabe (z. B. im Generationenverhältnis) versteht. Auch dann, wenn sie als Gegengabe aufgefasst wird und damit einen gewissen Verpflichtungscharakter hat, muss die Wahl der Gabe durch den Gebenden freiwillig erfolgen: Es ist keineswegs zwingend, dass eine glückliche Kindheit mit der Gegengabe der Pflege der alternden Eltern beantwortet wird. Melzer hat recht damit, dass bei einer Gabe-Beziehung zwischen verschiedenen Typen von Verhältnissen unterschieden werden muss.Footnote 2 Eltern sind zur Versorgung ihrer Kinder verpflichtet, und die Kinder können die Gabe nicht ablehnen, so dass diese Beziehung keineswegs per se als Gabe-Beziehung verstanden werden muss.

Dennoch fühlen sich viele (dann schon erwachsene) Kinder von ihren Eltern beschenkt und haben deshalb das Bedürfnis, die Gabe der Elternliebe zu erwidern. Aber auch in solchen Fällen muss das nicht als Selbstverpflichtung zu Pflege aufgefasst werden. Grundsätzlich sind immer auch andere Gegengaben denkbar: Die Gegengabe könnte auch in einer Begleitung und Unterstützung von professioneller Pflege, in einer Unterstützung anderer pflegender Angehöriger, in regelmäßigen Besuchen und/oder in gemeinsamen Unternehmungen bestehen, soweit das möglich ist. In einer Gabe-Beziehung muss der Gebende entscheiden können, welche Art von Gabe aus seiner Sicht angemessen ist – und was er oder sie geben kann. Die Entscheidung, nicht selbst pflegen zu wollen, mag für andere unverständlich, oft auch enttäuschend sein, aber sie ist jedenfalls legitim. Eine Dauerpflege naher Angehöriger sollte also unter derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen nicht als ein Gegenstand moralischer Verpflichtung angesehen werden.Footnote 3

Mit den von mir genannten Kriterien für eine Gabe-Beziehung schildere ich einen Idealzustand, der so in modernen kapitalistischen Gesellschaften kaum realisierbar ist. Wenn man aus finanziellen Gründen zur Pflege von Angehörigen genötigt wird, weil professionelle Pflege unerschwinglich ist, so wird die potenzielle Gabe-Beziehung damit zerstört. Das ist nicht nur ein politisches und soziales, sondern auch ein moralisches Problem, weil damit u. U. eine Intimität erzwungen wird, die eine der beiden Seiten oder gar beide nicht wollen. Eine Gabe-Beziehung kann unter solchen Bedingungen nicht entstehen: Die Pflege muss freiwillig übernommen werden, wenn sie eine Gabe für die pflegebedürftige Person sein soll.

Freiwilligkeit besteht auch dann, wenn man seinem Gewissen folgt. Ein nötigendes Gewissen verstehe ich, anders als Clarissa Melzer, dabei als Ausdruck eines freien Willens: Es ist mein Gewissen, das mich nötigt, es ist meine eigentliche Stimme – es handelt sich dabei um einen ganz anderen Fall, als wenn andere mir vorzuschreiben versuchen, ich stünde in dieser oder jener Pflicht. Das wäre moralisierender Zwang, während ein nötigendes Gewissen mein eigenes HandlungsmotivFootnote 4 ist. Dann können zwar immer noch all die in meinem Text angeschnittenen Probleme mit moralischer Überforderung entstehen, aber die Pflegebeziehung wurde immerhin freiwillig eingegangen.

2 Wer hat welche Verantwortung?

Verantwortung für die Pflege Hilfsbedürftiger hat „die Gesellschaft“, das sind insbesondere die politisch Zuständigen, die Pflege-Institutionen und deren Repräsentant*innen. Raters spricht zu Recht von „einer ungerechten Verteilung von moralischen Lasten“, und auch Johanna Sinn wirft die Frage nach der individuellen Verantwortung der Pflegenden in kritischer Absicht auf. Wo viele Verantwortung tragen, fühlt sich niemand speziell in der Pflicht. Neben den entsprechenden Behörden und Pflegeeinrichtungen hat die Familie – und damit sind hier ausdrücklich auch deren männliche Mitglieder gemeint – in besonderem Maße Verantwortung für die Betreuung ihrer hilfsbedürftigen Mitglieder.Footnote 5 Die nicht-pflegenden Familienmitglieder sollten die Pflegeperson nach Kräften unterstützen und entlasten. Allerdings sind Familien nicht immer so groß, dass es andere Personen gibt, die ebenfalls die Pflege oder wenigstens Verantwortung für die Pflegeperson übernehmen könnten.

Ich habe in meinem Beitrag nichts über Verantwortung gesagt, gehe aber davon aus, dass in dem Moment, in dem jemand die Pflege einer Angehörigen übernimmt, die Pflegende selbst diejenige ist, die ihre mögliche Überlastung am ehesten bemerken kann. Selbstverständlich ist nicht auszuschließen, dass nicht-pflegende Angehörige oder Freundinnen manchmal eine Überlastung eher erkennen können als die Betroffene selbst. In beiden Fällen geht es um genau das, was Marion Seiche am Ende ihres Beitrags deutlich macht: um Kommunikation. Das zweite Anliegen meines Textes bestand in diesem Sinne darin, auf die manchmal ins Maßlose gehende emotionale Belastung und die Anzeichen dafür aufmerksam zu machen – und darauf, dass solche Anzeichen darauf hinweisen, dass die Gabe-Beziehung gestört ist.Footnote 6 Das bedeutet nicht, die Pflegebeziehung umgehend aufzukündigen, sondern zunächst, sich Unterstützung und Entlastung zu verschaffen, was schwierig genug sein kann. Tatsächlich bin ich der Auffassung, dass für das Bemerken – und nur hierfür – hauptsächlich die betroffene pflegende Person selbst verantwortlich ist und in geringerem Maße die pflegebedürftige, sofern sie mental dazu in der Lage ist. Die oder der Pflegende aber hat den engsten Kontakt mit der pflegebedürftigen Person und wird die Anzeichen für den eigenen Unwillen und Überlastung als erste wahrnehmen und spüren. Für die gewünschte Unterstützung und Entlastung und damit auch für die Qualität der Pflege tragen all die besondere Verantwortung, die der pflegenden und/oder der gepflegten Person nahestehen.

3 Moralisch falsch oder nur nicht ratsam?

Marion Seiche weist darauf hin, dass ich einerseits auf Pflichten gegen sich selbst Bezug nehme, also deontologisch argumentiere, andererseits am Ende meines Textes zu dem Ergebnis komme, dass Aufopferung, wenn die pflegende Person nicht auf die eigene Überforderung achtet, nicht moralisch falsch sei, sondern lediglich ethisch nicht ratsam. Tatsächlich habe ich das Konzept der Pflichten gegen sich selbst recht locker in Anspruch genommen, weil ich die Konsequenz, deren Verletzung für moralisch falsch zu halten, nicht teile. Neben „falsch“, „gut“ und „bewunderungswürdig“ sollte im Spektrum moralischer Urteile Platz für moralische Indifferenz sowie weitere Abstufungen und Mischungsverhältnisse sein. Im Falle der massiven Selbstschädigung für einen guten Zweck, nämlich die Pflege anderer, steht das moralisch Kritikwürdige neben dem moralisch Guten, das durch die kritikwürdige dauerhafte Selbstschädigung nicht verschwindet, aber relativiert wird. Wie Marie-Luise Raters scheint auch mir gegenüber Personen, die sich selbst in dieser Weise schädigen, eher eine Haltung des Mitleids angebracht als ein moralisches Verdikt.

4 Kann Dank erwartet oder gar gefordert werden?

Marion Seiche argumentiert dafür, dass die pflegende Person zu Recht Dankbarkeit erwarten kann. Pflegende Personen würden sich permanent selbstschädigend verhalten, wenn sie sich dauerhaft in einer Gabe-Beziehung aufopfern, „die in ihrem eigenen Empfinden nicht ausgeglichen ist und für die ihnen nicht einmal erwartbarer Dank zuteilwird.“ (Seiche). Ich hatte, in Abschnitt 2, geschrieben:

„Die sich aufopfernde Person erwartet keine Gegenleistung, auch nicht Dankbarkeit. Würde sie Dankbarkeit fordern, so handelte es sich um einen berechnenden Austausch und nicht um eine freiwillige Gabe, schon gar nicht um eine Gabe ohne Maß. Dennoch ist Dankbarkeit die angemessene Reaktion auf moralisch gute Aufopferung.“

Das ist etwas spitzfindig. Selbstverständlich wird es in der Regel so sein, dass pflegende Personen von den Pflegebedürftigen Dankbarkeit in dem Sinne erwarten, dass ihnen das Fehlen von Dankbarkeit negativ auffällt und sie insofern in der (vorher nicht unbedingt bemerkten) Erwartung von Dankbarkeit enttäuscht werden. Ich habe selbst dafür argumentiert, fehlende Dankbarkeit als Indiz dafür zu nehmen, dass die Gabe-Beziehung gestört ist. Andererseits ist Dankbarkeit ein Gefühl, über das man wegen seiner Affektivität nicht frei verfügt,Footnote 7 und sie kann deshalb nicht moralisch gefordert werden (Emundts 2017). Fehlende Dankbarkeit ist allerdings als Indiz so stark (und zwar auch dann, wenn es andere Gegengaben gibt, etwa Bezahlung), dass man versucht ist, direkt eine moralische Forderung daraus abzuleiten – und sich oft auch entsprechend verhält, etwa wenn man anderen Undankbarkeit vorwirft. Kalte Bezahlung ohne ein begleitendes dankbares Gefühl kann als Versuch angesehen werden, sich freizukaufen, anstatt dass der Zahlende wirklich das Bedürfnis hätte, die Beziehung wenigstens emotional auszugleichen. Deshalb kann fehlende Dankbarkeit in Seiches Sinn tatsächlich als Aufkündigung der Gabe-Beziehung interpretiert und in einer funktionierenden Gabe-Beziehung legitimerweise erwartet werden. Eine Forderung („Sei nicht undankbar!“) allerdings wird ins Leere gehen: Ein Gefühl kann sich so nicht einstellen. Allenfalls entstehen so Schuldgefühle.

5 Was bedeutet es, sich selbst als „aufopfernd“ zu verstehen?

In meinem Beitrag hatte ich es als „verdächtig“ bezeichnet, wenn Pflegende ihr Tun selbst als Aufopferung ansehen (Abschnitt 3) und im Schlusssatz deutlicher geschrieben, Pflegende sollten kein solches Verständnis ihres eigenen Handelns haben. Hintergrund hierfür ist meine frühere Untersuchung zum „Märtyrerinnenmodell“ (Landweer 1990), in der ich Lebensmodelle von Frauen analysiere, von denen manche einen SekundärgewinnFootnote 8 daraus ziehen, eigene Belange nicht nur gelegentlich, sondern dauerhaft zugunsten der von anderen hintanzustellen (für Männer, für Kinder, für Angehörige, für eine gute Sache etc.). Sie fühlen sich oft anderen, die sich nicht aufopfern, moralisch überlegen. Dieses Gefühl moralischer Überlegenheit halte ich seinerseits für moralisch fragwürdig, auch wenn – wie in unserem Fall – die Pflege moralisch bewunderungswürdig sein mag. Dennoch legt Marion Seiche hier den Finger auf eine wichtige Stelle, da es einen großen Graubereich zwischen einem solch extremen Selbstverständnis als moralische Märtyrerin und einem mal stärkeren, mal schwächeren Überlastungsgefühl bei der Pflege gibt, durch das man den Eindruck hat, sich aufzuopfern. Dieser Eindruck sollte ausdrücklich ein Motiv sein, für Unterstützung und Entlastung zu sorgen. Mit der kategorischen Abweisung solcher Selbstverständnisse als Sich-aufopfernde war ich sicherlich zu protestantisch streng.

Ich hatte meine Überlegungen auf die Pflege von Menschen, die mental zur Erwiderung des Gebens in der Lage sind, beschränkt. Auch hier gibt es kaum wahrnehmbare Abstufungen, die eine Beurteilung der Situation erschweren, etwa wenn die Pflegebedürftige aggressiv und nicht (mehr) dankbar ist. Im Extremfall von Komatösen oder starker Demenz ist eine Gegenseitigkeit der Beziehung kaum mehr möglich. Das bedeutet aber nicht, dass die Pflege als Gabe damit „toxisch“ wird, wie Melzer annimmt, denn die Gabe kann in diesen Fällen weder akzeptiert noch abgelehnt werden. Diese Pflegebeziehungen müssten entweder mit einem erweiterten Begriff der Gegengabe, etwa im Sinne von Resonanz, oder aber mit dem Konzept einer einseitigen Gabe untersucht werden.

Die Diskussion macht deutlich, wie viele Bereiche und Grauzonen eine Theorie der Gabe noch zu bearbeiten hat, wenn man sie konsistent auf die Pflege übertragen will.