Zusammenfassung
Hartmut Rosas Resonanztheorie gehört zu den populärsten der neueren soziologischen Theorien im deutschsprachigen Raum. Während sich die Soziologie in ihren verschiedenen Stoßrichtungen kritisch auf den Resonanzbegriff bezieht, erproben die angewandten Wissenschaften der Sozialberufe einen praktischen Turn der Resonanztheorie und suchen sie für eine gelingende Praxis fruchtbar zu machen. In dieser unmittelbaren Praxisorientierung werden allerdings Rosas theoretische Prämissen als Hypothek übernommen: So ist die Entfremdungsdiagnose, die Rosas These nach aus einer allumfassenden Beschleunigungsdynamik resultiert, der kritische Ausgangspunkt der Resonanztheorie. Statt jedoch dieser kritischen Diagnose auf den Grund zu gehen, wird sich vorschnell mit Blick aufs eigene Praxisfeld der Frage nach der Ermöglichung von Resonanzerfahrungen gewidmet. Der Artikel argumentiert, dass sich Resonanz nur als „Lösung“ ins Spiel bringen lässt, indem sie einem inkonsistenten Entfremdungsbegriff gegenübergestellt wird, der Entfremdung als Fremdheit verharmlost. Die gesellschaftlichen Grundlagen der Entfremdung bleiben derart unberührt. Gegen Rosas trivialisierten Begriff der Entfremdung stellt der Artikel eine Diskussion des Entfremdungsbegriffs: Als Kern der Entfremdung wird mit Karl Marx die Organisation der Arbeit als Lohnarbeit analysiert, und mit Rahel Jaeggi wird der an Marx angelehnte Begriff der Aneignung als Gegenbegriff zur Entfremdung reaktualisiert. Im Anschluss geht der Aufsatz auf die Konsequenzen für die Soziale Arbeit ein, für die sich einige nicht in der eigenen Praxis lösbare Schwierigkeiten ergeben, insofern sie ja mitunter zum Zurechtkommen in fremdbestimmten Lohnarbeitsverhältnissen in der entfremdenden Gesellschaft befähigen will. Der Artikel argumentiert, dass dies auf die Notwendigkeit eines kritischen Diskurses im Sinne einer „public sociology“ zwischen den in der Sozialen Arbeit Tätigen und der Klientel sowie zwischen der Sozialarbeitswissenschaft und der Öffentlichkeit hinausläuft.
Abstract
Hartmut Rosa’s theory of resonance is one of the most popular among the newer sociological theories in German-speaking countries. While sociology with its various approaches refers critically to the term, the applied sciences of the social professions are testing a practical twist on the theory of resonance to make it useful for practice. In this direct practical orientation, Rosa’s theoretical propositions are adopted as a constraint: The critical starting point of the resonance theory is a diagnosis of alienation, which according to Rosa results from the all-encompassing dynamics of acceleration. Instead of addressing this critical diagnosis, the question is hastily posed of how to enable experiences of resonance within one’s own field of practice. The article argues that resonance can only be introduced as a “solution” by contrasting it with an inconsistent term of alienation, which trivializes alienation as foreignness. The societal basis of alienation thereby remains untouched. The article counters Rosa’s trivialized term of alienation with a discussion of the term of alienation: With Karl Marx, the organization of work as wage labor is analyzed as the core of alienation and with Rahel Jaeggi the term of appropriation, which also leans on Marx, is updated as an alternative counter term to alienation. Subsequently, the consequences for social work are discussed. For social work, many difficulties arise from this argument which cannot be solved in one’s own isolated practice as it seeks to help people to cope with heteronomous wage labor circumstances within the alienating society. The article concludes that a critical discourse in the sense of a “public sociology” is needed between those who work in social work and their clients as well as between social work sciences and the public.
Notes
Im Unverfügbarkeits‑Buch (2020, S. 130) reformuliert er dies so: „Unverfügbarkeit, die aus Prozessen der Verfügbarmachung hervorgegangen ist, erzeugt radikale Entfremdung.“
In musiktheoretischer Hinsicht ist Harmonie allerdings mitnichten die Negation von Unterschieden. Konsonanz und Harmonie sind durchaus als Resonanzphänomene aufzufassen.
Ausgerechnet in Lukács’ Verdinglichungstheorie sieht Rosa (2016, S. 546f.) bestätigt, dass sich unter diesem Begriff sowohl Verhältnisse zu Dingen (die als verdinglichte nurmehr als abstrakte Träger von Tauschwert wahrgenommen werden) als auch Verhältnisse zu Menschen (die als verdinglichte nurmehr in ihrer Instrumentalität wahrgenommen werden) subsumieren lassen. Bei Lukács verbindet sich mit der Kategorie der Verdinglichung allerdings eine fundamentale Gesellschaftskritik, während Rosa es im Kontext seiner positiv verstandenen Kategorie der Resonanz für schlüssig hält, sowohl Menschen als auch Dinge unter dieser zu fassen.
„[Die Welt der Menschen und der Dinge] wieder zum Sprechen oder gar zum Singen zu bringen, liegt nicht allein in unserer Macht, aber es liegt auch nicht einfach außerhalb unserer Macht“ (Rosa 2016, S. 762).
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Wulf, P. Aneignung statt Resonanz. Soz Passagen (2024). https://doi.org/10.1007/s12592-024-00507-6
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