Einleitung

Delinquentes, d. h. normabweichendes und (potenziell) strafrechtlich relevantes Verhalten, ist bei Kindern und Jugendlichen ein häufiges, aber in der Regel vorübergehend auftretendes Phänomen (Moffitt 1993). Dementsprechend sind Kinder und Jugendliche in den polizeilichen Kriminalstatistiken, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, insbesondere bei Gewaltdelikten überrepräsentiert (Deutsches Jugendinstitut 2023). Auch in Dunkelfeldstudien finden sich hohe Häufigkeiten von selbst berichtetem delinquenten Verhalten bei Kindern und Jugendlichen. So lag die 12-Monats-Prävalenz in einer Befragung von Schüler_innen der 9. Klasse in Niedersachsen 2019 für Eigentumsdelikte bei 12,6 % und für Gewaltdelikte bei 7,5 % (Krieg et al. 2020). Langfristig gesehen ist es dabei in den letzten 20 Jahren kontinuierlich zu einer Abnahme von Jugendkriminalität gekommen (Deutsches Jugendinstitut 2023). Dementgegen verweisen Daten aus der Schweiz auf eine Zunahme von Jugenddelinquenz seit dem Jahr 2015 (Baier 2021), und auch in Deutschland und Österreich ist ein entsprechender Trend, v. a. bezüglich Gewaltdelikten, seit dem Jahr 2021 zu verzeichnen (Deutsches Jugendinstitut 2023; Statistik Austria 2024). Eine mediale und gesellschaftliche Auseinandersetzung erfolgt insbesondere dann, wenn es zu aufsehenerregenden Fällen von Tötungen durch Kinder und Jugendliche oder gruppenassoziierten Gewaltphänomenen durch Jugendliche kommt, wie etwa im Rahmen der sog. Silvesterkrawalle in Berlin zum Jahreswechsel 2022/2023 (Fegert und Kistler Fegert 2023).

Die vorübergehende Delinquenz im Jugendalter ist vor allen Dingen durch neurobiologische und hormonelle Veränderungen im Jugendalter begründet, in deren Zusammenhang es zu einer veränderten Stressresilienz, insbesondere aber zu einer Zunahme von impulsiven Verhaltensweisen kommt (Konrad et al. 2013). Die Zunahme von delinquenten Verhaltensweisen in dieser Altersphase beschränkt sich bei den meisten Jugendlichen auf vereinzelte Handlungen und einen begrenzten Zeitraum, ohne dass damit eine bedeutsame Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus einhergeht. Bei einigen Kindern und Jugendlichen finden sich jedoch sehr stabile Entwicklungsverläufe von delinquentem Verhalten (Moffitt 1993) mit einer Ersttäterschaft häufig deutlich vor dem Alter von 14 Jahren (Krieg et al. 2020), sodass eine frühe Identifikation dieser Jugendlichen und eine frühe Intervention notwendig erscheinen (Pisano et al. 2017).

Bei diesen Jugendlichen, die einen frühen Beginn oder wiederholtes delinquentes Verhalten zeigen, bestehen in der Regel weitere Auffälligkeiten, wobei insbesondere individuelle Aspekte wie Verhaltensschwierigkeiten, aggressives und impulsives Verhalten, Substanzkonsum und problematische Beziehungen zu Gleichaltrigen bedeutsame Risikofaktoren sind (Assink et al. 2015). Aber auch genetische Einflüsse (Azeredo et al. 2019) und ungünstige Kindheitserfahrungen („adverse childhood experiences“; inklusive familiär-sozialer Umfeldfaktoren) erhöhen nicht nur das Risiko für das Auftreten von psychischen Erkrankungen, sondern auch für delinquentes Verhalten (Hughes et al. 2017; Folk et al. 2021; Pires und Almeida 2023), wobei unklar ist, ob diese direkt die Delinquenz begründen oder bestimmte kriminogene Risikofaktoren wie narzisstische oder psychopathische Eigenschaften verstärken (Craig et al. 2021). Nach neuesten Forschungsergebnissen scheinen aber ungünstige Kindheitserfahrungen und die Entwicklung psychopathischer Eigenschaften („callous-unemotional traits“) in einem engen Zusammenhang zu stehen (Todorov et al. 2023).

Obwohl es sich bei delinquentem Verhalten nicht um eine psychische Erkrankung handelt, sind Kinder- und Jugendpsychiater_innen und -psychotherapeut_innen nicht nur wegen der gemeinsamen Risikofaktoren von Kriminalität und Psychopathologie regelmäßig mit Delinquenz im Kindes- und Jugendalter konfrontiert. So stellen delinquente Handlungen wesentliche diagnostische Kriterien der Störung des Sozialverhaltens in der ICD-10/ICD-11 und im DSM‑5 dar. Aggressives Verhalten ist ein häufiger Vorstellungsanlass. Störungen des Sozialverhaltens gehören international mit einer Prävalenz von 7–15 % (Jungen) bzw. 4–9 % (Mädchen) zu den häufigsten psychischen Erkrankungen (Mohammadi et al. 2021) und gehen mit einer erheblichen psychosozialen Beeinträchtigung einher (GBD 2019 Mental Disorders Collaborators 2022). In der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland lag der Anteil von Störungen des Sozialverhaltens bei 8 % (Jaite et al. 2021). Im Jugendstrafvollzug finden sich Prävalenzen über 50 % (Allroggen 2018; Beaudry et al. 2021). Insgesamt sind psychische Störungen bei inhaftierten Jugendlichen überdurchschnittlich häufig (Allroggen 2018; Beaudry et al. 2021), auch wenn nur bei einem geringen Teil der delinquenten Jugendlichen die zugrunde liegenden psychischen Störungen alleinig delinquenzbegründend sind und nur im Ausnahmefall zu einer Schuldunfähigkeit oder -minderung im Sinne der §§ 20, 21 StGB führen. Dennoch werden Kinder- und Jugendpsychiater_innen gerade im Zusammenhang mit sog. Intensivtäter_innen oder bei Tötungsdelikten regelmäßig zur Gutachtenerstattung bezüglich der medizinischen Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB oder zur Frage der Strafreife gemäß § 3 JGG bei gerade 14-jährigen Jugendlichen oder Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen bzw. Entwicklungsverzögerungen beauftragt (Allroggen 2020). Es gibt allerdings wenig bis kein Wissen darüber, wie häufig Kinder- und Jugendpsychiater_innen in welchen Bereichen gutachterlich tätig werden, und welche Instrumente sie dabei nutzen.

In Bezug auf die Behandlung von delinquenten Jugendlichen und Jugendlichen mit externalisierenden Störungen liegen mittlerweile zahlreiche Untersuchungen vor, die auf die Wirksamkeit von kognitiv-verhaltenstherapeutischen und insbesondere familienbasierten Interventionen hinweisen (Riise et al. 2021; Sheidow et al. 2022; Aazami et al. 2023), wobei teilweise nur geringe Effekte gefunden werden konnten, beispielsweise von Sozialkompetenztrainings (van der Stouwe et al. 2021).

Im Bereich der Erwachsenenforensik gibt es unterschiedliche Publikationen zur psychiatrischen und zur psychotherapeutischen Versorgungssituation (z. B. Huchzermeier und Aldenhoff 2002; Huchzermeier et al. 2022; Köhler und Kallert 2009; Schmidt-Quernheim 2023). Während zuletzt Übersichtsarbeiten zur allgemeinen kinder- und jugendpsychiatrischen bzw. -psychotherapeutischen Versorgungssituation in Deutschland (Jaite et al. 2022; Schepker und Kölch 2023) bzw. im deutschsprachigen Raum (Sevecke et al. 2022; von Wyl et al. 2017) sowie eine Arbeit zur forensischen Versorgungssituation in Österreich (Trabi et al. 2023) veröffentlicht wurden, fehlen empirische Untersuchungen zur speziellen Versorgungssituation von delinquenten Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bisherige Arbeiten beziehen sich entweder ausschließlich auf Erziehungsfähigkeitsgutachten (Pawils et al. 2014) oder spezifische Aspekte von Delinquenz (Fegert et al. 2003).

Ziel dieser Untersuchung war es daher zu erfassen, wie häufig im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie Behandler_innen mit delinquentem Verhalten ihrer Patient_innen konfrontiert sind, welche Versorgungskonzepte bestehen, und in welchem Umfang eine gutachterliche Tätigkeit erfolgt.

Methodik

Um ein erstes Bild der Versorgungs- und Begutachtungssituation von delinquenten Kindern und Jugendlichen in Deutschland zu erhalten, wurde eine bundesweite Online-Befragung durchgeführt. Angesprochen werden sollten (Fach‑)Ärzt_innen, (Rechts‑)Psycholog_innen sowie (Kinder- und Jugendlichen‑)Psychotherapeut_innen (in Ausbildung), die im Laufe ihrer Berufslaufbahn mit Begutachtungen von Kindern und Jugendlichen oder dem Thema Delinquenz und deren Behandlung konfrontiert worden waren (unabhängig von ihrem Erfahrungshorizont). Delinquenz wurde dabei definiert als normabweichendes, (potenziell) strafrechtlich relevantes Verhalten, unabhängig von Deliktschwere oder spezifischen Deliktkategorien (z. B. Sexualdelikte, Eigentumsdelikte, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetzt). In einem ersten Schritt wurden im Rahmen regelmäßiger Sitzungen der Arbeitsgruppe „Forensische Fragestellungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP; www.dgkjp.de/arbeitsgemeinschaften) die interessierenden Inhalte diskutiert und entsprechende Items formuliert. Ein erster Entwurf des Fragebogens wurde ab Juni 2021 zunächst im Raum Rostock und dann auch im Ruhrgebiet im Hinblick auf seine Anwendbarkeit an einer Stichprobe von 14 Personen erprobt. Die daraus resultierenden Erkenntnisse wurden in der Arbeitsgruppe diskutiert und entsprechende Anpassungen am Fragebogen vorgenommen. Die endgültige Version wurde im März 2022 von allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe konsentiert.

Der Fragebogen umfasste zunächst einige administrative bzw. demografische Angaben, z. B. Alter, Geschlecht, Berufsbezeichnung, Aus- bzw. Weiterbildungsgrad sowie Bundesland der Ansässigkeit und Zuständigkeit. Der nächste Abschnitt richtete sich an Personen, die in der Begutachtung von Kindern und Jugendlichen tätig sind. Erfragt wurden u. a. der Schwerpunkt der gutachterlichen Tätigkeiten (z. B. Familienrecht, Strafrecht etc.), im Begutachtungsprozess angewendete standardisierte Instrumente sowie die Häufigkeit, mit welcher Gutachten erstattet wurden. Zwei weitere Sektionen widmeten sich der ambulanten bzw. (teil-)stationären kinder- und jugendpsychiatrischen/-psychotherapeutischen Arbeit. Es sollte u. a. angegeben werden, ob – und wenn ja, wie viele – Patient_innen mit delinquenten Verhaltensweisen behandelt werden, und ob diesbezüglich spezifische Behandlungsmaßnahmen zum Tragen kommen.

Im Folgenden wurden ein Datenschutzkonzept gemeinsam mit den Datenschutzbeauftragten der Universität des Saarlandes und der Universität Ulm erstellt und der Fragebogen digitalisiert (www.soscisurvey.de; SoSci Survey GmbH, München). Nach Prüfung durch die Ethikkommission der Universität Ulm fiel das Forschungsprojekt nicht unter § 15 der Berufsordnung für Ärzt_innen in Baden-Württemberg, sodass kein Votum erforderlich wurde. Zum Zwecke der Rekrutierung wurde über die E‑Mail-Verteiler bzw. Newsletter unterschiedlicher Fachverbände (DGKJP, Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V., Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V., Sektion Rechtspsychologie des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) e. V.) auf die Befragung aufmerksam gemacht. Außerdem wurde im Rahmen des DGKJP-Kongresses 2022 über eine Posterpräsentation zur Teilnahme an der Befragung eingeladen. Die Online-Befragung wurde zum 17.05.2022 freigeschaltet und am 31.12.2022 geschlossen.

Ergebnisse

Beschreibung der Teilnehmenden

Insgesamt wurden 617 Aufrufe (Klicks) für den Online-Fragebogen aufgezeichnet (einschließlich versehentlicher doppelter Klicks und Aufrufe durch Suchmaschinen). Weil aus Datenschutzgründen keine Aufzeichnung von Zeitstempeln erfolgte, war es nicht möglich, den Rücklauf über die Zeit nachzuvollziehen. Insgesamt entschieden sich 217 Personen, den Fragebogen auszufüllen (35,17 %). Hinsichtlich des Geschlechts identifizierten sich 137 Personen (63,1 %) als weiblich, 79 (36,4 %) als männlich und eine Person (0,5 %) als divers. Ungefähr die Hälfte der Teilnehmenden war jünger als 50 Jahre alt (30 Personen (13,8 %) unter 35 Jahren; 79 Personen (36,4 %) zwischen 35 und 49 Jahren). Den größten Anteil bildeten Personen im Alter von 50 bis 65 Jahren (n = 100, 46,1 %), während 8 Personen (3,7 %) älter als 65 Jahre alt waren.

Mehr als die Hälfte aller Teilnehmenden gaben an, die Berufsbezeichnung Fachärztin bzw. Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie zu tragen (n = 148, 68,2 %). Zehn Personen bezeichneten sich als Fachärztin bzw. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (4,6 %) und 16 als sonstige Fachärzt_innen (z. B. Pädiatrie, Allgemeinmedizin, Anästhesie, Physiologie; 7,4 %). Außerdem nahmen 25 Assistenzärzt_innen teil (11,5 %). Sieben Personen (3,2 %) waren Psychologische Psychotherapeut_innen, 17 (7,8 %) Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen und 12 (5,5 %) Systemische (Familien‑)Therapeut_innen. Eine Person (0,5 %) war Psycholog_in in psychotherapeutischer Ausbildung. 26 Personen (12,0 %) gaben an, sonstige (Fach‑)Psycholog_innen zu sein, davon 21 (80,8 %) Rechtspsycholog_innen. Insgesamt 87 Personen (40,3 %) gaben an, mindestens eine spezifische Zertifizierung zu haben. Außerdem bekundeten 49 Personen (22,6 %), durch die DGKJP, eine Person (0,5 %) durch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zertifiziert zu sein. Des Weiteren benannten 40 Personen (18,4 %) (auch) andere einschlägige Zertifizierungen, z. B. für forensische (Kinder- und Jugend‑)Psychiatrie bzw. Sachverständigentätigkeiten der Ärzte- und Psychotherapeutenkammern, Rechtspsychologie (Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs)/BDP) oder in der Jugendhilfe und Jugendstrafrechtspflege. Tab. 1 gibt eine Übersicht der Bundesländer, in welchen die Teilnehmenden ansässig waren, bzw. die in ihrem Einzugsgebiet lagen.

Tab. 1 Verteilung der Bundesländer (Ansässigkeit und Einzugsgebiet) in der Befragungsstichprobe

Gutachtertätigkeit

Mehr als die Hälfte der Befragten (n = 116, 53,5 %) gaben an, Begutachtungen durchzuführen. Während eine Person ihren Tätigkeitsbereich nicht weiter spezifizierte, gaben von den restlichen 115 Personen n = 81 (70,4 %) an, im strafrechtlichen Kontext und n = 98 (85,2 %) (auch) im familienrechtlichen Bereich tätig zu sein (wobei n = 87 (75,5 %) Schwerpunkte bezüglich Unterbringungsfragen bzw. n = 65 (56,5 %) (auch) Gutachten zu Sorge- und Umgangsrecht erstatteten). Insgesamt n = 18 (15,7 %) bzw. n = 39 (33,9 %) beschäftigen sich (auch) mit zivil- und sozialrechtlichen Fragestellungen. Begutachtungen gemäß Transsexuellen-Gesetz führten 5 Personen (4,3 %) durch. Zwei Personen (1,7 %) waren (auch) als Sachverständige zu Fragen des Waffengesetzes bzw. in der Verkehrsmedizin tätig. Zusammenfassend waren die meisten gutachterlich tätigen Befragten in mehreren Gutachtensbereichen tätig, während nur 35 Personen (30,2 %) eine Spezifizierung auf einen bestimmten Kontext aufwiesen. Etwa ein Fünftel der Stichprobe bekundete, stets Kollegialgutachten (d. h. Gutachten gemeinsam mit einer weiteren sachverständigen Fachperson aus dem Bereich der Psychiatrie und/oder Psychologie/Psychotherapie) zu erstellen (n = 23, 20,2 %), während knapp zwei Fünftel (n = 47, 40,5 %) angaben, gelegentlich, ein Fünftel (n = 24, 21,1 %) selten und 20 Personen (17,5 %) nie Kolleg_innen in die Begutachtung einzubeziehen. Von den im Familienrecht tätigen Sachverständigen äußerten sich 85 Personen zu den von ihnen eingesetzten standardisierten diagnostischen Verfahren. Angaben zu angewendeten Prognoseinstrumenten im Bereich Strafrecht machten insgesamt 52 Personen (Tab. 2 und 3).

Tab. 2 Eingesetzte standardisierte Verfahren im Bereich Familienrecht (n = 85)
Tab. 3 Eingesetzte standardisierte Verfahren im Bereich Prognose (n = 52)

Von den insgesamt 81 im Strafrecht tätigen Personen äußerten sich 77 (95,1 %) zur durchschnittlichen Anzahl jährlich erstellter strafrechtlicher Gutachten. Dabei gaben 7 (9,1 %) an, gar keine Gutachten im erkennenden Verfahren erstattet zu haben, während 9 Personen (11,7 %) weniger als 2, jeweils 16 Personen (20,8 %) 2 bis 5 bzw. 5 bis 10, 12 Personen (15,6 %) 10 bis 15 und 17 Personen (22,1 %) mehr als 15 Gutachten erstatteten. Es zeigte sich, dass zertifizierte Personen häufiger Gutachten im erkennenden Verfahren erstatteten als nichtzertifizierte (Chi2(5) = 13,29, p = 0,021), während sich hinsichtlich anderer Gutachtenskontexte dahingehend keine Zusammenhänge fanden. Prognosegutachten wurden pro Jahr seltener erstellt (< 2: n = 18, 23,4 %; 2–5: n = 12, 19,5 %; 5–10: n = 4 (5,2 %), 10–15: n = 5, 6,5 %; > 15: n = 1, 1,3 %). Insgesamt 76 (93,8 %) der im Strafrecht tätigen Sachverständigen machten Angaben zur Häufigkeit gerichtlicher Ladungen. Der größte Anteil davon wurde jährlich weniger als 2‑mal zu gerichtlichen Verhandlungen geladen (n = 34, 44,7 %), weniger als ein Fünftel (n = 13, 17,1 %) 2‑ bis 5‑mal, 7 Personen (9,2 %) 5‑ bis 10-mal und 11 Personen (14,5 %) 10- bis 15-mal. Die Frequenz erstellter Gutachten und gerichtlicher Ladungen im Bereich Familienrecht ist in Tab. 4 dargestellt.

Tab. 4 Häufigkeiten familienrechtlicher Begutachtungen pro Jahr (n = 92)

Ambulante Tätigkeit

Mehr als die Hälfte (n = 120, 55,3 %) der Teilnehmenden gab an, in einer ambulanten Praxis, Fachstelle und/oder Klinikambulanz tätig zu sein, die meisten im Angestelltenverhältnis (n = 82, 71,9 %), etwa ein Drittel freiberuflich (n = 36, 31,6 %). Das Mindestalter ambulanter Patient_innen lag zwischen 0 und 21 Jahren (M = 4,00 Jahre, SD = 3,67 Jahre, Median = 3,00 Jahre), das Höchstalter zwischen 17 und 99 Jahren (M = 23,36 Jahre, SD = 12,99 Jahre, Median = 21,00 Jahre). Für fast alle ambulant Tätigen war eine Delinquenz bzw. eine Suchtmittelproblematik kein Ausschlusskriterium zur Behandlung (n = 110, 98,2 % bzw. n = 102, 91,1 %). Der Anteil von Patient_innen, die delinquentes Verhalten zeigen oder gezeigt haben, wurde von den ambulant tätigen Fachkräften auf durchschnittlich 11,1 % geschätzt, wobei sich eine Spanne von 0–100 % abbildete. Die durchschnittlichen Anteile von bereits strafrechtlich verurteilten oder gar inhaftierten Patient_innen war geringer (3,7 % bzw. 1,8 %). Weniger als ein Drittel (n = 33, 27,5 %) berichtete, spezielle Behandlungsangebote für delinquente Kinder und Jugendliche anzubieten (Tab. 5). Abb. 1 stellt die genannten Schwerpunkte der Behandlungskonzepte dar (sonstige umfassten z. B. Sexualtherapie, Ressourcenaktivierung, Akzeptanz- und Commitment-Therapie, Motivationssteigerung). Drei Viertel (n = 25, 75,8 %) der Befragten gaben an, dass diese Behandlungsoptionen multiprofessionell durchgeführt werden.

Tab. 5 Spezielle Behandlungsangebote für delinquente Kinder und Jugendliche im ambulanten (n = 33) bzw. (teil-)stationären (n = 22) Setting
Abb. 1
figure 1

Schwerpunkte der Behandlungskonzepte im ambulanten Setting

Die Verteilung genannter Kooperationspartner_innen ist in Abb. 2 dargestellt (Sonstige umfassten z. B. Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt, Familienhilfe, ambulante Jugendhilfe, Polizei, Gerichte). Abschließend gab nur ein geringer Anteil der ambulant tätigen Personen an, Behandlungen nach § 35 BtMG anzubieten (n = 4, 4,2 %), während geringfügig mehr Teilnehmende (n = 7, 7,4 %) berichteten, gesonderte haftvermeidende oder Auflagentherapien zur Delinquenzreduktion durchzuführen.

Abb. 2
figure 2

Verteilung von Kooperationspartner_innen bei ambulant tätigen Fachkräften (%)

(Teil-)stationäre Tätigkeit

Knapp die Hälfte (n = 96, 44,2 %) der Teilnehmenden gab an, in einer Klinik oder Tagesklinik tätig zu sein, die meisten im Angestelltenverhältnis (n = 91, 97,8). Das Mindestalter (teil-)stationärer Patient_innen lag zwischen 0 und 18 Jahren (M = 6,62 Jahre, SD = 4,38 Jahre, Median = 6,00 Jahre), das Höchstalter zwischen 12 und 99 Jahren (M = 20,44 Jahre, SD = 10,67 Jahre, Median = 18,00 Jahre). Ähnlich wie bei den ambulant Tätigen war auch bei den (teil-)stationären Fachkräften eine Delinquenz bzw. eine Suchtmittelproblematik im Großteil der Fälle kein Ausschlusskriterium zur Behandlung (n = 86, 94,5 % bzw. n = 77, 84,6 %). Der Anteil von Patient_innen, die delinquentes Verhalten zeigen oder gezeigt haben, wurde von den (teil-)stationär tätigen Fachkräften auf durchschnittlich 11,7 % geschätzt, wobei sich auch hier eine Spanne von 0–100 % abbildete. Die durchschnittlichen Anteile von bereits strafrechtlich verurteilten oder gar inhaftierten Patient_innen waren geringer (4,0 % bzw. 1,8 %). Nur gut ein Viertel der (teil-)stationär tätigen Befragten (n = 22, 26,5 %) berichtete, spezielle Behandlungsangebote für delinquente Kinder und Jugendliche anzubieten (Tab. 5). Abb. 3 stellt die genannten Schwerpunkte der Behandlungskonzepte dar (sonstige umfassten z. B. Eltern-Kind-Interaktionstherapie, Gruppentherapie, Multisystemische Therapie). Alle Befragten gaben an, dass diese Behandlungsoptionen multiprofessionell durchgeführt werden.

Abb. 3
figure 3

Schwerpunkte der Behandlungskonzepte im (teil-)stationären Setting

Die Verteilung genannter Kooperationspartner_innen ist in Abb. 4 dargestellt (Sonstige umfassten z. B. Gerichte, JVA, Jugend- und Erwachsenenmaßregelvollzug). Schließlich gab auch hier nur ein geringer Anteil der (teil-)stationär tätigen Personen an, Behandlungen nach § 35 BtMG anzubieten (n = 7, 9,1 %) oder gesonderte haftvermeidende oder Auflagentherapien zur Delinquenzreduktion durchzuführen (n = 8, 10,4 %). Gesonderte Therapieangebote unter strafrechtlichen Gesichtspunkten, die nicht im Maßregelvollzug angesiedelt sind, wurden von 7 Personen (9,1 %) angegeben (z. B. „Therapie statt Strafe“, geschlossene Jugendhilfe, Einzelfallmaßnahmen, Kontakte zu ProFamilia bzw. Sexualberatung, Musiktherapie, stationäre Suchtbehandlung auch ohne § 35 BtMG, stationäres Behandlungskonzept für jugendliche Sexualstraftäter).

Abb. 4
figure 4

Verteilung von Kooperationspartner_innen bei (teil-)stationär tätigen Fachkräften (%)

Diskussion

Dies ist die erste deutschlandweite Befragung, die im Fachgebiet Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie die Versorgungssituation von Kindern und Jugendlichen mit delinquentem Verhalten sowohl in Bezug auf Behandlungsangebote als auch auf forensische Begutachtungen erfasst.

Gutachterliche Tätigkeit

In Bezug auf das Erstellen von Gutachten zeigte sich ein gemischtes Bild hinsichtlich des Umfangs und der Schwerpunkte der gutachterlichen Tätigkeit. So erstatteten über die Hälfte der Befragten Gutachten, wobei die Schwerpunkte im Bereich des Strafrechts und des Familienrechts lagen. In anderen Rechtsgebieten wie Zivil- und Sozialrecht wurden deutlich seltener Gutachten erstellt. Insgesamt schien nur ein geringer Grad der Spezialisierung vorzuliegen, da von vielen Befragten Gutachten aus verschiedenen Rechtsgebieten erstattet wurden. Andererseits zeigte sich aber auch, dass im Bereich des Strafrechts im erkennenden Verfahren von über der Hälfte scheinbar regelmäßig, nämlich mehr als 5 Gutachten/Jahr, erstattet wurden, und von immerhin einem Fünftel der Gutachter mehr als 15 Gutachten jährlich erstellt wurden, was auf eine gewisse Spezialisierung in diesem Bereich hindeutet. Dies trifft noch einmal mehr auf Prognosegutachten zu, die lediglich von einem Zehntel der Gutachter mit einer gewissen Regelmäßigkeit erstattet wurden. Aufgrund der besonderen inhaltlichen Herausforderungen, die mit der Prognose von straffälligem Verhalten bei Jugendlichen verbunden sind, liegt hier möglicherweise eine gewisse Spezialisierung bzw. Fokussierung auf einige wenige Sachverständige vor, zumal Anlässe für Prognosegutachten im Jugendalter deutlich seltener sind als im Erwachsenenalter (Hausam et al. 2023).

Familienrechtliche Gutachten wurden durch die Befragten in der vorliegenden Studie durchschnittlich seltener erstattet als Strafrechtsgutachten. Gut zwei Drittel der Befragten machten maximal 5 Gutachten/Jahr, und nur jede_r zehnte Gutachter_in machte mehr als 10 Gutachten im Sorge- und Umgangsrecht. Dies ist deutlich weniger als in der Studie von Pawils et al. (2014), in der die Befragten jährlich durchschnittlich 13,8 Gutachten zur Erziehungsfähigkeit machten. Allerdings richtete sich diese Studie auch gezielt an Sachverständige, die in diesem Bereich tätig sind, und die Teilnehmer waren überwiegend Psycholog_innen.

Bezüglich der eingesetzten Instrumente zeigte sich bei den Prognoseverfahren, dass deutliche Schwerpunkte auf der Verwendung der Hare Psychopathy Checklist-Youth Version (PCL-YV) sowie auf dem Structured Assessment of Violence Risk for Youth (SAVRY), der Assessing Risk for Violence (HCR 20) und dem Violence Risk Appraisal Guide-Revised (VRAG-R) lagen, insgesamt aber eine Vielzahl von Instrumenten eingesetzt wurde. Die einzige den Autor_innen bekannte Untersuchung zu Jugendlichen bezüglich dieses Themas aus der Schweiz zeigt vergleichbare Ergebnisse insofern, dass auch dort die PCL-YV und der SAVRY häufig eingesetzt wurden (Aebi et al. 2019). Aus den hier vorliegenden Daten war nicht zu differenzieren, inwieweit die benannten Instrumente auch für den ihnen vorgegebenen Altersbereich angewendet wurden. So könnte die Nutzung von Verfahren, die grundlegend für Erwachsene konzipiert worden waren (z. B. HCR 20, VRAG-R) einerseits damit zusammenhängen, dass die Altersbegrenzungen nicht beachtet wurden, aber andererseits auch darauf zurückzuführen sein, dass auch Heranwachsende (über 18-Jährige) durch die Befragten begutachtet worden waren. Während Letzteres nicht explizit erfragt wurde, aber sich dahingehend Analogien zu den Zielgruppen der ambulanten Tätigkeit vermuten lassen, kann zum Einsatz von ursprünglich für Erwachsene entwickelten Prognoseinstrumenten bei Minderjährigen und Heranwachsenden auf Literatur verwiesen werden, welche eine ähnliche prädiktive Güte nahelegt (z. B. Barra et al. 2018; Vincent et al. 2019).

Hinsichtlich der verwendeten Diagnostikverfahren im Familienrecht wurde wie auch in der Untersuchung von Pawils et al. (2014) v. a. der Family-Relations-Test (FRT) benannt, aber auch das Erziehungsstil-Inventar (ESI) wurde sehr häufig angegeben. Insgesamt scheint die Heterogenität etwas geringer zu sein als in der Untersuchung von Pawils et al. (2014), da nur 4 Verfahren (neben dem FRT und dem ESI noch das Eltern-Belastungs-Screening zur Kindeswohlgefährdung (EBSK) und das Eltern-Belastungs-Inventar (EBI)) von vielen Gutachter_innen als maßgeblich eingesetzte Instrumente angegeben wurden.

Zusammenfassend deuten die Ergebnisse der Untersuchung darauf hin, dass die Gutachtentätigkeit bei vielen Befragten zwar regelmäßig erfolgt, aber nicht die ausschließliche Tätigkeit ist. Nur bei wenigen Gutachter_innen scheint dies der Fall zu sein. Dies kann einerseits natürlich Ausdruck einer nur geringen Spezialisierung und möglicherweise auch Professionalisierung sein. Andererseits scheinen Gutachter_innen (überwiegend) auch noch klinisch tätig zu sein, was durchaus positiv zu werten ist, wenn neben gutachterlichen auch klinische Kompetenzen in die Bewertung einfließen. Auch der hohe Anteil an vorliegenden Zertifizierungen spricht für eine breite Professionalisierung und Qualifizierung in diesem Bereich, wobei zertifizierte Gutachter_innen v. a. im Strafrecht häufig sind. Während die vorliegende Erhebung für die Anwendung von (teil)standardisierten Diagnoseverfahren bei Begutachtungen im Rahmen des Familienrechts eine im Vergleich zu Pawils et al. (2014) geringere Heterogenität der Diagnoseinstrumente ausweist, bestätigte sich für das Prognoseverfahren die bereits bei Wertz et al. (2023) generell für Schuld- und Prognosegutachten berichtete große Verfahrensheterogenität auch spezifisch für den Kinder- und Jugendbereich.

Versorgung delinquenter Kinder und Jugendlicher

Im Bereich der ambulanten und teil-/stationären Versorgung wurde angegeben, dass etwa 11 % der vorgestellten Kinder und Jugendlichen, also durchaus ein substanzieller Anteil, delinquentes Verhalten zeigte. Dabei stellten zwar delinquentes Verhalten ebenso wie Suchterkrankungen keinen Ausschluss für eine Behandlung dar, jedoch scheinen sowohl ambulant als auch teil-/stationär kaum spezialisierte Angebote für delinquente Kinder und Jugendliche zu bestehen. Ob hier wenig Bedarf in der Versorgung gesehen wird oder es auch an Konzepten mangelt, wie spezialisierte Angebote aussehen können, kann aus den Daten nicht abgeleitet werden. Genannte Behandlungsschwerpunkte umfassten dabei neben Psychoedukation und Elterncoaching bzw. -beratung v. a. allgemeine verhaltenstherapeutische und systemische sowie zu einem gewichtigen Anteil auch medikamentöse Behandlungsansätze. Dabei ergaben sich zwischen ambulanter und teil-/stationärer Behandlung keine wesentlichen Unterschiede. Bei den Schwerpunkten der Behandlung zeigten sich allerdings deutliche Unterschiede zwischen dem ambulanten und teil-/stationären Setting. In beiden Settings dominierten kognitive Umstrukturierung und Selbstwertsteigerung. Familienfokussierte Ansätze spielten jedoch, anders als in der ambulanten Behandlung, im teil-/stationären Setting keine bedeutsame Rolle, obwohl sich diese neben kognitiven Verfahren als besonders bedeutsam in der Intervention bei delinquentem Verhalten gezeigt haben (Riise et al. 2021; Sheidow et al. 2022; Aazami et al. 2023). Gleichzeitig fanden sich im ambulanten Setting aber häufig auch Angebote wie Anti-Aggressionstraining oder Sozialkompetenztraining, die wahrscheinlich weniger wirksam sind (van der Stouwe et al. 2021).

Positiv zu werten ist, dass Behandlungen von Kindern und Jugendlichen in der Regel in einem Netzwerk stattzufinden scheinen, in das neben den Sorgeberechtigten auch Jugendhilfe, Jugendgerichtshilfe, Schulen, weitere Therapeut_innen und andere Institutionen eingebunden sind. Kaum eine Rolle in der beschriebenen klinischen Versorgung spielten spezifisch forensische Angebote wie die Behandlung nach § 35 BtMG oder Auflagentherapie, die auf wenige Anbieter_innen begrenzt zu sein scheinen. In diesem Zusammenhang dürfte sicherlich zu diskutieren sein, inwiefern etwaige Unsicherheiten in Bezug auf eine Behandlung im „Zwangskontext“ dazu beitragen könnten, dass entsprechende Behandlungen gar nicht erst angeboten werden (Oelkers-Ax 2019).

Limitationen

Diese erste Befragung zur Versorgung von delinquenten Kindern und Jugendlichen und zur Begutachtungspraxis weist als wesentliche Limitation auf, dass es sich um eine Selbstauskunft der Befragten handelt und die Angaben eher dem Empfinden und der Wahrnehmung der Teilnehmenden entsprechen als objektiven Daten. Gerade in Bezug auf die Häufigkeit von delinquentem Verhalten wird dieses möglicherweise unterschätzt, weil es im Rahmen der regulären Behandlung nicht aktiv exploriert oder für die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung als nicht bedeutsam eingeschätzt wird. Eine weitere Verzerrung der Einschätzung kann auf die recht breite Definition von delinquentem Verhalten zurückgehen. In zukünftigen Studien sollte daher auch erfasst werden, wie häufig und welche Art von Delinquenz ein Vorstellungsgrund in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist. In Bezug auf die Behandlung können zudem keine Rückschlüsse auf die Intensität und Qualität der durchgeführten Maßnahmen gezogen und abgeleitet werden, wie eine Auswahl der Patient_innen erfolgte, die an diesen teilnahmen. Dies gilt ebenso für die Qualität der Begutachtungen und die Kompetenzen in Bezug auf die eingesetzten standardisierten Instrumente. Eine weitere Limitation ist, dass keine Aussage über die Repräsentativität der Stichprobe getroffen werden kann. So besteht die Möglichkeit, dass durch die Befragung insbesondere forensisch interessierte Personen angesprochen wurden und somit der Anteil der Befragten, die Gutachten erstatten oder spezialisierte Behandlungsangebote anbieten, deutlich überschätzt, während die Prävalenz betreffend Ausschluss delinquenter Kinder- und Jugendlicher unterschätzt wird. Zudem wurden zwar sowohl ambulant als auch (teil-)stationär tätige Personen erreicht, bei den ambulant tätigen Personen waren die meisten aber angestellt tätig, was ein Hinweis auf eine Beschäftigung in einer Institutsambulanz sein kann und somit niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater_innen oder Psychotherapeut_innen seltener erreicht wurden. Dies könnte dazu geführt haben, dass eine mögliche weitere Heterogenität von Versorgungs- und Behandlungsangeboten unterschätzt wurde. Zudem nahmen v. a. Kinder- und Jugendpsychiater_innen an der Befragung teil, während andere Berufsgruppen wie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen deutlich unterrepräsentiert waren. Von den 2776 in Deutschland tätigen Kinder- und Jugendpsychiater_innen wurden dabei 148, also gut 5 %, erreicht. Nimmt man die gemäß Mitteilung der Bundesregierung im Jahr 2022 genannte Zahl von rund 7000 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen als ReferenzFootnote 1, so stellt sich der erreichte Anteil von 0,24 % als äußerst gering dar. Die Überrepräsentation medizinischer Fachkräfte könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Befragung über entsprechende ärztliche Verteiler und Veranstaltungen (z. B. DGKJP-Kongress) prominenter beworben worden war.

Schlussfolgerungen

Trotz dieser Limitationen ergeben sich aus der Befragung zwei zentrale Aspekte bzw. Erkenntnisse, die jedoch in weiteren Studien noch einer differenzierten Betrachtung bedürfen. Zum einen zeigt sich, dass Kinder- und Jugendpsychiater_innen und -psychotherapeut_innen regelmäßig mit delinquenten Kindern und Jugendlichen zu tun haben, gleichzeitig aber nur wenige spezialisierte Behandlungsangebote vorliegen. Hier sind weitere Untersuchungen notwendig zu den Gründen, warum Delinquenz nur relativ selten speziell in der Behandlung adressiert wird, bzw. welche Hemmnisse diesbezüglich bestehen, insbesondere aber auch, welche Maßnahmen sich in der klinischen Regelversorgung als praktikabel und wirksam erweisen, und inwieweit hier eine Verankerung in der Regelversorgung erforderlich ist oder möglicherweise – ähnlich zur Erwachsenenforensik – der Aufbau spezialisierter Ambulanzen außerhalb des Maßregelvollzugs sinnvoll sein kann. Zum anderen zeigt sich, dass bezüglich der gutachterlichen Tätigkeit eine große Heterogenität besteht in Bezug auf die Quantität der erstellten Gutachten als auch auf die eingesetzten Instrumente. Hier sind weitere Untersuchungen bezüglich der Auswirkungen auf die Qualität der Gutachten notwendig, aber auch, wie ein Wissenstransfer bzw. eine Professionalisierung gesichert werden kann, wenn nur gelegentlich Gutachten erstattet werden. Die Gutachtenstätigkeit ist dabei nicht auf Kinder- und Jugendpsychiater_innen beschränkt. Gemäß § 43, Abs. 2 JGG soll, wenn erforderlich „(…) eine Untersuchung des Beschuldigten, namentlich zur Feststellung seines Entwicklungsstandes oder anderer für das Verfahren wesentlicher Eigenschaften“ herbeigeführt werden und „nach Möglichkeit (…) ein zur Untersuchung von Jugendlichen befähigter Sachverständiger mit der Durchführung der Anordnung beauftragt werden“. Dies bedeutet, dass insbesondere für Fragen des Entwicklungsstandes im Rahmen der Feststellung der Strafreife auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen für die Begutachtung infrage kommen. In den Weiterbildungsordnungen für Kinder- und Jugendpsychiater_innen und -psychotherapeut_innen bzw. Rechtspsycholog_innen, aber auch in den Ausbildungscurricula für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen spielen forensische Fragestellungen bei Kindern und Jugendlichen eine nur sehr marginale Rolle und sollten aufgrund ihrer Relevanz eine größere Bedeutung erhalten. In diesem Zusammenhang sollten auch Standards für die strafrechtliche Begutachtung von Jugendlichen und Heranwachsenden durch kinder- und jugendpsychiatrische bzw. psychologische/psychotherapeutische Fachgesellschaften und Berufsverbände entwickelt werden.