Möglicherweise haben MS-Patienten mit einer Antikörpertherapie gegen CD 20 ein erhöhtes Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf. Hinweise darauf liefert eine globale Studie vor allem für Rituximab.

Als SARS-CoV-2 im Frühjahr die Welt eroberte, waren die Befürchtungen unter MS-Patienten besonders groß, schließlich nehmen viele immunmodulierende oder immunsupprimierende Arzneien (disease modifying therapies, DMT). Diese könnten das Immunsystem im Falle einer Infektion schwächen und schwere Verläufe begünstigen. Auf der anderen Seite helfen bestimmte Immunmodulatoren vielleicht sogar, eine überschießende Immunreaktion auf das Virus zu unterbinden und schwere Verläufe zu verhindern. Zwei auf dem virtuellen Kongress der MS-Gesellschaften ECTRIMS und ACTRIMS vorgestellte Registeranalysen liefern Argumente in beide Richtungen: Eine Analyse mit Angaben aus 21 Ländern fand ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe unter Antikörpern gegen CD 20, eine französische Auswertung ein geringeres Risiko unter MS-Basismedikamenten.

Vierfach häufiger auf die Intensivstation

Die globale Analyse bezog sich auf Daten von 1.540 Patienten, die mithilfe der "Global Data Sharing Initiative" erhoben wurden. Sie stammten zum Teil aus nationalen Registern, zum Teil haben Ärzte die Angaben auch direkt über eine Online-Plattform eingegeben, berichtete Dr. Steve Simpson-Yap von der Universität in Melbourne, Australien.

Die Patienten waren recht repräsentativ für MS-Kranke: zumeist jüngere Frauen mit einem schubförmigen Verlauf und noch relativ wenig Behinderung. Alle hatten eine bestätigte oder vermutete SARS-CoV-2-Infektion, rund 20 % mussten deswegen in eine Klinik, 5 % auf die Intensivstation, 48 Patienten (3 %) starben.

Rund ein Drittel wurde mit Antikörpern gegen CD 20 behandelt (19 % mit Ocrelizumab, 13 % mit Rituximab), die übrigen MS-Arzneien hatten Anteile von jeweils 3-12 %, rund 12 % erhielten keine DMT.

Von einem schweren Verlauf betroffen - definiert als Klinikeinweisung, Intensivbehandlung oder Tod - waren vor allem ältere Patienten, solche mit ausgeprägten Behinderungen oder einer progredienten MS. Soweit bestätigen die Daten frühere Untersuchungen.

Adjustierten die Ärzte für diese bekannten Risikofaktoren, so mussten MS-Kranke mit Rituximab zu 60 % häufiger in eine Klinik als Patienten unter Dimethylfumarat (DMF), wurden nur bestätigte COVID-19-Fälle berücksichtigt, war die Rate sogar doppelt so hoch (Abb. 1). Für Ocrelizumab ergab sich eine um 20 % erhöhte Rate für Klinikeinweisungen, allerdings war die Differenz zu DMF nicht signifikant. Patienten ohne MS-Arzneien mussten zu 25 % öfter in eine Klinik als solche mit DMF.

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Klinikeinweisungen unter den verschiedenen Therapien, im Vergleich zur Behandlung mit Dimethylfumarat (gestrichelt: Berücksichtigung ausschließlich bestätigter COVID-19-Fälle; nach Vortrag Simpson-Yap)

MS-Kranke unter Ocrelizumab wurden dreieinhalbmal, solche mit Rituximab viermal so oft auf einer Intensivstation behandelt wie solche mit DMF, eine mechanische Beatmung war jeweils drei- und siebenfach öfter nötig.

Poolten die Forscher um Simpson-Yap die Daten der beiden Anti-CD-20-Therapien, so war die Rate von Klinikeinweisungen um 50 % erhöht, die für eine Intensivbehandlung um das Zweieinhalbfache und für die Beatmung um das Dreifache. Wurde nicht mit DMF, sondern Natalizumab verglichen, ergab sich ein ähnlicher Trend. Allerdings schien das Sterberisiko unter den Anti-CD-20-Therapien nicht erhöht zu sein, was vielleicht auch an der geringen Zahl der Verstorbenen gelegen haben könnte. Für andere MS-Medikamente ergaben sich praktisch keine signifikanten Zusammenhänge zwischen MS-Therapie und COVID-19-Verlauf.

Doch weshalb ist Rituximab eher mit einem ungünstigen Verlauf von COVID-19 assoziiert als Ocrelizumab? Da Rituximab stärker als Ocrelizumab an CD 20 bindet, dürfte dies zu einer kräftigeren Lymphozytendepletion führen, welche das Immunsystem stärker beeinträchtigt, vermutet Simpson-Yap.

Der MS-Experte verwies außerdem auch auf die Studienergebnisse einer Registeranalyse aus Italien (Musc-19-Studie) mit knapp 600 an COVID-19 erkrankten MS-Patienten, welche ebenfalls ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf unter CD-20-Antikörpern ergeben hatte.

Schwere Verläufe unter Basistherapeutika am seltensten

Zu einem - auf den ersten Blick - anderen Ergebnis kam Dr. Celine Louapre von der Klinik Pitié-Salpêtrière in Paris mit einer aktualisierten Auswertung des französischen Covisep-Registers. Erste Daten zu 347 MS-Patienten mit COVID-19 wurden Ende Juni publiziert, auf der Tagung konnte Louapre Angaben zu 405 Betroffenen vorstellen; von diesen erhielten rund 16 % Anti-CD-20 Therapien. Auch in dieser Analyse entwickelten etwa 20 % einen schweren COVID-19-Verlauf und 3 % starben.

Louapre und Mitarbeiter schauten ebenfalls nach Auswirkungen der DMT, gliederten die einzelnen Mittel jedoch entsprechend ihrer immunsuppressiven Wirkung in drei Gruppen und verglichen die behandelten Patienten mit jenen ohne DMT - der Bezugspunkt war also nicht eine DMF-Behandlung wie in der Analyse von Simpson-Yap. Alle drei Gruppen zeigten eine geringere Rate an schweren COVID-19-Verläufen als unbehandelte Patienten - was auch daran liegen dürfte, dass unbehandelte MS-Kranke meist älter sind und eine fortgeschritten progrediente MS mit mehr Behinderungen haben.

Unter den drei Medikamentengruppen war das Risiko für einen schweren Verlauf jedoch am geringsten mit älteren Basistherapeutika (Interferonen und Glatirameracetat) und am höchsten mit lymphozytendepletierenden Antikörpern. Auf den zweiten Blick scheinen die Resultate also eher die Analyse von Simpson-Yap zu bestätigen als ihr zu widersprechen.

Eine andere Erklärung wäre, dass immunmodulierende Basistherapeutika tatsächlich das Risiko für einen schweren Verlauf senken. Solche Fragen sind wohl nur in weiteren Analysen mit noch deutlich mehr Patienten zu klären.

MS virtual 2020. 8th Joint ACTRIMS-ECTRIMS Meeting, 11.-13.9.2020. SS02 - Special Session: COVID-19