Zusammenfassung
Der Beitrag befasst sich mit den methodologischen Implikationen von Forschungen zum Körpergedächtnis anhand von Erinnerungspraktiken in Polizeivernehmungen, Protestsituationen und wissenschaftssoziologischen Untersuchungen. Ziel ist es, eine dreifache Prozessualität in der soziologischen Forschung von Erinnerungspraktiken näher zu bestimmen und sichtbar zu machen. Ausgehend von iterativen Praktiken des sozialen Erinnerns als Faktor der Stabilisierung und Kontinuierung des Sozialen, resultieren diese Prozessualitäten aus den temporalen und modalen Partikularitäten verschiedener Arten von empraktischem und interkorporalem Körpergedächtnis. Letzteres wird aufgrund der Sprachabhängigkeit von Wissenschaft im Forschungsprozess notwendigerweise in deklarative und episodische Gedächtnisformen überführt. Aus dieser Relation zwischen implizit-verkörpertem und expliziert-diskursivem Gedächtnis ergibt sich eine erste Prozessualität. Um Gedächtnisbestände im Allgemeinen und verkörperte Bestände im Besonderen sozial wahrnehmbar zu machen, müssen sie ferner in kommunikative Akte überführt werden, was eine, für alle Beteiligten beobachtbare zweite Prozessualität erzeugt. Hier manifestieren sich Erinnerungsformen in transsituativen und diskursiven gesellschaftlichen Ordnungen des Erlebens, Deutens und Wissens und werden in Dokumentations- und Archivierungsformen übertragen. Diese ersten beiden Prozessualitäten sind vor allem analytisch unterscheidbar, überschneiden sich empirisch aber sehr oft, so auch in unseren empirischen Beispielen. Schließlich geht es um eine dritte Prozessualität, die in der rekonstruktiven Arbeit der Soziolog*innen zum Ausdruck kommt und oftmals implizit das eigene Körpergedächtnis als interpretative Ressource zur Anwendung bringt. Um diese dreifache Prozessualität der Erforschung des Körpergedächtnisses darzulegen und ihre soziologische Relevanz herauszuarbeiten, beziehen wir uns auf Konzepte der phänomenologischen und ethnomethodologischen Gedächtnisforschung.
Abstract
This article deals with the methodological implications of research on body memory by drawing on an analysis of memory practices in police interrogations, protest situations and sociolog-ical studies. The aim is to describe and visualize a threefold processuality as it takes place in sociological research on memory practices. Starting from that premise that iterative practices of social memory are a factor of stabilization and continuation of the social, these processualities result from the temporal and modal particularities of different types of empractical and intercorporeal body memory. The articulation of scientific research depends on language, hence, the latter is necessarily transferred into declarative and episodic forms of memory. A first processuality emerges from this relation between implicitly embodied and explicitly discursive memory. In order to make memory stocks in general (and embodied stocks in particular) socially perceptible, they must also be transferred into communicative acts, which creates a second processuality that can be observed by all those involved. Here, forms of memory manifest themselves in transsituational and discursive social orders of experience, as well as acts of interpreting and knowing, and are transferred to forms of documentation and archiving. These first two processualities can be distinguished analytically, but often overlap empirically, as in the empirical examples we examine here. Finally, a third processuality is expressed in the reconstructive work of sociologists, which often implicitly uses personal body memory as an interpretive resource. In order to present this triple processuality of research on body memory and determine its sociological relevance, we draw on concepts from phenomenological and ethnomethodological memory research.
Alle Autor*innen haben gleichermaßen am Artikel mitgewirkt.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
Merleau-Ponty spricht vom „présent vivant“ (1945, S. 150).
- 2.
Fuchs spricht in seinem Aufsatz von Leibgedächtnis. Leiblichkeit ist das Medium menschlichen In-der-Welt-seins und gleichzeitig die Bedingung dafür, dass der Mensch sich als Körper gegenständlich erfahren, objektivieren und erinnern lassen kann. Da es in diesem Aufsatz um das Zusammenspiel von empraktischen und interkorporalen Leib-Körper-Gedächtnis geht und damit auch um die erste, zweite und dritte Person, werden die Begriffe Leib und Körper hier synonym verwendet (auch wenn diese z. B. in der Phänomenologie voneinander unterschieden werden).
- 3.
In diesem Zusammenhang fügt Fuchs (2018) der analytischen Unterscheidung zwischen zwischenkörperlichem Gedächtnis und der körperlichen Persönlichkeitsstruktur noch zwei weitere Dimensionen des Körpergedächtnisses hinzu: das prozedurale und das situative Gedächtnis.
- 4.
Die Ausführungen basieren auf ethnografische Forschungen zu dekolonialem Protest im Senegal, Frankreich und Deutschland und wurden im Rahmen des DFG-Projektes Jugendbewegungen und der Wandel des Politischen durchgeführt (Projektnummer 395804440).
- 5.
Vgl. hierzu z. B. lokalmediale Berichterstattung, Stegmann, 07.06.2020, https://www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/konstanz/black-lives-matter-auf-dem-muensterplatz-ueber-1000-konstanzer-bei-kundgebung-gegen-rassismus;art372448,10532456, (Zugegriffen: 23. Dez 2020).
- 6.
- 7.
Die Abbildungen 1–4 sind Standaufnahmen aus einem Videofilm von Sebastian Koch (2020). Der Videofilm wurde im Rahmen des Gesamtprojekts Social Distancing und neue Raumformen der Interaktion" - Teilstudie: Konstanz. aviDa – Berlin University Alliance, angefertigt, siehe http://dx.doi.org/10.14279/depositonce-11341. Julian Wicharz hat die Bearbeitung der Standaufnahmen übernommen.
- 8.
Vgl. Kurzinterview von Tim Baumann mit Kathrin Fahlenbrach in https://www.deutschlandfunk.de/form-des-protestes-die-ambivalenz-des-kniefalls-100.html, (Zugegriffen: 21. Dez 2021).
Literatur
Baumann, Tim. 2020. Form des Protests/Die Ambivalenz des Kniefalls. U.a. Kurzinterview mit Kathrin Fahlenbrach. https://www.deutschlandfunk.de/form-des-protestes-die-ambivalenz-des-kniefalls-100.html. Zugegriffen: 21. Dezember 2021.
Berger, Stefan, Sean Scalmer, und Christian Wicke, Hrsg. 2021. Remembering Social Movements. Actvism and Memory. London: Routledge.
Bergmann, Jörg. 1985. Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit: Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie. In Entzauberte Wissenschaft: zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung, Hrsg. Wolfgang Bonß und Heinz Hartmann, 299–320. Soziale Welt: Sonderband 3. Göttingen: Schwartz.
Bergmann, Jörg. 2000. Reinszenierung in der Alltagsinteraktion. In Erinnern, Agieren und Inszenieren. Enactments und szenische Darstellung im therapeutischen Prozeß, Hrsg. Ulrich Streeck, 203–221. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.
Bergmann, Jörg, und Thomas Luckmann. 1995. Reconstructive Genres of Everyday Communication. In Aspects of Oral Communication, Hrsg. Uta M. Quasthoff, 298–304. Berlin: De Gruyter.
Bourdieu, Pierre. [1980] 1997. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Bloul, Rachel. 2013. "Do I look Jewish in this? A phenomenological approach to intercorporeality and racism." Identities 20, 5: 522–543.
Cicourel, Aaron. 1970. Methode und Messung in der Soziologie. Frankfurt a. M: Suhrkamp.
Coulter, Jeff. 1979. The social construction of mind: Studies in ethnomethodology and linguistic philosophy. Totowa, NJ: Rowan and Littelfield
Day, Elizabeth. 2015. #BlackLivesMatter: the birth of a new civil rights movement. The Guardian: https://www.theguardian.com/world/2015/jul/19/blacklivesmatter-birth-civil-rights-movement. Zugegriffen: 25. Januar 2022.
Derrida, Jacques. 1988a. Die différance. In Randgänge der Philosophie, Hrsg. Jacques Derrida, 29–52. Wien: Passagen.
Derrida, Jacques. 1988b. Signatur, Ereignis, Kontext. In Randgänge der Philosophie, Hrsg. Jacques Derrida, 291–362. Wien: Passagen.
Dimbath, Oliver. 2014. Oblivionismus. Vergessen und Vergesslichkeit in der modernen Wissenschaft. Konstanz: UVK.
Fuchs, Thomas. 2000. Das Gedächtnis des Leibes. Phänomenologische Forschungen 5 (1): 71–89.
Fuchs, Thomas. 2018. Leiblichkeit und personale Identität in der Demenz. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 66 (1): 48–61.
Garfinkel, Harold. 1967. Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs: Prentice Hall.
Garfinkel, Harold. 2021. Ethnomethodological Misreading of Aron Gurwitsch on the Phenomenal Field. Human Studies 44 (1): 19–42.
Goodwin, Marjorie Harness, und Asta Cekaite. 2018. Embodied family choreography: Practices of control, care, and mundane creativity. London: Routledge.
Goffman, Erving. 1979. Footing. Semiotica 25 (1/2): 1–29.
Gukelberger, Sandrine, und Christian Meyer. 2021. Creating space by spreading atmospheres: Protest movements from a phenomenological perspective. In Forum Qualitative Sozialforschung, 22(3).
Gukelberger, Sandrine, und Christian Meyer. 2022. Time, Affect, Knowledge. The Embodied Institution of Social Protest Movements. In Institutionality and the Making of Political Concerns – Empirical Analyses of Discursivity and Materiality, Hrsg. Yannik Porsché, Ronny Scholz und Jaspal Singh, 209–231. London: Palgrave Macmillan.
Gukelberger, Sandrine, und Christian Meyer. 2023. Postkoloniale Theorie und soziale Gedächtnisforschung. In Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung, Hrsg. Mathias Berek, Kristina Chmelar, Oliver Dimbath et al. Wiesbaden: Springer Verlag.
Husserl, Edmund. 1954. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Den Haag: Martinus Nijhoff.
Husserl, Edmund. 1976. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Den Haag: Martinus Nijhoff.
Knoblauch, Hubert. 1999. Das kommunikative Gedächtnis. In Grenzenlose Gesellschaft, Hrsg. Claudia Honegger, Stefan Hradil und Franz Traxler, 733–748. Opladen: Leske + Budrich.
Luckmann, Thomas. 1988. Kommunikative Gattungen im kommunikativen „Haushalt“ einer Gesellschaft. In Der Ursprung von Literatur, Hrsg. Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg und Dagmar Tillmann-Bartylla, 279–288. München: Wilhelm Fink Verlag,
Merleau-Ponty, Maurice. 1945. Phénoménologie de la perception. Paris: Gallimard.
Meier zu Verl, Christian. 2016. (Re)Konstruktionen des Tathergangs. Reenactments als epistemische Körperpraktiken der Strafverfolgung und -verhandlung. In Medienpraktiken zwischen Wiederholung und kreativer Aneignung, Hrsg. Anja Dreschke, Ilham Huynh, Raphaela Knipp und David Sittler Reenactments, 297–326. Bielefeld: transcript.
Meier zu Verl, Christian. 2018. Daten-Karrieren und epistemische Materialität. Eine wissenschaftssoziologische Studie zur methodologischen Praxis der Ethnografie. Stuttgart: J.B. Metzler.
Meier zu Verl, Christian. 2020. Die alternde Migrationsgesellschaft. Untersuchungen zur intersektionalen Praxis kultursensibler Pflege. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 46 (2): 305–329.
Meier zu Verl, Christian, und Christian Meyer. 2022. Ethnomethodological Ethnography. Historical, Conceptual, and Methodological Foundations. Qualitative Research: 1–21 (im Erscheinen).
Meier zu Verl, Christian, und René Tuma. 2021. Video Analysis and Ethnographic Knowledge: An Empirical Study of Video Analysis Practices. Journal of Contemporary Ethnography, 50 (1): 120–144.
Merleau-Ponty, Maurice. 1968. The visible and the invisible: Followed by working notes. Evanston: Northwestern University Press.
Messerschmidt, Astrid. 2008. Postkoloniale Erinnerungsprozesse in einer postnationalistischen Gesellschaft – vom Umgang mit Rassismus und Antisemitismus. Peripherie 109 (110): 42–60.
Meyer, Christian, und Christian Meier zu Verl. 2013. Hermeneutische Praxis. Eine ethnomethodologische Rekonstruktion sozialwissenschaftlichen Sinnrekonstruierens. Sozialersinn 14 (2): 207–234.
Meyer, Christian, Christian Meier zu Verl, und Ulrich von Wedelstaedt. 2016. Zwischenleiblichkeit und Interkinästhetik. Varianten körperlicher Kopräsenz in der situierten Interaktion. In Wissensforschung – Forschungswissen. Beiträge und Debatten zum 1. Sektionskongress der Wissenssoziologie, Hrsg. Jürgen Raab und Rainer Keller, 317–331. Weinheim: Beltz-Juventa.
Meyer, Christian. 2018. Praxisethnografie. In Interpretativ Forschen. Ein Handbuch für die Sozialwissenschaften, Hrsg. Leila Akremi, Nina Baur, Hubert Knoblauch und Boris Traue, 580–611. Weinheim: Beltz Juventa.
Meyer, Christian, und Ulrich von Wedelstaedt. 2017. Zur Herstellung von Atmosphären: Stimmung und Einstimmung in der „Sinnprovinz”. In Stimmungen und Atmosphären, Hrsg. Larissa Pfaller und Basil Wiesse, 233–262. Wiesbaden: Springer VS.
Meyer, Christian, Jürgen Streeck, und J. Scott Jordan. (Hrsg.). 2017. Intercorporeality. Emerging Socialites in Interaction. Oxford: Oxford University Press.
Meyer, Christian, und Christian Meier zu Verl. 2022. Ethnomethodologische Fundierungen. In Handbuch Soziologische Ethnographie, Hrsg. Angelika Poferl und Norbert Schröer, 1–16. Wiesbaden: Springer VS.
Rawls, Anne W. 2005. Garfinkel’s Conception of Time. Time & Society 14 (2–3): 163–190.
Schütz, Alfred. 1953. Common-Sense and Scientific Interpretation of Human Action. Philosophy and Phenomenological Research 14 (1): 1–38.
Sidnell, Jack. 2006. Coordinating Gesture, Talk, and Gaze in Reenactments. Research on Language & Social Interaction 39 (4): 377–409.
Sousa Santos, Boaventura de, Hrsg. 2005. General introduction: Reinventing social emancipation: Toward new manifestos. In Democratizing democracy: Beyond the liberal democratic canon, xvii–xxxiii. London: Verso.
Smit, Rik, Ansgard Heinrich, und Marcel Broersma. 2017. Activating the past in the Ferguson protests: Memory work, digital activism and the politics of platforms. New Media and Society: 3119–3139.
Stegmann, Eva Marie. 2020. „Black Lives Matter“ auf dem Münsterplatz – Hunderte Konstanzer bei Kundgebung gegen Rassismus, https://www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/konstanz/black-lives-matter-auf-dem-muensterplatz-ueber-1000-konstanzer-bei-kundgebung-gegen-rassismus;art372448,10532456. Zugegriffen: 23. Dezember 2020.
Tuma, René, Hubert Knoblauch, und Bernt Schnettler. 2013. Videographie. Einführung in die interpretative Videoanalyse sozialer Situationen. Wiesbaden: Springer Verlag.
Ulmer, Bernd, and Jörg Bergmann. 1993. "Medienrekonstruktionen als kommunikative Gattungen?." Medienrezeption als Aneignung: Methoden und Perspektiven qualitativer Medienforschung: 81–102. Opladen: Westdeutscher Verlag
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2023 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Gukelberger, S., Meier zu Verl, C., Meyer, C. (2023). Die dreifache Prozessualität des Körpergedächtnisses: Methodologische Implikationen videoethnografischer Forschungen zu verkörperten Erinnerungen und epistemischen Praktiken. In: Sebald, G., Dimbath, O., Haag, H., Heinlein, M. (eds) Sozialwissenschaftliche Methoden und Methodologien: Temporalität – Prozessorientierung – Gedächtnis. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41914-1_13
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-41914-1_13
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-41913-4
Online ISBN: 978-3-658-41914-1
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)