Zusammenfassung
Die Wiederwahl der gemäßigt-islamischen Regierung Erdoğans, die Wiederkehr des bewaffneten kurdischen Separatismus, die sich abzeichnende Entstehung eines irakisch-kurdischen staatlichen Gebildes und die weitreichenden EU-Anpassungsreformen stellen ernstzunehmende Herausforderungen für die heutige türkische Transformationsgesellschaft dar. Die in Angriff genommene gemäßigt-islamische Verfassungsreform und das Wiederaufflammen der Kämpfe mit der PKK führen zu einer Verunsicherung des westlich geprägten türkischen Establishments. Als Folge wird die Staatsideologie des Republikgründers Kemal Atatürk ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Nach dem kemalistischen Werte- und Normensystem sowie Staatsverständnis darf es – zur Wahrung der türkischen Staatsbürgernation im VerfassungsStaat – weder differenzialistische Sonderrechte für diverse ethnische, konfessionelle oder religiöse Gruppen noch Toleranz gegenüber dem politischen Islam geben. Vor dem Hintergrund der politischen Wirren in den ersten Gründungsjahren der Republik Türkei und der nach Einführung des Mehrparteiensystems fortgesetzten chronischen, politischen Instabilität (Neuwahlen, Regierungswechsel, gesellschaftliche Polarisierung zwischen Religiösen und Säkularisten, erfolgreiche Putschversuche), hat der nationale Sicherheitsvorbehalt des Staates vor prokurdischen, islamistischen und kommunistischen sowie anderen autonomen Bewegungen den rechtlichen HandlungsSpielraum zur Artikulation von partikulären Interessen der Bevölkerung eingeengt. Aufgrund der wirtschaftlich attraktiven und wohlstandsversprechenden EU-Beitrittsperspektive, die an europäische Demokratisierungsbedingungen geknüpft ist, wurde eine allmähliche rechtliche Liberalisierung eingeleitet, um die Rahmenbedingungen zur Artikulation dieser partikulären Interessen zu verbessern. Dem wird von europakritischen, nationalistisch-türkischen Kreisen jedoch mit kritischer Distanz begegnet. Laut Kösebalaban betrachten Kemalis-ten und Nationalisten die EU als „eine verschwörerische Gemeinschaft mit dem Ziel die nationale, türkische Integrität zu zerstören, indem sie mit inneren Feinden zusammenarbeiten“. Noch immer prägt die kemalistische Ideologie Teile der türkischen Bevölkerung, selbst wenn inzwischen 70 Jahre nach dem Tod des Staatsgründers vergangen sind.
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Gümüş, B. (2010). Werte und Normen im Kemalismus. In: Gieler, W., Henrich, C.J. (eds) Politik und Gesellschaft in der Türkei. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92490-8_2
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