Zusammenfassung
Im vierundzwanzigsten Kapitel von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften deklariert Diotima, die Gattin des hohen Ministers Hans Tuzzi, die Bestandteile der »alte[n] österreichische[n] Kultur«: »Die schönen Bilder von Velasquez und Rubens, die in den Hofmuseen hingen. Die Tatsache, daß Beethoven sozusagen ein Österreicher gewesen ist. Mozart, Haydn, den Stefansdom, das Burgtheater. Das von Traditionen schwere höfische Zeremoniell. Den ersten Bezirk, wo sich die elegantesten Kleider- und Wäschegeschäfte eines Fünfzigmillionenreichs zusammengedrängt hatten. Die diskrete Art hoher Beamter. Die Wiener Küche. Den Adel, der sich nächst dem englischen für den vornehmsten hielt, und seine alten Paläste. Den, manchmal von echter, meist von falscher Schöngeistigkeit durchsetzten Ton der Gesellschaft.«1 Anfänglich war für Diotima »vieles von dem, was sie unter alter österreichischer Kultur verstand, wie Haydn oder die Habsburger, […] nur eine lästige Lernaufgabe gewesen«; später »erschien« es ihr »ein bezaubernder Reiz […], mitten dazwischen sich leben zu wissen […]; aber mit der Zeit wurde das nicht nur eintönig, sondern auch anstrengend und sogar hoffnungslos«.2 In ihrem Salon hat sie nämlich »das bekannte Leiden des zeitgenössischen Menschen entdeckt, das man Zivilisation nennt«.3 Sie muss einsehen, dass sich die von ihr so idealistisch gehegte Idee einer »menschliche[n] Einheit« nicht umsetzen lässt, dass es nicht möglich ist, ihre Salongäste in »Einheit mit der Seele zu bringen«: Diese »menschliche Einheit« kann nur noch vorgetäuscht werden.4 Um den Grund für die Notwendigkeit dieser »Täuschung« weiß Diotima genau Bescheid: »Das Leben ist heute viel zu sehr von Wissen belastet«.5 Sie scheitert in ihrem Idealismus und muss erkennen, dass nicht die »Tiefe« der »Bildung«, sondern »ihre Breite das Unüberwindliche war. Sogar die dem Menschen unmittelbar nahegehenden Fragen wie die edle Einfachheit Griechenlands oder der Sinn der Propheten lösten sich, wenn man mit Kennern sprach, in eine unüberblickbare Vielfältigkeit von Zweifeln und Möglichkeiten auf«.6 Das hat unmittelbare Konsequenzen für das Soziale: »Diotima machte die Erfahrung, daß sich auch die berühmten Gäste an ihren Abenden immer paarweise unterhielten, weil ein Mensch schon damals höchstens noch mit einem zweiten Menschen sachlich und vernünftig sprechen konnte, und sie konnte es eigentlich mit keinem«.7
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Meyer, M. (2022). Zum Gegenstand. In: Moderne als Geschichtsvergewisserung. Fokus Musikwissenschaft. Bärenreiter, Kassel, Germany. https://doi.org/10.1007/978-3-7618-7250-5_1
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