Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken

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Das Traditionsdenken im 20. Jahrhundert

Part of the book series: Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts ((SPJ))

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Zusammenfassung

Was ist Tradition? – dieser Frage soll im Folgenden anhand einer umfangreichen Quellensichtung der maßgeblichen theoretischen Stationen nachgegangen werden. Der jeweilige Begriffsgebrauch bzw. gegebenenfalls auch nur implizite, nicht terminologische Bezug auf Traditionen wird expliziert und reflektiert. Das Zur-Kenntnis-Nehmen der theoretischen Angebote gerade in ihrer Vielfalt ist – wie erläutert – essentiell, um den vielgestaltigen Diskurs in seiner Fruchtbarkeit und Repräsentativität würdigen zu können.

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Notes

  1. 1.

    Besonders intensiv ist dieser Topos in der Soziologie im Anschluss an Weber (vgl. dazu die Tendenz des zunehmenden Übergangs von der traditionalen zur rationalen Herrschaftsform, die im Ausgang von Weber, WuG, 159 aufstellbar ist) und im Kontext des Motivs der posttraditionalen Gesellschaft (vgl. dazu im Überblick und mit kritischen Einwendungen Heelas 1996) entwickelt worden.

  2. 2.

    Vgl. exemplarisch etwa Guénon 2020, 21, 24 und Foerster 1911, 12.

  3. 3.

    Die beste Arbeit ist in dieser Hinsicht Wiedenhofer 1990. Einige weitere Hinweise zu begriffsgeschichtlichen Aspekten liefert Nahodil 1971, ein Werk, das gleichsam unzählige Bestimmungen sammelt, aber kaum sinnvoll systematisiert, sowie Assmann 1999, wenn auch mit literaturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Der Artikel im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ bleibt dahingehend letztlich hinter Wiedenhofer und auch Assmann zurück (vgl. Steenblock 1998).

  4. 4.

    Auch die deutschen Wörter „über-geben“ und „über-liefern“ sind ihrer Bildungsweise nach noch daran orientiert.

  5. 5.

    Vgl. dazu Stemberger 2011, 1–5 und Lohse 1962, 969 f.

  6. 6.

    Vgl. zu dieser Paulus-Deutung Cullmann 1954, 8 ff. und Congar 1965, 22 f.

  7. 7.

    Vgl. zu Differenzen zwischen Judentum und Christenheit gerade hinsichtlich des Traditionsverständnisses Kümmel 1934, v. a. 121–126.

  8. 8.

    Ein ähnliches Motiv scheint es im Buddhismus zu geben.

  9. 9.

    Vgl. die fünf möglichen Quellen legitimer Gottestraditionen, die August Deneffe ausgehend vom Konzil und seinen Akten herausstellt, bei Deneffe 1931, 72.

  10. 10.

    Deshalb, so Martin Rösel, habe der Traditionsbegriff im Protestantismus auch lange keine größere Rolle gespielt (vgl. Rösel 2002a, 734).

  11. 11.

    Vgl. dazu die Deutung des Wirken Luthers in diesem Sinne bei Schmitz 1999, 49 f., 199–209.

  12. 12.

    Eine letzte Auffälligkeit verdient aber noch Erwähnung. Tradition wird zumeist mit der getreuen, ggf. im Sinne übertrieben „beckmesserischer“ Ideale (zur ambivalenten Figur des Beckmesser vgl. Kluck 2023, Abschn. 1.1) sogar pedantischen Weitergabe und Einhaltung des Übernommenen verbunden. Sprachlich hat sich aber genau ein gegenteiliges Wort aus „Tradition“ heraus im Englischen und Französischen entwickelt, nämlich „traitor“, der Verräter (vgl. dazu Deneffe 1931, 6 und Jaucourt 1765a). Traitor ist derjenige, der die heiligen Gehalte an die Falschen weitergibt. Das ist insofern interessant, als der Akt der Weitergabe offensichtlich vorliegt und durch die Sprachgemeinschaft auch bemerkt wird, aber eine wesentliche Eigenschaft für „echte“, „richtige“ Tradition zu fehlen scheint, nämlich die Weitergabe an die zur rechtmäßigen Gemeinschaft Gehörenden.

  13. 13.

    Vgl. zum Beispiel Assmann 2005, 271 f.; Pieper 1970, 46, 74 und Gerschenson/Iwanow 1948, 19.

  14. 14.

    Für eine Deutung der Diotima-Rede als Akt der Tradition vgl. Pieper 1970, 24.

    Als formaler Hinweis: Für die platonischen Texte wurde als Übersetzung herangezogen Platon 2011, alle wörtlichen Zitate stammen im Folgenden daraus. Für klassische Texte, die nicht wörtlich zitiert werden, erfolgt kein bibliographischer Nachweis.

  15. 15.

    Dort wird die Vorbildhaftigkeit des ägyptischen Kunstverständnisses betont wird, dessen Vorzug gerade daher stammt, sich fest an die vor zehntausend Jahren entwickelten Formen zu halten. Jan Assmann hat Platon hier dezidiert als Verteidiger des ägyptischen Traditionalismus gegen die griechische Neuschöpfungstendenz gelesen (vgl. Assmann 2005, 272).

  16. 16.

    Die für das Traditionsproblem entscheidende originalsprachliche Passage lautet: οὐδεμίαν γὰρ ἐν αὐταῖς ἔχετε δι᾽ ἀρχαίαν ἀκοὴν παλαιὰν δόξαν οὐδὲ μάθημα χρόνῳ πολιὸν οὐδέν.

  17. 17.

    Vgl. Platon, Tim., 22d–23b. Es sei erwähnt, dass Alfred Taylor in seinem Kommentar zwar die Ernsthaftigkeit des Priesters eingesteht, dessen Aussagen aber auch als ironisch zu nehmen einordnet und Platon an dieser Stelle einen gewissen Sarkasmus unterstellt, wenn er die Reichweite der griechischen Vergangenheit thematisiert (vgl. Taylor 1928, 53 f.). Wiewohl die Stelle sicher auch dadurch Humorqualität hat, dass sie mit dem attischen historischen Selbstverständnis spielt vor dem Hintergrund der urhistorischen Ägypter, so scheint Taylor dennoch den sachlichen Ernst an dieser Stelle zu gering anzusetzen. Platon verweist auf ein entscheidendes Problem, nämlich die Frage der Anfänglichkeitsnähe, der Dauer und damit Wahrhaftigkeit der griechischen Überlieferung.

  18. 18.

    Exemplarisch findet sich diese Verbindung von Jugendlichkeit, Schaffenskraft und Befreiung vom Alten, von der kulturellen Last durchgespielt in Friedrich Nietzsches zweiter unzeitgemäßen Betrachtung. Vgl. z. B. Nietzsche, KSA 1, 249–254, 322 ff., 329.

  19. 19.

    Es heißt dort im Original: οἱ μὲν παλαιοί κρείττονες ἡμῶν καὶ ἐγγυτέρω θεῶν οἰκοῦντες. Zu den „Alten“ bei Platon vgl. auch Pieper 1970, 50.

  20. 20.

    Dort steht (vgl. Platon, Phil., 16c) παρέδοσαν da, also eine Aorist-Form von παραδίδωμι, dem Verb, zu welchem das lateinische „tradere“ etymologisch Bezug hat. Dies macht diese Stelle besonders bedeutsam.

  21. 21.

    Vgl. zu Sokrates als neuem Typus Böhme 1988, v. a. 19–48.

  22. 22.

    Dies zeigt die Reaktion der Richter, die auf seine völlig ungewöhnliche (genauer: wider-konventionelle, provozierende) Strafmaßzumessungsrede hin das knappe Ergebnis der grundsätzlichen Verurteilung in ihrer zweiten Abstimmungsrunde wesentlich eindeutiger ausfallen lassen (vgl. Platon, Apol., 35e–36b). Es ist allgemein anerkannte Hypothese, dass die in der „Apologie“ geschilderten Abstimmungsergebnisse zutreffend sind, so dass man in dieser Hinsicht den literarischen Sokrates und sein Agieren mit hoher Wahrscheinlichkeit als dem historischen nahestehend ansehen kann.

  23. 23.

    Sokrates kokettiert sehr oft mit seiner Unfähigkeit, Reden im üblichen und von seinen Gesprächspartnern oft erwarteten Sinne halten zu können bzw. zu wollen (vgl. z. B. Platon, Alk. 1, 106b; Ders., Gorg., 449b, 461d–e oder Ders., Phaidr., 262d). Damit drückt er zugleich aus, sich nicht an diese etablierte Form der Interaktions- und Bildungskultur halten zu wollen.

  24. 24.

    Es wird im Folgenden nicht darauf ankommen, weiterführende Hintergründe der Anklage – etwa auf persönlicher oder struktureller Ebene (z. B. das Sykophantentum) – zu thematisieren, sondern es geht um die Explikation einer bestimmten Dimension der vielschichtigen Situation, die zur Anklage und Verurteilung Sokrates‘ geführt hat.

  25. 25.

    Sokrates‘ Treue gegenüber Athen und dessen maßgeblichen Aspekten belegt eindrücklich auch der fiktive Dialog zwischen Sokrates, der dabei die Position seines Freundes Kriton vertritt, und den attischen Gesetzen selbst, bei dem sich zeigt, dass den Gesetzen zuwiderzuhandeln illegitim ist (unter bestimmten Bedingungen, die aber für Athen als gegeben angesehen werden). Vgl. dazu Platon, Krit., 50a–54d.

  26. 26.

    So spricht Thukydides von ihm als demjenigen, der vor dem Demos einen Antrag zur Annahme eines mit Sparta ausgehandelten Waffenstillstandes stellte (vgl. Thukydides IV.118.11) und der eben mit Nikias und anderen an der Aushandlung des Vertrags über den Frieden von 421 v. Chr. beteiligt war (ebd., V.19.2). Beide Ereignisse belegen den hohen Stellenwert Laches‘ in Athen.

  27. 27.

    Vgl. dazu Platon, Lach., 194a–b, wo Laches seinen eigenen seelischen Zustand nach dem Feststellen der Aporie im insgesamt freundlich und wohlwollend verlaufenen Gespräch so beschreibt: „Aber es hat mich ordentlich ein Eifer ergriffen über das Gesagte, und ich bin ganz unwillig, wie ich, was ich in Gedanken habe, so gar nicht imstande bin zu sagen. Denn in Gedanken glaube ich es doch zu haben, was die Tapferkeit ist; ich weiß aber nicht, wie sie mir jetzt entgangen ist, daß ich sie nicht ergreifen konnte in der Rede und heraussagen, was sie ist.“

  28. 28.

    Damit ist wohlgemerkt ein motivationales Nachvollziehen, kein Dulden oder gar Legitimieren gemeint.

  29. 29.

    Dabei zeigt sein Verhalten, wie wenig er charakterlich zur Philosophie geeignet ist und deutet die kommenden Verwerfungen mit Sokrates an (vgl. Platon, Men., 94e–95a).

  30. 30.

    Sprachlich sind das nicht οἱ παλαιοί, sondern οἱ πρότεροι, die dem Anfang näher als man selbst stehen, aber nicht im echten Sinne qualitativ anfänglich sind.

  31. 31.

    Um es noch einmal zu betonen, es geht nur um die motivationale Beurteilung, nicht um die sachliche. Rezeptionsgeschichtlich ist zudem festzustellen, dass die Ankläger gerade nicht so wahrgenommen wurden, wie das hier erfolgt ist, sondern eher als Pedant.

  32. 32.

    Das übersieht Josef Pieper, wenn er meint, bei Platon sei das objektiv stärkste Argument die von alters her kommende Überlieferung (vgl. Pieper 1970, 74). In manchen Kontexten greift Platon als Autor darauf zurück, aber in je spezifischen und die Sphäre des Menschlich-Mesokosmischen transzendierenden Zusammenhängen. Ganz sicher ist in vielen anderen Diskussionen die Berufung auf Tradition als Argumentationsstrategie ganz unplatonisch, zumal die Stellen, an denen auf einen Mythos rekurriert wird (Pieper bezieht sich zum Beispiel auf den Totengerichts-Mythos aus dem „Gorgias“ (vgl. Platon, Gorg., 523a–524a)), immer mit besonderen Umständen und gewissen Skrupeln seitens Sokrates‘ verbunden sind, was darauf hinweist, dass sich Platon als Autor der Problematiken bewusst ist. Vor diesem Hintergrund wie Pieper abzuleiten, mythische Überlieferung sei sein stärkstes Argument, übergeht diesen Befund.

    Es sei hier angemerkt, dass vielleicht auch in dieser Hinsicht ein Unterschied zwischen Platon und Sokrates sowie zwischen verschiedenen Werkphasen Platons zu machen möglich sein könnte. Das mag einer zukünftigen Untersuchung vorbehalten bleiben, in der vorliegenden Untersuchung spielt diese Perspektive keine Rolle.

  33. 33.

    Dem entspricht vielleicht als Parallele, dass die Sphäre der νόμοι der der φύσις entgegengesetzt wird (Platon kommt darauf z. B. in Platon, Prot. 337c–e), insofern die eine menschengemacht und veränderlich ist, die andere nicht. Platons Kritik betrifft immer die Menschensphäre, das Gesetzte. Generell zu dieser wichtigen Antithese vgl. Heinimann 1945. Zu Platon als Kritiker des Menschlichen und Wiederentdecker des Natürlich-Kosmischen vgl. Braque 2006, 44–50, der Platon so als Überwinder einer sokratischen Revolution liest.

  34. 34.

    Das Wenige, das über den Gehalt der platonischen Dialoge gesagt wurde, reicht bei Weitem nicht hin für eine seriöse Deutung. Auch ist eine weitergehende Differenzierung der Dialoge nach Skopos, Entstehungszeit, ebenso im Hinblick auf die Dialogteilnehmer u. v. m. für eine hermeneutisch belastbare Interpretation notwendig. Eine solche ist hier freilich aber nicht erstrebt, sondern es soll nur um eine systematisch wie heuristisch fruchtbare Exegese im Hinblick auf Tradition gehen. Gleichwohl sei die Hypothese gewagt, dass mittels der aufgemachten Perspektive eine wichtige, oft nicht ausreichend gewürdigte Dimension platonischen Denkens sichtbar wird.

  35. 35.

    Der Begriff „Konstellationismus“ geht zurück auf Hermann Schmitz. Vgl. dazu z. B. Schmitz 2005, 10 ff., 27–32, 136 f. Das Wort „explikativ“ soll anzeigen, dass (Ver-)Äußerungen – seien sie schriftlich oder mündlich – unabdingbar sind. Schmitz selbst hat einen anders gelagerten, positiven Explikationsbegriff als terminus technicus, der hier aber dahingestellt bleibt (vgl. zu diesem Ders. 1994, 215–222).

  36. 36.

    Diese These etwa bei Platon, Alk. 1, 32e oder Ders., Men. 89d. Für Platon ist Wissen (ἐπιστήμη) der Sache nach lehrbar, wenn daher kein Lehrerfolg nachzuweisen ist (und andere Hinderungsgründe ausscheiden), handelte es sich um kein Wissen.

  37. 37.

    Dahinter steht auch eine Veränderung dessen, was als Wissen gilt. Diese Begriffsverschiebung muss aber im Rahmen des hier verfolgten systematischen Interesse unberücksichtigt bleiben.

  38. 38.

    Generell zur Stradivari-Deutung vgl. Sennett 2008, 104–112. Zu diesem Hinweis auf den Instrumentenbau als einen Bereich, in dem sich die Wirkung von Traditionen besonders gut studieren lassen, lieferte zuletzt Matthew Crawford weitere Überlegungen, wenn er auch im Rahmen seiner pragmatistisch und phänomenologisch operierenden Arbeit den Begriff „Tradition“ nicht in den Mittelpunkt stellt (vgl. Crawford 2016, z. B. 303–358).

  39. 39.

    So auch der Sache nach die Interpretation bei Schmitz 2014, 28.

  40. 40.

    Dafür ist Laches ein schlagendes Beispiel, seine Unzufriedenheit mit sich selbst ob des Scheiterns, die schon zitiert wurde, kann als ernstgemeint und aufrichtig gelten.

  41. 41.

    Es dürfte überraschen, dass kein Kapitel zur lateinischen Philosophie – etwa Cicero, Lukrez, Seneca und anderen – in einer Arbeit zu finden ist, die ihren Fokus auf einen genuin lateinischen Begriff legt. Dies ist aber dadurch legitimiert, dass augenscheinlich der Quellen abgesehen vom schon geschilderten juristischen Gebrauch keine nennenswerte und philosophisch relevante Erweiterung des Begriffs passiert. Erst mit dem jüdisch-christlichen theologischen Denken kommen neue Dimensionen ins Spiel. Wiedenhofer betont in diesem Sinne, dass das Wort eher auf eine ganz alltägliche, keine besondere Sache verweist und zudem im römischen Kulturkreis eben nur im juristischen Bereich strenge Gebrauchsnormierung erfährt, ansonsten nicht technisch wird (vgl. Wiedenhofer 1990, 609–613). Auch die von Peter G. W. Glare versammelten zehn semantischen Pointierungen verweisen zwar auf eine Differenzierung des Feldes, auf dem etwas übergeben wird, auch desjenigen, an den oder an das übergeben werden kann, sowie dessen, was als Tradierens-Objekt in Frage kommt, aber einen Niederschlag einer inhaltlich vertiefenden semantischen Reflexion stellt das wohl nicht dar (vgl. Glare 2010, 1956).

    Folgt man der Interpretation Arendts, ist Tradition neben Autorität einer der entscheiden Faktoren des römischen politischen Lebens. Dabei gilt, nach Arendt, Tradition als „die Vorstellung von der Heiligung der Vergangenheit durch Überlieferung“, und sie sicherte Autorität, sofern „der Faden dieser Überlieferung nicht abbrach“ (Arendt 1994, 190; vgl. generell zum römischen Traditionskonzept ebd., 187–192). Auch dies bleibt sehr allgemein und unspezifisch. Der These, die Begriffe „Autorität“ und „Tradition“ seien aus Rom kommend „maßgeblich für den größten Teil der Geschichte des abendländischen Denkens und westlicher Kultur“ geworden (ebd., 191), ist jedoch für den Begriff „Tradition“ überzogen, denn zum einen wird dieser erst prominent thematisch in viel späteren Zeiten, ist lange ein eher alltägliches Konzept mit geringerer theoretischer „Schwere“, und zweitens erfährt er die für die westliche Kultur vielleicht wirklich prägende Spezifizierung viel stärker durch christliche und später romantische Deutungen sowie aufklärerische Kritiken.

  42. 42.

    Im Hebräischen scheinen nach Auskunft von Paul Mendes-Flohr (vgl. dazu die Diskussion des Beitrags in Wiedenhofer 1990, 267) am ehesten „masoret“ („weitergeben“) und „kabbalah“ („empfangen“) semantisch das einzufangen, was lateinisch „traditio“ genannt wird. Auch Theodore Kwasman hält „masoret“ für den hebräischen Entsprechungsterminus: „Für den Begriff Tradition wird im rabbinischen Judentum als genereller Terminus in der Regel masoret benutzt. Der Begriff wird zum einen von der Wurzel ‘sr ‚binden, fesseln, halten‘ abgeleitet […], zum anderen aber auch von der Wurzel msr ‚übergeben, weitergeben‘.“ (Kwasman 2002, 701). Mit „masoret“ sei aber nur die mündliche Überlieferung gemeint, nicht die schriftliche der Thora (vgl. ebd., 703). Abweichend davon meint Rösel wiederum, es gebe im Hebräischen überhaupt kein traditio-entsprechendes Lexem (vgl. Rösel 2002b, 691).

  43. 43.

    Deren Verschriftlichung war freilich nicht unumstritten (vgl. Stemberger 2011, 50).

  44. 44.

    Die Kette verbürgt dabei nicht nur historische und personelle Kontinuität, sondern vor allem die Güte des Gehalts. Vgl. z. B. Jer. 6.16, wo es heißt: „Stellt auch an die Wege und haltet Ausschau, fragt nach den Pfaden der Vorzeit, fragt, wo der Weg zum Guten liegt; geht auf ihm, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.“ Zu dieser Stelle vgl. auch Gross 1992, 15. Alle wörtlichen Zitate aus der Bibel sind entnommen aus (Die) Bibel 1999.

    Parallel zur zitierten Bibelsentenz ist vielleicht ebenso der Kirchenvater Johannes Cassian im 4./5. Jahrhundert zu lesen, der meint: „Keiner nämlich kann getäuscht werden, der nicht nach seinem eigenen Urteil, sondern nach dem Beispiel der Vorfahren lebt.“ (Cassian 2011, 97 (collatio 2.10)).

  45. 45.

    Es ist sicher zutreffend, von der Weitergabe der religiösen Gehalte im Judentum als einer väterlich-elterlichen Verpflichtung zu sprechen (vgl. Kwasman 2002, 702).

  46. 46.

    Zwar spricht Assmann hier vom vorexilischen Judentum, der Fokus auf die Treue bleibt aber insgesamt wesentlich.

  47. 47.

    An dieses Verständnis glauben manchen Theologen, heute wieder anknüpfen zu können (vgl. Wendebourg/Brandt 2001, 1 f.).

  48. 48.

    Vgl. dazu Congar 1965, 20 f.: „Jesus hat sich, wenigstens formal, oft jener Methode bedient, die in der Tradition üblich war, das heißt der treuen Wiedergabe der Lehre eines Meisters, wie es im Judentum gebräuchlich war. […] Jesus verwirft nicht das Prinzip der Tradition, sondern deren Mißbrauch, der mit ihr getrieben wurde, indem man eine Überlieferung, die von Menschen stammte, höher achtete als das, was Gott selbst ihnen anvertraut hatte mit dem Auftrag, es weiterzugeben. Deshalb findet man im Munde Jesu selbst das Wort Tradition nur mit negativem Vorzeichen.“

  49. 49.

    Dabei ist es bekanntlich so, dass das kommende Weltende (und damit das Ende des Überliefern-Müssens) anfangs in unmittelbarer zeitlicher Nähe terminiert wurde, jedoch der Zeithorizont immer weiter ausgedehnt werden musste. Vgl. dazu einige Bemerkungen auch bei Koselleck 2020, v. a. 19–28.

  50. 50.

    Etwas anders schätzt die Sachlage Deneffe ein, der für die Vulgata fast 500 Stellen mit Formen von tradere, 14 mit traditio und eine mit traditor angibt (vgl. Deneffe 1931, 5).

  51. 51.

    Vgl. zum beginnenden Traditionsdenken ab dem 2. Jahrhundert Deneffe 1931, 29 und Kasper 1985, 377.

  52. 52.

    Vgl. dazu Müller 1953, 172 und Deneffe 1931, 160.

  53. 53.

    Vgl. dazu Congar 1965, 36. Dort wird auch richtig festgestellt, dass schon die Apostel auf diese Weise zu bloßen Mittlern werden. Diese verfügen, muss man sagen, über keine besondere exegetische oder hermeneutische Kompetenz, sondern es ist allein die Gottesnähe, die sie auszeichnet. Das unterscheidet sie von Rabbinen. Der enge Depositumsgedanke wird in der einen oder anderen Weise maßgeblich auch für moderne Traditionstheorie, etwa bei Guénon 2020, 41, 48, 145; Ziegler 1936, 341, 376 oder Pieper 1970, 58 ff., 71, 82–90.

  54. 54.

    Demut ist in aktuellen Diskursen oft unterkomplex als Unterwerfung gedacht, was der Sache aber nicht gerecht wird, denn Demut setzt richtige Einsicht in die eigene Weltposition voraus (vgl. so etwa Aquin, Summa, II.II.161.6). Sie ist zum Beispiel falsch, wenn sie einem Niederen gegenüber an den Tag gelegt wird. Viele differenzierende und kluge Beobachtungen in dieser Sache sind zu entnehmen Puchta 2021.

  55. 55.

    Vgl. dazu wichtige Hinweise bei Bös 1995; Braque 2006, 160; Marrou 1982, 297. Auch Hans Blumenberg verweist ähnlich darauf, dass die Kirchenväter (bei ihm in der Person Tertullians) Neugierde für „stumpfsinnig“ hielten (vgl. Blumenberg 1987, 49).

  56. 56.

    Als sehr spätes Zeugnis davon noch Guénon 2020, 90: „[…] man kann unschwer feststellen, dass es sich dabei [beim Protestantismus; S.K.] um eine Manifestation des Individualismus handelt, was so sehr zutrifft, dass man sagen könnte, dies sei nichts anders als der Individualismus selbst, wenn man ihn in seiner Anwendung auf die Religion betrachtet.“

  57. 57.

    Es ist Peter Sloterdijk, der das Wesen der Moderne gerade in dem bewussten Abbrechen solcher diachronen Ketten gesehen hat. Vgl. Sloterdijk 2014 und Abschn. 3.17 dieser Arbeit.

  58. 58.

    Viele theologische Diskurse des Mittelalters sind vor diesem Hintergrund zu lesen als Versuche, eine vermeintliche Neuerung gerade als von den Aposteln herkommend zu erweisen, indem etwa die neue Auslegung als in den früheren Texten implizit enthalten erwiesen wird.

  59. 59.

    Zu dieser vgl. das folgende Abschn. 2.4.

  60. 60.

    Eine in Teilen andere Perspektive bietet Ebeling 1962, 978 f., wo der Protestantismus wie folgt verstanden wird: „Nicht T[radition]alismus, sondern ‚Enthusiasmus‘ […], Nichtachtung des verbum externum […] wird deshalb reformatorischerseits dem kath. T[raditions]verständnis vorgeworfen. Gerade um der Wiederherstellung und Reinhaltung der wahren Ü[berlieferung] willen schließt das ‚Sola Scriptura‘ die Beiordnung der T[radition] aus. Insofern wäre das ‚Schriftprinzip‘ gerade ein streng gefaßtes T[raditions]prinzip, für das jedoch diese Bezeichnung nicht beansprucht wird […]. Das ‚Sola Scriptura‘ ist darum – entsprechend der hermeneutischen Funktion der T[radition] im kath. Verständnis – nur als hermeneutische These […] reformatorisch verstanden.“ In deskriptiver Hinsicht hat Gerhard Ebeling sicher recht mit dem, was er beschreibt, aber er unterschlägt mit der Behauptung, die Reformation habe nur nicht auf den Begriff bestanden, die Sache aber sogar „eigentlicher“ beibehalten, gerade einen wichtigen sachlichen Unterschied. Schon seit der jüdischen Tradition ist der Begriff für eine jenseits der Schrift stehende Überlieferung genutzt worden, die eben durch die Reformation in ihrer Berechtigung bestritten wird. Wenn daher gemäß dem sola scriptura-Prinzip allein die Schrift maßgeblich wird, bedeutet dies zugleich einerseits eine Absage an die über 1500 Jahre alte Begriffsgeschichte, zum anderen aber auch eine semantische Verschiebung.

  61. 61.

    Insgesamt kann diese Publikation als das Gegenteil dessen gelten, was ihr Titel suggeriert, denn es ist weniger ein Aufbruch denn ein theoretisches Rückzugsgefecht, wenn auch insbesondere die Hinweise auf die Traditionsbehaftetheit vieler weltlicher Ideologien (vgl. Wendebourg/Brandt, 80–86) sicher stichhaltig ist. Aber indem so argumentiert wird, ist der ehemals normative Traditionsbegriff des Mittelalters bereits aufgegeben und eine insgesamt nivellierende und verbeliebigende Tendenz gesetzt.

  62. 62.

    So meint Rainer Specht historisch sicher nicht unzutreffend, man könne plausibel machen, „daß Auseinandersetzungen zwischen Innovation und Tradition gar nicht verheerender sind als Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern der Tradition, die in der Deutung der Tradition verschiedener Meinung sind.“ (Specht 1972, 104).

  63. 63.

    Dabei aber sind diese Prämissen nicht willkürlich gesetzt, sondern – wenn auch, aus heutiger Sicht, nicht überzeugend – argumentativ begründet.

  64. 64.

    Damit soll nicht behauptet sein, es gebe nur ein konstantes Traditionsverständnis in der Scholastik. Dies ist genauso wenig der Fall, wie es dies im Hinblick auf das theologische Denken ist. Im Interesse des in der hiesigen Untersuchung verfolgten Erkenntnisziels muss eine genaue Analyse der innerscholastischen Differenzen jedoch nicht geleistet werden.

  65. 65.

    Das unterscheidet die Scholastik von späteren Formen eines Dezisionismus, wo Autorität oft einfach durch die Fähigkeit, etwas eben zu können, bestimmt wird.

  66. 66.

    Mit „dieser Wissenschaft“ ist die heilige Wissenschaft, die Theologie, gemeint im Unterschied zur beweisführenden Philosophie. Thomas zeigt im Kontext der Stelle, dass auch die Theologie gewisse Beweise führt. Mit „Beweisverfahren aus der Gewährschaft“ ist übersetzt „argumentari ex auctoritate“.

  67. 67.

    Ob der Horizont wirklich „beschränkter“ war als andere Horizonte anderer Zeiten, mag hier dahingestellt bleiben. Mit Rothacker könnte man zumindest sagen, es handle sich um einen anderen Horizont, keinen notwendig engeren: „Die vorübergehende Niederlage der Scholastik am Ende des Mittelalters beruhte keineswegs nur auf sachlichen Widerlegungen, sondern auf einer Abwendung des Interesses von Themen, welche gleichgültig wurden und dadurch sich verdunkelten […].“ (Rothacker 1966, 21). Ebenfalls auf die „auffallende Rationalität theologisch-religiöser […] Theorien, d. h. den formallogisch konsequenten Gebrauch des Denkens und zugleich den grundsätzlichen Glauben an den Wert des Gebrauchs des Denkens“, verweist Kondylis 1986, 43.

  68. 68.

    Ähnlich positiv auch Blumenberg 1961, 98.

  69. 69.

    In der Gegenwart taucht diese Idee im Kontext der auf Pierre Nora zurückgehende Theorie von Gedächtnis- oder Erinnerungsorten wieder auf. Vgl. Nora 1990, z. B. 17–28.

  70. 70.

    Deneffe hat kritisch gegen Bellarmin angemerkt, dieser unterscheide nicht zwischen Tradition als Gehalt und Tradition als Akt (vgl. Deneffe 1931, 96). Das ist zutreffend, da sich im Text das Verständnis der Tradition als spezifischer Glaubenslehre (also als katholisches Dogma) nicht unterschieden findet von dem Verständnis der Tradition als Praxis. Es steht zu vermuten, dass Bellarmin – auf seinen „Pluralismus“ war hingewiesen worden – weniger um den konkreten Inhalt und dessen Bestimmung sich gedanklich sorgte, sondern um das Prinzip Tradition selbst, weshalb das Akthafte implizit als vordergründig anmutet.

  71. 71.

    Diese Konsequenz zeigt Bellarmins Changieren zwischen Inhalt und Akt, denn was sich behauptet, ist wohl eher ein ganz bestimmter Gehalt der Auslegung, während zwar auch die Auslegung weiterbesteht, aber ja ohnehin nie so umstritten wird wie der je spezifische Gehalt.

  72. 72.

    Wenn von „Rationalismus“ gesprochen wird, soll das nur diese Konnotation der vermeintlichen „Vernünftigkeit“ gegenüber dem unvernünftigen Alten abbilden, wie sie das Selbstverständnis der verhandelten Autoren prägte. Explizit nicht gemeint ist damit die klassische Gegenüberstellung im Sinne der Opposition von Rationalismus und Empirismus, denn dann viele etwa Locke freilich in eine andere Kategorie.

    Als Überblick zu diesem modernen Rationalitätsstreben und seinem Kontext vgl. v. a. Kondylis 1986. Weitere Hinweise aber auch in Taylor 1996a, z. B. 269–290, 406 f., 579, 593 und Oakeshott 1966, z. B. 9–13, 22 ff. sowie als allgemeine Geschichte des Verständnisses von Rationalität und Theorie Blumenberg 1987, z. B. 71–86.

  73. 73.

    Interessant ist dabei, dass „instauratio“ aber insofern keine bloße Neuerung meint, als damit eigentlich eine Wiedereinsetzung, das heißt Erneuerung, von etwas Verschüttetem, Verlorenen angezeigt ist. Bacon deutet auch an (Bacon, Organon, 253 (Aph. A122)), dass er dies so meint, insofern er auf die vorgriechischen Jahrhunderte – wenngleich mit Reserviertheit – zurückweist.

  74. 74.

    Blumenberg hat gezeigt, dass Bacon als ein Theoretiker der kurzen Zeitspanne anzusehen ist. Ihm wird, da die Gegenwart und deren Produktivität (was auch immer das genau meinen soll) das Zentrum bilden, jeder diachron erstreckte (Erkenntnis-)Vorgang unerträglich. Die Früchte der Erkenntnis erst über Jahrhunderte einholen zu können, wie es Blumenberg an den astronomischen Forschungen bis Kopernikus und Kepler zeigt, musste Bacon ein Gräuel sein. Vgl. dazu Blumenberg 1986, 100–130 (zu Kopernikus und zur Astronomie), 156–160 (zu Bacon).

  75. 75.

    Bacon macht empirischen Erfolg als Wahrheitskriterium stark (vgl. Bacon, Organon, 157 (Aph. A73)).

  76. 76.

    Zu Bacon als tabula rasa-Denker vgl. auch Oakeshott 1966, 22 ff.

  77. 77.

    Die zeigt sich auch an seiner Kritik an den bestehenden Wissenschaftsinstitutionen, die er für verfehlt hält (vgl. Bacon, Organon, 201 f. (Aph. 90)).

  78. 78.

    Um nur einen Hinweis in dieser Sache zu geben, sei verwiesen auf Taylor 1996a, z. B. 260–288, 325 f., wo Descartes als Urheber des „desengagierten“ modernen Individuums erhellt wird, welches sich aus allen kollektiven Sphären auf sich selbst zurückzieht, wodurch dann auch Tradition unmöglich scheint.

  79. 79.

    Vgl. dazu Descartes, Meditationen, I.3, wo alles über die Sinne Vermittelte – also auch das von anderen Vernommene – als nicht täuschungssicher herausgestellt wird. Vgl. auch ebd., I.1, an welcher Stelle das seit Jugend her gelten Gelassene als fehlerhaft betont sich findet.

  80. 80.

    Philosophiehistorisch ist, folgt man Theodor Litt, Hegel derjenige, der diese falsche Individualisierung des Geistes bei Descartes durch ein Traditionsdenken kritisiert (vgl. Litt 1951, 313). Für die moderne Individualismus-Konzeption auch jenseits der epistemischen Sphäre zeigt die Folgen Descartes‘ Taylor 1996a.

  81. 81.

    Vgl. die richtige Analyse bei Hayek 1996a, 19 f., wo es heißt: „Was Descartes zunächst gelehrt hat, war, daß wir nur das glauben sollen, was wir beweisen können. Angewandt auf den Bereich der Moral und der Werte überhaupt hieß dies, daß wir nur das als bindend anerkennen sollen, was wir als rationale Zweckschöpfung erkennen können. Wie weit er selbst sich aus der Affäre zog, indem er den unergründlichen Willen Gottes als den Schöpfer dieser Zweckmäßigkeit betrachtete, will ich dahingestellt sein lassen. Bei seinen Nachfolgern wurde es jedenfalls ein menschlicher Wille, den sie als den Schöpfer aller gesellschaftlichen Bildungen betrachteten und aus dessen Absichten sie ihre Rechtfertigung ableiten mußten.“

  82. 82.

    Vgl. dazu weiterführend Kondylis 1986, 421–471, wo verschiedene zeitgenössische Kritiken an Descartes in diesem Sinne erläutert werden.

  83. 83.

    Vgl. dazu Pascal, Gedanken, 23 (Aph. 25 nach der dortigen Zählung), 28 (Aph. 43), 56 (Aph. 115). Eine interessante vermittelnde Position im Hinblick auf die Gewohnheit hat zeitlich vor Pascal Michel de Montaigne entwickelt. Er hielt diese für einerseits tyrannisch, andererseits betrachtete er sie als das Gemeinwohl und den Zusammenhalt sichernd. Der Weise soll sich von Gewohnheiten zwar in Teilen freimachen, sie aber nicht öffentlich attackieren, worin man schon eine Vorwegnahme der kantischen Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft sehen kann. Montaigne zeigt ein zwiespältiges und von im weitesten Sinne utilitaristischen Erwägungen geprägtes Verständnis. Vgl. zu diesem Gewohnheitsdenken Montaigne, Essais, 60–68 (Buch I.23).

  84. 84.

    Auch Montesquieu wäre als Denker einer solchen anticartesischen Situierung zu lesen. Vgl. dazu Kondylis 1986, 453.

  85. 85.

    Pieper verweist auf einen ambivalenten Umgang Descartes‘ mit Traditionen (vgl. Pieper 1958, 8), wobei er aber richtig sieht, dass das von Descartes selbst unbemerkt bleibt, dieser prinzipiell die Traditionen ablehnt.

  86. 86.

    Als Beispiel dafür Wiedenhofer 1990, 627 f., wo zwar Descartes dem Namen nach vorkommt, aber ohne direkten Werkbezug, und wo die Sache, für die er stehen soll, im Grund an den Schriften Lockes erläutert wird (ebd., 630 ff.).

  87. 87.

    Es sei hier angemerkt, dass Lockes Sensibilität für das Thema in der Rezeption oft nicht oder kaum zur Kenntnis genommen wird. Zur Einordnung Lockes als „Entwerter“, aber eben nicht als „Vernichter“ der Tradition vgl. Specht 1972, 105. Zu Locke als Kritiker sowohl subjektivistischer Schwärmerei als auch der Traditionsautorität vgl. zudem Russell 2002, 20.

  88. 88.

    Locke verweist auf Gewohnheiten, die sich durch Wiederholung der Beobachtung entziehen wie der Lidschlag (vgl. Locke, Essay, II.IX.10).

  89. 89.

    Locke hat dabei explizit die Religionen (insbesondere den Katholizismus) vor Augen. Sein Traditionsbegriff ist von diesem Fall her zu lesen. Sein so geprägter Blick vermischt daher gelegentlich den inhaltlich-konkreten Traditionsbegriff (das heißt: katholische Kirche oder Glaubenslehre) mit dem formalen (Tradition als Prinzip).

  90. 90.

    Nicht thematisiert wird hier das Verhältnis der beiden „Essays“ zueinander. Dass die spätere Schrift weniger von Traditionen her argumentiert als die frühere, wird nur zur Kenntnis genommen. Zu Lockes Traditionsdenken in den Naturgesetz-Essays vgl. mit knappen Hinweisen Kondylis 1986, 332 f.

  91. 91.

    Hervorh. S.K.

  92. 92.

    Weder Descartes noch Locke behaupten explizit, dass notwendig alle Traditionen falsch sind. Sie zeigen aber, dass die Traditionen nicht genuin vernünftig im jeweiligen Sinne sind, weshalb sie generell unter Verdacht stehen. Wenn eine Tradition doch Richtiges, Wahres übermittelt, ist das freilich keine intrinsische Eigenschaft von Traditionen, sondern ganz kontingent.

  93. 93.

    Vgl. dazu die weiterführende Analyse in Kluck 2023, Abschn. 3.2 und die wichtige Studie Bös 1995.

  94. 94.

    Ernst Cassirer hat angesichts dieser Vielschichtigkeit den interessanten Versuch unternommen, ein dahinterliegendes inneres Prinzip zu suchen (vgl. dazu Cassirer 2007, IX). Das ist ein zweifelsohne heuristisch wie hermeneutisch sinnvolles Unterfangen, ändert aber nichts daran, dass die Rede von der einen Aufklärung am Ende auf keine historisch konkrete Erscheinung passt, sondern, wenn man über bestimmte Personen, Theorien usw. reden möchte, der Konkretisierung bedarf.

  95. 95.

    Als eine extreme Position in dieser Hinsicht kann Étienne-Gabriel Morelly gelten, der meinte, man müsse Vorurteile, gewöhnliche Moral usw. niederreißen, vielmehr die Stärke aufbringen, alles selbst mittels der Vernunft naturgemäß einrichten (vgl. Morelly 1964, z. B. 83–102). Zu ihm und gleichartigen Bestrebungen zur Zeit der Aufklärung – gefasst als „Physiokratismus“ – vgl. kritisch Tocqueville 1978, 159–165.

  96. 96.

    Vgl. dazu Koselleck 2020, z. B. 369 und Blumenberg 1961, 81.

  97. 97.

    Aufgrund der Orientierung am Topos ist es notwendig, vermehrt rezipierende Texte statt der Originalquellen heranzuziehen. Für ein aussagekräftiges Bild im Sinne der hier verfolgten systematischen Perspektive ist das jedoch hinreichend und im Grunde zwingend.

  98. 98.

    Zu den Folgen des Vico-Axioms in der Erkenntnistheorie, vor allem bei Kant, vgl. Schmitz 1989, 345 ff.

  99. 99.

    So sagt er: „[…] [Wir] beginnen […] heute die Studien mit der Erkenntniskritik, die, um ihre erste Wahrheit nicht nur vom Falschen, sondern auch vom bloßen Verdachte des Falschen frei zu halten, alle sekundäre Wahrheit, sowie alles Wahrscheinliche genau so wie das Falsche aus dem Denken entfernt wissen will. Das ist nicht unbedenklich; denn bei den jungen Leuten ist so früh wie möglich der natürliche Allgemeinsinn (sensus communis) auszubilden, damit sie nicht im Leben, wenn sie völlig erwachsen sind, auf Absonderlichkeiten und Torheiten verfallen. […] Während man sich also alle Mühe geben müßte, bei den jungen Leuten den natürlichen Allgemeinsinn zu entwickeln, ist zu befürchten, daß unsere kritische Wissenschaft ihn erstickt.“ (Vico, WuW, 27).

  100. 100.

    Dazu vgl. Cassirer 2007, 219 und Kondylis 1986, 439. Diesen Umstand und den theologischen Hintergrund Vicos übersieht Schmitz im Rahmen seines Rekurses auf das Vico-Axiom (vgl. Schmitz 1989, 345 ff.).

  101. 101.

    Dort schreibt Lessing in einem Brief 1771 an Mendelssohn: „Doch ich besorge es nicht erst seit gestern, daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen.“

  102. 102.

    Zu diesen Gedanken vgl. Mendelssohn 1981b, 117 f. und Ders. 1974, 79 f.

  103. 103.

    Ähnlich verteidigend blicken an diesem Punkt auf die Aufklärung Teichert 1991, 94 f. und Jauß 1964, 54.

  104. 104.

    Man könnte sogar sagen, dass eine Teilströmung der Aufklärung, nämlich die schottische, sich besonders durch Festhalten dieses Gedankens auszeichnet. Einige Hinweise zu Aufklärungsdenkern, die sich der notwendigen Schonung gewisser Traditionsbestände bewusst waren, liefert Schröder 2014, 188 ff. Generell bleibt aber Schröder im Recht – und auch der hier verhandelte Topos – damit, dass der Begriff „Radikalaufklärung“ eigentlich ein Pleonasmus ist (ebd., 187).

  105. 105.

    Vgl. z. B. Rousseau, KuW, 9, 11: „Während die Regierungen und die Gesetze für die Sicherheit und das Wohlergehen der zusammenwohnenden Menschen sorgen, breiten die weniger despotischen und vielleicht mächtigeren Wissenschaften, Schriften und Künste Blumengirlanden über die Eisenketten, die sie [d. h. die Menschen; S.K.] beschweren. Sie ersticken in ihnen das Gefühl jener ursprünglichen Freiheit, für die sie geboren zu sein schienen, lassen sie ihre Knechtschaft lieben und machen aus ihnen, was man zivilisierte Völker nennt. […] Der Tugend, die Kraft und Stärke der Seele ist, ist der Putz völlig fremd. Der tugendhafte Mann ist ein Athlet, der nackt zu kämpfen liebt. Er verachtet all die eitele Kleiderzier, die bloß den Gebrauch seiner Kräfte hemmen würde und größtenteils nur erfunden wurde, um irgendeine Mißbildung zu verdecken.“

  106. 106.

    Vgl. z. B. Rousseau, KuW, 15: „In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fortschritten, sind unsere Seelen verderbt geworden.“ Rousseau deutet an dieser Stelle den Fortschritt explizit als einen geschichtlichen, also diachronen.

  107. 107.

    Schmitz hat Kant in diesem Sinne als Prototyp eines um das Selbstgemachte besorgten Aufsteigertypus interpretiert. Er schreibt: „Die Aufsteiger-Gesinnung an der Wurzel des Kant’schen Tugendideals erweist sich ebenso in Kants primärer und begeisterter Hochschätzung des Selbsttuns, der aktiven und spontanen Selbsttätigkeit im Gegensatz zum Hinnehmen und Empfangen […].“ (Schmitz 1989, 150).

  108. 108.

    Hervorh. S.K.

  109. 109.

    Vgl. weitere zeitnahe Kritiken in Abschn. 2.7.

  110. 110.

    Zu dem Folgenden über die Prinzipien vgl. Reid 1782, 349 ff.

  111. 111.

    So wird Reid in der gegenwärtigen sozialepistemologischen Diskussion auch als Ahnherr derjenigen Ansätze betont, die dem Zeugnis anderer eine legitime epistemische Rolle zuschreiben. Vgl. so z. B. Lackey 2011, 73.

  112. 112.

    Reid zeigt deutlich, dass er Tradition und Vernunft nicht identifiziert, letztere geht über diese hinaus, bedarf ihrer aber als Fundament (vgl. Reid 1782, 367).

  113. 113.

    Wieland akzeptiert diese Bedenken nur auf abstrakter Ebene und folgt ihnen nicht auf den philosophischen Grund, sondern begegnet ihnen dadurch, dass er die Situation Deutschlands für so dunkel hält, dass jedes mögliche Licht per se gerechtfertigt ist.

  114. 114.

    Ein Aspekt, der in der vorliegenden Untersuchung nicht weiter thematisch werden kann, aber doch erwähnt zu werden verdient, ist die Frage, ob das Agieren der Aufklärung den Traditionen gegenüber wirklich genuin neu ist (wie die Aufklärer selbst gemeint zu haben scheinen), oder ob nicht nur eine Radikalisierung früherer Denkformen vorliegt. Schon die Scholastik hat Traditionen kritisiert, indem sie nach deren Quellen, nach deren Gültigkeit usw. fragte, wobei selbstverständlich bestimmte theo-ontologische Prämissen ausgenommen waren. Es wäre vielleicht zu überlegen, ob die Aufklärung derartige Überlegensprozesse nicht doch übernimmt und radikalisiert, statt zu sagen, wie Cassirer (vgl. Cassirer 2007, z. B. XI) es andeutet, es liege ein radikal neuer Zugang vor.

  115. 115.

    Wenn hier von „Romantik“ die Rede ist, so versteht sich das als ein sehr weiter Begriffsgebrauch. Gemeint sind damit all die aufklärungskritischen (nicht notwendig aufklärungsablehnenden) Positionen, die einer Erweiterung des Rationalitätsverständnisses und einer Aufwertung der Sphäre des Kollektiven das Wort reden. So weit gefasst, fallen zum Beispiel manche Denker der schottischen Aufklärung eher der Romantik in diesem Sinne zu. Da es auf die Systematisierung nur aus heuristischen Gründen ankommt, erscheint das zulässig, wenn auch nicht letztbegründet. Der auf diese Weise verstandene Romantik-Begriff überschneidet sich in nicht wenigen Teilen mit dem des Konservatismus, so dass das Kapitel ebenso von „romantisch-konservativer Traditionszuwendung“ hätte sprechen können. Gegen eine Einordnung der Autoren unter den Begriff „konservativ“ spricht sachlich nichts, jedoch ist erstens dieser Begriff selbst unklar und umstritten (vgl. G.-K. Kaltenbrunner 1978, 38 ff.), zum anderen ist er stark politisch konnotiert, was es als sinnvoll erscheinen ließ, auf den unverfänglicheren Romantikbegriff auszuweichen. Zudem schwingt in der Vorstellung von der Romantik immer die Aufwertung affektiver Bindungen mit, was angesichts eines teilweise emphatischen Traditionsbegriffes einen Widerhall findet. Gleichwohl, dies muss zugestanden werden, weicht das hier an den Tag gelegte Romantikverständnis vom literaturgeschichtlichen ab, und auch philosophisch gibt es relevante Unterschiede, denn etwa die Frühromantik mit ihrer starken Betonung des freien, sich selbst schaffenden Individuums (vgl. Großheim 2002a, 28–35), erfüllt die zweite genannte Bedingung gerade nicht.

  116. 116.

    Landmann erklärt dort Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald zum eigentlichen Urheber des bewussten Traditionalismus. Zu diesem vgl. auch die Hinweise in Dittmann 2004, 24. Insgesamt wäre gegen Landmann aber darauf hinzuweisen, dass mit Burke und anderen bereits frühere Traditionsverteidiger (wenn auch nicht bewusste Traditionalisten) auf den Plan getreten waren.

  117. 117.

    Einige Hinweise zur Ambivalenz Burkes und derjenigen der Rezeption finden sich in Zimmer 1995, 7–14.

  118. 118.

    Burke denkt vom Feld des Politischen her, gleichwohl ist er an diesem Punkt wohl verallgemeinerbar.

  119. 119.

    Dieses Denken (auch das zu Burke im Folgenden noch Herausgestellte) hat eine Parallele bei Adam Müller (vgl. dazu Müller 1922, 4 f., 19, 28 f., 39, 45). Müller hat sich selbst affirmativ auf Burke bezogen.

  120. 120.

    Dieses Motiv, nach welchem die größere Last der Begründung bei dem liegt, der Neues bewerkstelligen will, insofern das Alte durch seine Bewährung über die Zeit schon etwas geleistet hat, taucht im 20. Jahrhundert prominent im Umfeld der Ritter-Schule mit dem Motiv der Beweislastumkehr wieder auf. Vgl. dazu z. B. Lübbe 1978, 156; Marquard 2008, 88 und Hacke 2006, 14. Es spielt aber auch andernorts eine Rolle, z. B. bei Hayek 1996b, 17.

  121. 121.

    So fragt er rhetorisch: „[W]as anderes als der Zufall entscheidet die Tauglichkeit eines Entwurfs, welcher durchaus keine Erfahrung aufzuweisen hat, die für ihn Bürgschaft leisten könnte?“ (Burke, Betrachtungen, 314).

  122. 122.

    Dieses Argument verdeutlicht Burke am Beispiel der Staatskunst wie folgt: „Da also die wahre Staatskunst eine an sich so praktische, so ganz auf praktische Zwecke gerichtete Wissenschaft ist, da sie Erfahrung und so viel Erfahrung fordert, als der schärfste und unermüdlichste Beobachter im Lauf eines ganzen Lebens nicht erwerben kann: so sollte wohl niemand ohne unendliche Behutsamkeit ein Staatsgebäude niederzureißen wagen, das jahrhundertelang den Zwecken der gesellschaftlichen Verbindung auch nur leidlich entsprochen hat, oder es neu zu bauen, ohne Grundrisse und Muster von entschiedener Vollkommenheit vor Augen zu haben.“ (Burke, Betrachtungen, 135).

  123. 123.

    Man kann daher Burke zu Recht als Denker der historischen Zivilisierung betrachten (vgl. so Zimmer 1995, 48).

  124. 124.

    Dabei steht dahinter nicht ein Notwendigkeitsgedanke, sondern eine praktische Klugheitsüberlegung.

  125. 125.

    Die These, dass solche vor allem affektiven Impulse heteronom sind, teilt Burke mit Kant (vgl. Kant, GMS, AA 398 f., 405, 413), aber während dieser glaubt, die Vernunft könne Autonomie sichern, indem sie dem Menschen den kategorischen Imperativ zur Prüfung jeweiliger Handlungsvorsätze gibt, ist Burke skeptischer. Er weist darauf hin, dass mit Traditionen und den von ihnen ausgehenden Regelungen eine stabilere, weil immer schon internalisierte „Pufferzone“ geschaffen ist, die den Ansturm der Impulse filtert. Damit nimmt er, ohne dies vielleicht selbst zu wissen, bestimmte Aspekte der ἕξις-Lehre Aristoteles‘ wieder auf (vgl. dazu v. a. Aristoteles, NE, 1103a, 1105b–1107a), der den Vorteil einer solchen ἕξις darin liegen sah, dass sie von augenblicklichen Entscheidungen entlastet, indem sie immer schon entschieden hat, was wiederum für den Menschen Freiraum zu expliziter Vernunfttätigkeit (gerade auch im Sinne Kants) schafft.

  126. 126.

    Zimmer ist daher zuzustimmen, wenn er sagt, Burke sei ein konservativer Aufklärer (vgl. Zimmer 1995, 8).

  127. 127.

    Burke diskutiert diese Standardvorwürfe, die aus dem Topos der Aufklärung erwachsen sind, selbst. Vgl. Burke, Betrachtungen, 298 f.

  128. 128.

    Mit Zeithorizont ist gemeint die „Ausdehnung der mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme bedachten Zeit über die unmittelbare Gegenwart hinaus“ (Großheim 2012, 22). Man kann anhand des durch einen Menschen, eine Theorie oder auch eine Kultur in den Blick genommenen, im Rahmen der Überlegungen und Entscheidungen bedachten Zeithorizonts Aussagen über das jeweilige Verhältnis zur Zeit überhaupt, zur Geschichte, zur Zukunft, aber ebenso zu Traditionen aufstellen.

  129. 129.

    Burkes etatistisches Denken bleibt hier umthematisiert, es wird stillschweigend davon ausgegangen, dass der Staat durch andere Formen traditionell etablierten Zusammenlebens ersetzt werden kann.

  130. 130.

    Vgl. Burke, Betrachtungen, 85: „Leute, die nie hinter sich auf ihre Vorfahren blickten, werden auch nie vor sich auf ihre Nachkommen sehen.“ Das ist sicher fraglich, denn viele Revolutionen werden gerade um eine (manchmal erhofft nahe, manchmal ferne) Zukunft willen getan.

  131. 131.

    Es mag überraschen, dass hier ein Zeitgenosse Burkes, Adam Ferguson, keine Rolle spielt. Sein Denken enthält vergleichbare Ansichten, aber bringt in der Sache nichts wesentlich Neues. Elfriede Tielsch behauptet generell, Ferguson sei ein nicht-origineller Epigone (vgl. Tielsch 1962, 208), was, wenn es stimmt, das Übergehen legitimiert. Freilich wäre er im Rahmen einer vollständigen Geschichte der Traditionstheorie sicher zu bedenken.

  132. 132.

    Vgl. das parallele Motiv bei Herder, Ideen, 227: „Bleibt der Mensch unter Menschen, so kann er […] [der] bildenden oder mißbildenden Kultur nicht entweichen; Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder. Wie jene ist und diese sich bilden lassen, so wird der Mensch, so ist er gestaltet […].“

  133. 133.

    Als Überblick zu Herders anthropologischem Denken und seine damit verbundene Abgrenzung von Kant vgl. Landmann 1962, 277–312.

  134. 134.

    Vgl. zu Herders Stellung in der philosophischen Anthropologie z. B. Landmann 1976a, z. B. 35, 97, 100 f., 128 f. oder Habermas 1973, 92 f. Gehlen hat – sicher etwas überspitzt – gemeint, die philosophische Anthropologie habe seit Herder keinen Schritt vorwärts getan (vgl. Gehlen, Mensch, 90).

  135. 135.

    Der Mensch als defizitäres Tier ist ein Motiv, dass schon bei Giovanni Pico della Mirandola eine Rolle spielt (vgl. Mirandola 1990, 7), später über Nietzsche (der Mensch als das nicht festgestellte Tier) und Gehlen (der Mensch als Mängelwesen) breiter Wirkung entfaltete. Der Zusammenhang der philosophischen Anthropologie mit Vico und dem Humanismus wird meistens gar nicht thematisiert, der mit Herder oft nur am Rande. Exemplarisch dafür vgl. Wöhrle 2009, v. a. 75 f. Auch in der aktuell maßgeblichen Einführung in die philosophische Anthropologie finden weder Vico noch Herder Erwähnung (vgl. Thies 2009).

  136. 136.

    Dieser These ist durch Biologen (namentlich nicht primär gegen Herder) widersprochen worden (vgl. dazu Karneth 1991). Sie krankt zum Beispiel daran, auch bei Gehlen noch, dass alle Tiere mit nur einer Tierart, dem homo sapiens, verglichen werden. Ein solcher Vergleich kann für die allen anderen Tierarten gegenübergestellte einzelne Tierart kein anderes Ergebnis zeitigen.

  137. 137.

    Eine partielle Verteidigung Rousseaus gegen Herder und andere bietet Thies: 2018, z. B. 120. Thies‘ Bestimmung dessen, was Rousseauismus ist (ebd., 117), übersieht aber eine wesentliche Nuance, dass nämlich Rousseau implizit davon auszugehen scheint, dass der Mensch auch außerhalb von Kultur und fernab von Mitmenschen wissen könne, was er selbst ist oder sein will, dass er also von sich aus schon immer etwas ist. Dies ist fraglich, denn um z. B. sich als jemanden (als guten Sportler, tollen Freund) zu verstehen, braucht man nicht nur die Kontrastfolie der anderen, sondern auch deren Hilfe in Form von Kritik, Lob usw., und ganz grundlegend die explizierende Sprache. Niemand kann, so muss man mit Herder gegen Rousseau sagen, etwas ohne andere sein.

  138. 138.

    Dahinter stehen ersichtlich geschichtsphilosophische Erwägungen, die sich mit teleologischen Fragen beschäftigen, die hier dahingestellt bleiben sollen. Dass das Kettenmotiv derartiges Nachdenken evoziert, hat auch Herders Gegenspieler Kant gesehen, der – wohl „zähneknirschend“ – zugestehen musste, dass es „befremdend bleibt […], daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diese eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten […].“ (Kant, Idee, 6 f.). Damit ist gezeigt, dass Kant um den generationellen und kumulativen Aspekt wusste. Er hat dennoch – insbesondere im Rahmen seiner Vernunftkritiken – an einem individualistischen und somit anti-herderschen Ansatz festgehalten. Das angedeutete Problem der Mediatisierung der Früheren wird von ihm gelöst, indem er einen gattungsspezifischen Blick vorschlägt.

  139. 139.

    Und übrigens ist für Herder so auch dem Einzelnen ein posthumes Fortleben in der bildenden Tradition möglich (vgl. Herder, Ideen, 229).

  140. 140.

    Die entsprechende Überlegung ist berühmt in der früheren Formulierung Mirandolas: „Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich [Gott; S.K.] dich anvertraut habe, selber bestimmen. […] Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.“ (Mirandola 1990, 7).

  141. 141.

    Zum Vorrang des vernünftigen und verstandesmäßigen Findens vor dem Schaffen vgl. auch Herder, Ideen, 120.

  142. 142.

    Um noch durch eine andere Stelle zu verdeutlichen, was Herder meint: „Wer mir die Welt der Gegenstände, an denen ich die Vernunft erprobe, entwendet, hat mir die Vernunft selbst entwandt […]. Die Vernunft kann und darf nur sich selbst, nicht aber ohne Gegenstände, sondern anerkennend die Gegenstände glauben.“ (Herder, Metakritik, 305).

  143. 143.

    Vgl. zu diesem Gedanken auch Herder, Ideen, 225.

  144. 144.

    Dass sie dabei historisch oft hinter diesem Ideal zurückblieb, was etwa den Umgang mit Frauen, Nicht-Europäern usw. anging, steht auf einem anderen Blatt und ändert an der Idee nichts.

  145. 145.

    Inwiefern das eine konsistente Position ist, mag dahingestellt bleiben.

  146. 146.

    Vgl. Herder, Ideen, 417: „Da […] alles, was auf der Erde leben kann, solange sie selbst in ihrem Beharrungsstande bleibt, fortdauret: so hatte auch das Menschengeschlecht […] Kräfte der Fortpflanzung in sich […]. Mithin vererbte sich das Wesen der Menschheit, die Vernunft und ihr Organ, die Tradition, auf eine Reihe von Geschlechtern hin. […] Die Fortpflanzung der Geschlechter und Traditionen knüpfte also auch die menschliche Vernunft aneinander: nicht, als ob sie in jedem Einzelnen nur ein Bruch des Ganzen wäre, eines Ganzen, das in einem Subjekt nirgends existieret, folglich auch nicht der Zweck der Schöpfung sein konnte, sondern weil es die Anlage und Kette des ganzen Geschlechts so mit sich führte.“

  147. 147.

    An anderer Stelle betont Herder die Identifizierung von Tradition mit Überlieferung überhaupt, allerdings ohne die Schrift herauszustellen (vgl. Herder, Ideen, 227).

  148. 148.

    Tocqueville, dies ist für eine Bewertung seines Blicks auf Amerika sehr wichtig, erlebt seine eigene Zeit als Verlustepoche, insofern die Aristokratie samt ihren Vorzügen aufgegeben worden sei, ohne freilich daraus Gewinn gezogen zu haben (vgl. Tocqueville, Demokratie, 13).

  149. 149.

    Die jüngere Parallelschrift zur Französischen Revolution und deren Vorbedingungen und Konsequenzen (vgl. Tocqueville 1978) liefert allerdings ganz ähnliche Thesen.

  150. 150.

    Vgl. dazu auch Tocqueville 1978, 14 f.

  151. 151.

    Einen ähnlichen Gedanken entwickelt ohne Bezugnahme auf Tocqueville später der amerikanische Soziologie David Riesman, wenn er auf die homogenisierende Wirkung des außengeleiteten Menschentypus verweist (vgl. Riesman et al. 1958, z. B. 38).

  152. 152.

    Vgl. dazu auch die parallelen Analysen zur Französischen Revolution bei Tocqueville 1978, z. B. 114 ff., 159.

  153. 153.

    Man kann manche Entwicklungen in der Gegenwart des 20. und 21. Jahrhunderts lesen als eine solche Wiederaufnahme von Traditionen im Sinne des Widerstands. So hat die UNESCO 1972 im „Übereinkommen zum Schutz des Natur- und Kulturerbes der Welt“ den Verfall und die Zerstörung auch des Kulturerbes festgestellt, beklagt und zum Anlass genommen wurde, dieses unter besonderen Schutz zu stellen. Damals wurde das Kulturerbe allerdings streng materiell (Denkmäler, Stätten, Ensembles) verstanden. Später erst wurde es erweitert auf orale Traditionen zum Beispiel (vgl. dazu Schäfer 2016, 195 f.). Im Rahmen heutiger identitätspolitischer Diskurse wird die bedeutende Rolle der je eigenen Tradition in Abgrenzung von der unterstellten Majorität betont. Vgl. dazu kritisch Fukuyama 2018, 73 f., 104, 110; affirmativ Hall 1994a, 15 und Ders. 1994b, 61 f.

  154. 154.

    Vgl. zu diesen Abschn. 3.14. Schon vor Tocqueville findet sich dieser Gedanken etwa bei Justus Möser (vgl Möser 1978). Möser als Traditionsdenker streift auch Rothacker, Altertum, 3.

  155. 155.

    Vgl. auch die Kritik an der Überschätzung der menschlichen Gestaltungkräfte und Vorsehungsmöglichkeiten währen der Umwälzungen nach 1789 in Frankreich bei Tocqueville 1978, 157 f.

  156. 156.

    Ein Thema – und damit zugleich ein Autor – sei in seiner Auslassung noch motiviert, nämlich der Begriff der Autorität. Dieser spielt schon in der französischen Aufklärung eine wichtige Rolle (vgl. etwa die Überlegung in der Enzyklopädie zur politischen Autorität und deren Legitimation (vgl. Diderot 2013b)), wird aber auch in der schottischen Aufklärung bedacht. So schreibt David Hume über die Ansicht der Mehrheit der Menschen: „Eine etablierte Regierung hat einen unendlichen Vorteil eben dadurch, daß sie etabliert ist, zumal der Großteil der Menschheit durch Autorität und nicht durch Vernunft regiert wird und keiner Sache Autorität zusteht, die sich nicht durch ihre Tradition empfiehlt.“ (Hume 1988, 339). Dennoch wird über Autorität hier nicht weiter nachgedacht, weil es der Frage nach dem, was Tradition ist, keine Nuance hinzufügt. Entweder nämlich gibt es Autorität im Sinne Humes nur durch Tradition, dann wird man sich fragen müssen, was Tradition ist und wie sie das bewerkstelligt. Oder aber Tradition hat Autorität, was eine ebenfalls gängige Annahme ist, dann wäre ebenfalls zu klären, wie Tradition denn Autorität besitzen kann (vgl. so die Perspektive bei Carr 1926, 110 f.). Beide Begriffe erforderten eine Klärung, sind nicht aufeinander rückführbar. Damit steht fest, dass in jedem Fall der Traditionsbegriff erhellt werden muss, ganz unabhängig davon, was man über Autorität denkt. Der Autoritätsbegriff selber ist dabei philosophisch ebenfalls umstritten. Vgl. einige Überlegungen bei Arendt 1994, 159–192. Für die Trennbarkeit beider Begriffe plädiert auch Dittmann 2004, 38.

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Kluck, S. (2023). Erkundungen am Begriff und historische Wegmarken. In: Das Traditionsdenken im 20. Jahrhundert. Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67832-9_2

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