Die höheren Menschen als Protoentwürfe eines gefährlichen Lebens

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Gefährlich Leben - Gefährlich Denken
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Zusammenfassung

Welche anderen Entwürfe eines gefährlichen Lebens konzipiert Nietzsche in seiner Philosophie und finden diese eine positive Erfüllung? Anhand der höheren Menschen und der philosophischen Experimentalfigur des Zarathustra näheren wir uns der Beantwortung dieser Frage.

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Notes

  1. 1.

    Diese Typen werden, wie Sommer herausstellt, „weniger zur Verlautbarung philosophischer Wahrheiten benutzt […], als vielmehr zu deren Veranschaulichung und Erprobung. Die Erschaffung solcher literarischer Kunstfiguren ist integraler Bestandteil von Nietzsches Experimentalphilosophie“ (Sommer, Andreas Urs: Gott – Nihilismus – Skepsis. Aspekte der Religions- und Zeitkritik bei Nietzsche, S. 18).

  2. 2.

    Werner Stegmaier betont: „In Also sprach Zarathustra sind […] stets die beiden Stifter der abendländisch-christlichen Moral, Sokrates und Christus gegenwärtig. Wie schon Schopenhauer und Wagner fungieren sie in zeichenhaften Abkürzungen als ‚Typen‘. Auch seinen Zarathustra versteht Nietzsche als ‚Typus‘“ (Stegmaier, Werner: Anti-Lehren. Szene und Lehre in Nietzsches Also sprach Zarathustra, in: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, hrsg. von Volker Gerhardt, Berlin 2012, S. 148).

  3. 3.

    So spekuliert bereits Theodor Lessing: „Da ist zunächst ‚der alte Wahrsager‘, welcher immer seufzt und immer recht behält, aber zuletzt von Zarathustra bekehrt wird. Mit dieser Gestalt ist Schopenhauer gemeint. Dagegen erscheint Wagner in der Gestalt des ‚alten Zauberers‘, eines Blenders, der die Seelen überwältigt, indem er das Genie spielt, für das er sich dennoch im Herzen des Herzens als unzulänglich empfindet. Der ‚Gewissenhafte des Geistes‘, der sein Leben der Erforschung des Blutegelgehirns widmet, dieser selbstquälerische und sich künstlich verengende Sklave moderner ‚Wissenschaftlichkeit‘, ist Darwin. Der ‚schäumende Narr‘, welcher innerhalb der modernen Kultur wohnen bleibt, um über sie toben und belfern zu können, ist Dühring. Die übrigen ‚höheren Menschen‘ […] tragen weniger persönliche und mehr schulmäßige Züge. So insbesondere der ‚letzte Papst‘ der sich über Gottes Tod nicht trösten kann […]. Neben ihm erscheint der ‚häßlichste Mensch‘ […] die wohl feinste Seelendeutung eines bestimmten Einsiedlertums wie eines bestimmten Atheismus […] Das sind ferner die beiden Könige, welche nicht mehr Könige sein wollen […] Der ‚freiwillige Bettler‘, der aus Ekel vor Europas übertünchter Höflichkeit sein Genügen bei den Kühen auf der Weide sucht, trägt zum Teil die Züge Rousseaus, zum anderen Teil schon diejenigen Tolstois. […] Für besonders genial halte ich die gespenstige Gestalt des ‚Schatten‘, dieses unzertrennlichen Begleiters und Nachdenkers des Zarathustra. Bei ihm möge man an die Typen moderner Publizistik denken, von denen Nietzsche besonders Stendhal und Taine vorschwebten, geniale Grenzenlose, die aus allen Töpfen naschen, hinter allen Öfen sich wärmen, alles wollen, alles können, aber immer nur als Spiegel, voller Sehnsucht nach einem Glauben, einem Wahne, der wie ein Gefängnis Abschluß und Sicherheit verleiht“ (Lessing, Theodor: Nietzsche, Berlin 1925, S. 71–73).

  4. 4.

    Am deutlichsten formuliert in EH: „In der dritten und vierten Unzeitgemässen werden, als Fingerzeige zu einem höheren Begriff der Cultur, zur Wiederherstellung des Begriffs ‚Cultur‘, zwei Bilder der härtesten Selbstsucht, Selbstzucht dagegen aufgestellt, unzeitgemässe Typen par excellence, voll souverainer Verachtung gegen Alles, was um sie herum ‚Reich‘, ‚Bildung‘, ‚Christenthum‘, ‚Bismarck‘, ‚Erfolg‘ hiess, – Schopenhauer und Wagner oder, mit Einem Wort, Nietzsche…“ (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe, UB 1, KSA 6, 316).

  5. 5.

    Schon früh wird das Niveau des IV. Teils im Vergleich zu den drei anderen Zarathustrateilen bemängelt: „Sonst aber kann man sich bei dem vierten Teil eines ästhetischen Unbehagens nicht immer erwehren. Die leichte und spielende Art, parodistisch an Bibelworte und Sprichworte anzuklingen, wird gemißbraucht; das Rückgreifen auf die früheren Bücher, sonst so glücklich in der Art buddhistischer oder islamistischer heiliger Zitate, erweckt gelegentlich den Eindruck der Erschöpfung; gewaltsam wie die Heiterkeit des Festes wie die Treue des Tränen ableckenden Löwen ist der Schluß. Alle Schwächen der ‚zweiten Teile‘ haften an diesem Niedergang Zarathustras“ (Meyer, Richard: Nietzsche. Sein Leben und seine Werke, München 1913, S. 436). Auch Eugen Fink folgt dieser Bewertung: „[D]er vierte Teil bedeutet einen starken Abfall, das Überhandnehmen eine Allegorik und einer legendenhaften Darstellungsweise, die mitunter peinlich berührt“ (Fink, Eugen: Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1986, S. 64). Dagmar Kiesel fasst die Begründung zur Abwertung des IV. Teiles, die sie nicht teilt, zusammen: „Za III endet mit dem Untergang Zarathustras und der Bejahung der ewigen Wiederkunft. Geht man davon aus, dass die Wiederkunftslehre das strukturgebende philosophische Leitmotiv des Za darstellt, dann scheint Za mit dem dritten Teil abgeschlossen zu sein und der vierte Teil mit der Versuchung Zarathustras zum Mitleid mit den höheren Menschen ein neues Thema einzuführen“ (Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, Würzburg 2015, S. 9 f.). Wie schwer sich die Nietzscheforschung von Beginn an damit tut, eine Bewertung und Einordnung auch in Bezug auf die anderen Za-Teile zu treffen, stellt Katharina Grätz in ihrem Nietzsche-Kommentar zum Zarathustra heraus (vgl. NK 4, KSA 4, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Vierter und letzter Theil). Ihrem Kommentar, den ich vor Drucklegung einsehen durfte, verdanke ich wertvolle Hinweise. Ich möchte mich daher ganz herzlich bei Katharina Grätz bedanken.

  6. 6.

    So schreibt beispielsweise Brusotti: „Mit der Drucklegung des dritten Teils ungefähr Ende März 1884 meint Nietzsche, sein Zarathustra-Werk vollendet und mit ihm die ‚Vorhalle‘ seiner Philosophie gebaut zu haben. Der ‚Vierte und letzte Theil‘ entsteht erst nach einer längeren Unterbrechung. Er wird 1885 nur als Privatdruck hergestellt und nur einem engen Leserkreis zugänglich gemacht. In die dreiteilige Zarathustra-Ausgabe von 1887 nimmt Nietzsche ihn nicht auf. Strenggenommen handelt es sich also um eine nachgelassene Schrift […]“ (Brusotti, Marco: Die ewige Wiederkehr des Gleichen, in: Merlio, Gilbert (Hg.): Also sprach Zarathustra, Lectures d’une oeuvre „Also sprach Zarathustra“. Friedrich Nietzsche, Paris 2000, S. 153).

  7. 7.

    Eine für dieses Kapitel interessante Untersuchung bietet die Arbeit von Dagmar Kiesel: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, bei der dennoch einige Schwächen vermerkt werden müssen: Die Hypothese, dass die höheren Menschen Fragmente von Zarathustras eigener Persönlichkeit seien, die in einen Selbstaufhebungsprozess Zarathustra selbst demontieren, wird anhand der voraussetzungsreichen These des Willens zur Macht und der Trieb- und Affektlehre Nietzsches erklärt, der selbst aber keine nähere Erläuterung zukommt (vgl. S. 16 f.). Die Triebe scheinen in Kiesels Untersuchung selbst von vornherein zu Subjekten personalisiert und ausgestattet mit Perspektiven (vgl. S. 17). Auch die Gegenthese, dass den höheren Menschen eigenständige Wirklichkeit innerhalb der Erzählung zu kommt, wird nicht diskutiert. Warum das Mitleiden mit den höheren Menschen, das nun zum Selbstmitleid Zarathustras wird, ein Hauptthema sein sollte, obwohl Nietzsches Philosophie sich dezidiert mit dem Mitleiden auseinandersetzt (vgl. die Fußnoten 400 und 401), bleibt somit ungeklärt. Auch erscheint die am Anfang unternommene Gleichsetzung zwischen Nietzsche und Zarathustra als zu simpel (vgl. S. 12). Interessant gestaltet sich allerdings die Folgerung aus diesem Konzept: Wenn die höheren Menschen Aspekte Zarathustras darstellen und alle höheren Menschen scheitern, scheitert dann Zarathustra, der sich schließlich sogar als Person in ihnen aufhebt? Ganz so weit möchte Kiesel schließlich in dem kurzen Fazit nicht gehen. Die harmonische Idylle aus dem Kapitel Das Zeichen erscheint als Indiz für einen wiederhergestellten Zarathustra, auch wenn diese Herstellung, so Kiesel, nur punktuell geschehe und das Thema der geglückten Identitätsneubildung von Nietzsche in seinem weiteren Werk nicht weiter nachverfolgt werde (vgl. S. 80). Auf relevante Interpretationen aus Kiesels Werk wird im Folgenden in den Fußnoten verwiesen (vgl. Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, Würzburg 2015).

  8. 8.

    In Interpretation der nietzscheschen Philosophie unterscheidet auch Kaulbach zwischen einem starken und einem schwachen Nihilismus. Der Untergang des christlich-platonischen Dogmas ist für ihn die Einleitung in den schwachen Nihilismus. Der starke Nihilismus taucht erst in unserer Zeit auf, vorbereitet durch Nietzsche, der die reine Vernunft ad absurdum geführt hat (vgl. Kaulbach, Friedrich: Philosophie des Perspektivismus I. Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche, S. 281). Demnach entspricht der Schatten dem konsequent zu Ende gedachten schwachen Nihilismus, der aber noch nicht dazu befähigt, sich positiv frei zu selbstgewählten Perspektiven zu verhalten.

  9. 9.

    Reschke betont, dass diese Pindar-Anleihe, die in verschiedenen Varianten auch in Nietzsches Briefe vorkommt, ein wichtiges Motiv seiner Philosophie darstellt: „Die differenten Formulierungen zeigen, wie sehr Nietzsches Pindar-Anleihe eigene Vorstellungen von subjektiver Arbeit am Selbst hervortreibt in einem Denkprozess, dessen Gedankenstränge in etwas anderem zusammenlaufen als in einer bloßen Aufforderungsformel. Wobei das Resultat bereits am Anfang steht: Nicht nur der zu werden und zu sein, der man ist oder sein will, sondern der zu sein, der man sein muss (an Lou von Salomé, 24.11.1882, KSB 6, 282)“ (Reschke, Renate: Schweigen unter schwarzen Zypressen und ‚Morgenröten‘. Friedrich Nietzsche über Lebenskunststrategien, S. 177). Vgl. auch FW, KSA 3, 563: „Wir aber wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!“ Oder auch den Untertitel von EH: Wie man wird, was man ist. Es sei hierbei noch angemerkt, dass Nietzsches „Übersetzung“, wie die Nietzscheforschung nahezu einhellig feststellt „keine angemessene Übertragung des griechischen Urtextes vorstellt“ (NK 4, KSA 4, 297, 14–17), gerade auch bezüglich ihrer inhaltlichen Deutung, die Nietzsche damit vornimmt.

  10. 10.

    In EH steht der Zarathustra nicht nur am Gipfel seiner eigenen Philosophie „6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit‘“ (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe, Za 1, KSA 6, 335), sondern übertrifft alle bisherige Literatur: „es ist vielleicht überhaupt nie Etwas aus einem gleichen Überfluss von Kraft heraus gethan worden. […] Dass ein Goethe, ein Shakespeare nicht einen Augenblick in dieser ungeheuren Leidenschaft und Höhe zu athmen wissen würde, dass Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloss ein Gläubiger ist und nicht Einer, der die Wahrheit erst schafft, ein weltregierender Geist, ein Schicksal –, dass die Dichter des Veda Priester sind und nicht einmal würdig, die Schuhsohlen eines Zarathustra zu lösen“ (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe, Za 6, KSA 6, 343).

  11. 11.

    Vgl. N. an Franz Overbeck, 08.03.1884, KSB 6, Nr. 494, S. 485 / N. an Malwida von Meysenbug, gegen Ende März 1884, KSB 6, Nr. 498, S. 490 / N. an Franz Overbeck, 07.04.1884, KSB 6, Nr. 504, S. 496. In dieser Zeit müssen es sich die M und die FW gefallen lassen, als Kommentar und Erläuterung des Za zu gelten (vgl. z. B. N. an Resa von Schirnhofer, Anfang Mai 1884, KSB 6, Nr. 510, S. 502). Dies ist ein Schicksal, dass JGB bald mit ihnen teilt (vgl. z. B. N. an Reinhart von Seydlitz, 26.10.1886, KSB 7, Nr. 768, S. 270–271).

  12. 12.

    Allerdings klingen 1884 auch nicht alle Kommentare bescheiden. Auch in einem Brief an Malwida von Meysenbug formuliert Nietzsche die Hoffnung, der Za möge ein Buch sein, auf das Menschen auf Jahrtausende hin ein Gelübde versprechen: „Was ich will, das wird Ihnen mein Sohn Zarathustra zwar nicht sagen, aber zu rathen aufgeben; vielleicht ist es zu errathen. Und gewiß ist Dies: ich will die Menschheit zu Entschlüssen drängen, welche über die ganze menschliche Zukunft entscheiden, und es kann so kommen, daß einmal ganze Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun. – Unter einem ‚Jünger‘ würde ich einen Menschen verstehn, der mir ein unbedingtes Gelübde machte –“ (N. an Malwida von Meysenbug, erste Juniwoche 1884, KSB 6, Nr. 516, S. 510). An die Formulierung aus dem Brief an Rohde (N. an Erwin Rohde, 22.02.1884, KSB 6, Nr. 490, S. 478) erinnern auch folgende Worte im Brief an Carl Fuchs 1888: „Ich habe den Menschen das tiefste Buch gegeben, das sie besitzen, meinen Zarathustra: ein Buch, das dermaßen auszeichnet, daß wer sagen kann ‚ich habe sechs Sätze davon verstanden, das heißt erlebt‘ damit zu einer höheren Ordnung der Sterblichen gehört. – Aber wie man das büßen muß! abzahlen muß! es verdirbt beinahe den Charakter! Die Kluft ist zu groß geworden. Ich treibe seitdem eigentlich nur Possenreißerei, um über eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit Herr zu bleiben. Dies unter uns. Der Rest ist Schweigen“ (N. an Carl Fuch, 18.07.1888, KSB 8, Nr. 1064, S. 359).

  13. 13.

    Allerdings hatte Nietzsche auch nach Beendigung des ersten Teiles des Za kurzzeitig den Eindruck, diesen endgültig abgeschlossen zu haben.

  14. 14.

    Es war lange Zeit gängige Praxis der Nietzscheforschung, Zitate aus Nietzsches Werk herauszunehmen, ungeachtet, ob es sich um Notate aus dem Nachlass, nie veröffentlichte Schriften oder Aphorismen aus dem veröffentlichten Werk handelte. Dies ist zum Teil immer noch gängige Praxis. Beispielsweise bei Schweer, Christoph: Heimweh, Heros, Heiterkeit. Nietzsches Weg zum Überhelden, Würzburg 2018. Nietzsche, der ein Vielleser war, hatte die Angewohnheit, Zitate oder Erinnerungen des kürzlich Gelesenen aufzuschreiben, ohne Werk und Autor zu nennen, wodurch einige Forscher verleitet wurden, diese Notizen Nietzsches eigenem Denken zuzuschreiben. Das noch nicht beendete Projekt „Nietzsches Bibliothek“ widmet sich der Aufgabe, solche Notate und auch Anspielungen herauszuarbeiten: „Das Projekt beruht auf der Prämisse, dass Nietzsches Werke ohne ihre Kontexte nicht angemessen zu verstehen sind – und zwar trotz seiner wiederholten Stilisierung zum ‚unzeitgemäßen‘ Denker und der Angewohnheit, wichtige Bezüge und Quellen in seinen Texten zu verschleiern. Es begegnen dort sowohl wörtliche Übernahmen ganzer Absätze als auch unterschiedliche Formen konstruktiver wie selektiver Aneignung, etwa Anspielungen oder falsche Zitate“ (http://www.philosophie.uni-freiburg.de/seminar/professur_sommer/nietzsches-bibliothek-digitale-edition-und-philosophischer-kommentar zuletzt überprüft am: 02.07.2020). Die Gleichstellung zwischen Notaten aus dem Nachlass und seinem veröffentlichten Werk ignoriert Nietzsches eigenen Kompositionswillen. Über sein eigenes Gesamtwerk verfügen zu können, hatte für Nietzsche einen wichtigen Stellenwert (bereits 1885 wünscht sich Nietzsche die ersten drei Teile des Za zurück; vgl. N. an Franz Overbeck, 31.03.1885, KSB 7, Nr. 589, S. 33–34), wobei sein letztes Ansinnen, alle Bücher wieder in seine Hände zu bekommen, im Zeichen des beginnenden Größenwahnsinns stand: „Ich will meinen Zarathustra zurück aus den Händen von E. W. Fritzsch, ich will meine ganze Litteratur selbst in den Händen haben, als deren Alleinbesitzer. Sie ist nicht nur ein ungeheures Vermögen, denn mein Zarathustra wird wie die Bibel gelesen werden“ (N. an Paul Deussen, 26.11.1888, KSB 8, Nr. 1159, S. 492).

  15. 15.

    Vgl. N. an Heinrich Köselitz, 14.03.1885, KSB 7, Nr. 580, S. 21 und N. an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 16.04.1885, KSB 7, Nr. 596, S. 41.

  16. 16.

    Kaum, dass Paul Heinrich Widemann für die Nennung von Nietzsches Zarathustra mit dem „nicht herausgegebene[n] und geheim zu haltende[n] verwegene[n] „‚Finale‘ meiner Symphonie“ (N. an Paul Heinrich Widemann, 31.07.1885, KSB 7, Nr. 616, S. 74) gewürdigt wurde, schreibt Nietzsche im Dezember desselben Jahres an Overbeck von der Frechheit Widemanns „mich in Einem Athem mit dem greulichen Anarchisten und Giftmaule Eugen Dühring zusammen zu loben!“ (N. an Franz Overbeck, Anfang Dezember 1885, KSB 7, Nr. 649, S. 117–118).

  17. 17.

    So schrieb Nietzsche zu diesem Zeitpunkt noch „von dem nunmehr unvermeidlichen fünften und sechsten Theile“, den er schreiben müsse, weil er Zarathustra nicht eher ruhen lassen könne, als bis er ihn „zu seinem schönen Tode“ verholfen habe (N. an Elisabeth Nietzsche, 15.11.1884, KSB 6, Nr. 556, S. 557).

  18. 18.

    So in den Briefen: N. an Franz Overbeck, 06.02.1884, KSB 6, Nr. 486, S. 475 / N. an Carl von Gersdorff, 12.02.1885, KSB 7, Nr. 572, S. 9 / N. an Heinrich Köselitz, 14.03.1885, KSB 7, Nr. 580, S. 21 / N. an Paul Heinrich Widemann, 31.07.1885, KSB 7, Nr. 616, S. 74.

  19. 19.

    An dieser Stelle kann angemerkt werden, dass Nietzsche angesichts der Ungelesenheit seiner Bücher einen durchaus zynischen Blick bewahrt, wenn er beispielsweise seiner Mutter und Schwester schreibt, dass, wenn er vorläufig die 40 Exemplare des IV. Teiles nach Naumburg zu schicken gedenke, sie Folgendes mit diesem „Bücher-Ballen“ tun sollten: „stellt ihn hübsch in eine Ecke und laßt ihn schimmeln!“ (N. an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 16.04.1885, KSB 7, Nr. 596, S. 41). Nebenbei sagt dies natürlich auch einiges darüber aus, was er über die familiäre Wertschätzung seines Werkes denkt.

  20. 20.

    Bennholdt-Thomsen verweist auf die antiken kultischen Riten in Bezug auf das Honig-Opfer: „Honigopfer galten in der Antike allgemein den Göttern. Nach Ovid (Fasti 3,736 ff.) ist Spender des Honigs Dionysos. Wahrscheinlich ist, daß Nietzsche mit dem Honigopfer Dionysos selbst ehren lassen will. Dabei muß berücksichtigt werden, daß Zarathustra […] das Opfer umdeutet in das Verschenken seines Weisheits-Honigs, mit dem er die Menschen fangen will“ (Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarischen Phänomen. Eine Revision, Frankfurt am Main 1974, S. 129). Zum symbolischen Gehalt des Honigopfers, siehe auch NK 4, KSA 4, 295, 1.

  21. 21.

    Aber wem sollte man opfern, wenn Gott tot ist? Der anfangs erstaunte Leser, der zur Kenntnis nimmt, dass Zarathustra vielleicht doch noch ein gläubiger Einsiedler geworden sein könnte wie alle anderen, erfährt nun, dass Zarathustra sich selbst treu geblieben ist.

  22. 22.

    Vgl. Mk, 1, 17: „Und Jesus sprach zu ihnen: Kommt, folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen!“

  23. 23.

    Über den Abschied von solchen Freunden scheint Zarathustra im III. Teil zu weinen: „[D]a aber gedachte er seiner verlassenen Freunde –, und wie als ob er sich mit seinen Gedanken an ihnen vergangen habe, zürnte er sich ob seiner Gedanken. Und alsbald geschah es, dass der Lachende weinte: – vor Zorn und Sehnsucht weinte Zarathustra bitterlich“ (Za III, Der Wanderer, KSA 4, 196). Inwiefern hat sich Zarathustra aber an seinen so betitelten Freunden vergangen? Zuvor dachte er darüber nach, wie leicht ein Einsamer dazu verführt werden könne, etwas zu lieben, was der Liebe nicht wert ist, denn „[d]ie Liebe ist die Gefahr des Einsamsten, die Liebe zu Allem, wenn es nur lebt!“ (Ebd.). Mit diesem Gedanken wertet Zarathustra allerdings auch seine Freunde ab, die zu etwas Unwürdigem werden, zu etwas bloß Lebendigem, wie er kurz darauf feststellt und so bereut er das zuvor Gedachte. Nun kann zwar der Leser an die Freundschaft glauben, wenn doch Zarathustra um dieser Freundschaft willen seine Kritik gerne zurücknähme, aber er kann auch misstrauisch bleiben. Warum taucht keiner der Freunde unter einem Namen oder Symbol in dem Buch auf? Und warum folgt auf die gerade verlassene Gemeinschaft eine Rede, welche den Wert von Liebe und Freundschaft als Versuchung herausstellt? Ist das Ende des Kapitels vielleicht eines der wenigen, die Zarathustra einmal schwach zeigen? Eigentlich weiß er, dass seine „Freunde“ nicht so viel wert sind (wie es in der Rede durchklingt), aber für den Moment, in dem er Angst vor der Einsamkeit hat, weint er um die „Freunde“ und wertet sie auf.

  24. 24.

    In diesem Sinne würde Zarathustra tatsächlich einen entthronten Schöpfergott beerben. Nun da Gott starb, ist es Zarathustras Aufgabe, Menschen nach seinem Bilde, d. h. seinem Ideale zu gestalten.

  25. 25.

    Die höheren Menschen können also, wie Bennholdt-Thomsen feststellt, zunächst als diejenigen verstanden werden, die primär in der Lage sind „in die Höhenlage Zarathustras zu gelangen [und] die die Talniederungen hinter sich haben. Gleichwohl zeigt der Komparativ auch wiederum an, daß die Notschreienden nicht hoch genug stehen, um Zarathustra in Wahrheit zu gleichen. Aus dieser Zwischenstellung, die durch ein Nicht-mehr und Noch-nicht zu charakterisieren ist, resultiert einerseits ihre Bedeutung, andererseits aber auch ihre Gefahr für Zarathustra“ (Bennholdt-Thomsen, Anke: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarischen Phänomen. Eine Revision, S. 131).

  26. 26.

    Der Reinfolge ihres Auftretens kommt einigen Interpreten zufolge eine besondere Bedeutung zu, als würde damit eine aufsteigende Rangfolge ausgedrückt (vgl. Gramzow: Kurzer Kommentar zum Zarathustra, Charlottenburg 1907, S. 52 oder auch Naumann, Gustav: Zarathustra – Commentar, Vierter (letzter) Theil, Leipzig 1901, S. 24). Dies kann jedoch kaum überzeugen angesichts der unterschiedlich langen Redeanteile, den zusätzlichen Gedichteinlagen des Zauberers (4. Figur) und des Schattens (letzte Figur) und den Verweisen auf frühere Kapitel in Bezug auf die Gestalt des Wahrsagers (1. Figur).

  27. 27.

    Kiesel interpretiert die Höhle, in der sich schließlich alle höheren Menschen einfinden, als Symbol für „die multiple seelische Verfasstheit Zarathustras. Insofern sind die höheren Menschen auch nicht als Persiflage gedacht, sondern als dramatische Ausführung des Phänomens psychischer Selbstfragmentierung und Selbstaufhebung der Person“ (Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, S. 13).

  28. 28.

    Werner Stegmaier schreibt zur Bedeutung des Lachens bei Nietzsche: „Die Moral gibt dem Handeln seinen Ernst; das Lachen aber schützt vor diesem Ernst, indem es ihn kompromittiert. Wer lacht, kann seiner Moral folgen und sich zugleich dessen bewußt sein, daß es seine Moral ist, der er folgt. Das Lachen löst von der Identifikation mit einer Moral, ohne sie aufzulösen, es distanziert von ihr, ohne sie zu destruieren, es macht auf sie aufmerksam, ohne mit ihr zu brechen. Der Zwang, den eine Moral über den Handelnden ausübt, wird durch Lachen zu einem ‚Zeichen‘, zu dem sich der Handelnde frei entscheiden kann“ (Stegmaier, Werner: Anti-Lehren. Szene und Lehre in Nietzsches Also sprach Zarathustra, S. 164).

  29. 29.

    Wie Kiesel bemerkt, deutet die gute Luft auf „Ressentimentfreiheit [hin]: Es ist das Ressentiment der höheren Menschen, das schlechte Luft erzeugt und den ekelempfindlichen Zarathustra aus seiner bevölkerten Höhle […] fliehen lässt“ (Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, S. 44).

  30. 30.

    Dabei kann die Anbetung des Esels sowohl als Rückfall in eine nur scheinbar überwundene Religiosität verstanden werden, als auch im Zuge der Parodierung religiöser Anbetung auch als Befreiung oder sogar als Ironisierung und Brechung zarathustrischer Ideale. Bennholdt-Thomsen deutet den Esel „als die satirische Umkehrung der Rolle des Kindes, die den kommenden Menschen prägen soll. Das Eselsfest bezeugt den Sieg über den Geist der Schwere. Auf diese Weise erscheint die Philosophie Nietzsches am Ende verfremdet; Nietzsche distanziert sich durch das Lachen von ihrem zwingenden Ernst und erreicht damit die Leichtigkeit, die Zarathustra fordert und die seinem eigenen Denkansatz den Charakter des Versuchs zurückgibt“ (Bennholdt-Thomsen: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarischen Phänomen. Eine Revision, S. 55).

  31. 31.

    Platons Höhlengleichnis ist hier als Assoziation und Antithese präsent. Anstatt dass der Philosoph von den Gefangenen vernichtet wird, wenn er versucht, ihnen den Weg aus der Höhle zu weisen, zeigen sich hier allerdings die höheren Menschen recht folgsam. Der Schritt aus der Höhle führt nicht zur Sichtbarmachung der reinen Ideenwelt, sondern das Verlassen der Höhle bedeutet die Befreiung aus den einengenden Vorstellungen einer fremdbestimmenden Theologie und des Aberglaubens. Zarathustra schreitet mit den höheren Menschen in die freie Natur, die als Sinnbild für das irdische Leben erscheint.

  32. 32.

    Ein besonders deutlicher Kommentar dazu findet sich in EH, in dem Nietzsche die Wahl des Titels „Der Wanderer und sein Schatten“ des letzten Teiles von MA II deutet: „Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: ‚Der Wanderer und sein Schatten‘ entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten…“ (EH, Warum ich so weise bin 1, KSA 6, 264 f).

  33. 33.

    Vgl. MA I, Vorrede, I, KSA 2, 15: „So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die ‚freien Geister‘ erfunden, denen dieses schwermüthig-muthige Buch mit dem Titel ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ gewidmet ist: dergleichen ‚freie Geister‘ giebt es nicht, gab es nicht, – aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthätigkeit)“.

  34. 34.

    Dieser wurde von Zarathustra im zweiten Teil zum Essen eingeladen. Im dritten Teil erinnert sich Zarathustra an das einstige Gespräch und die damals gesprochenen Worte, die nahezu identisch mit denen aus dem IV. Teil sind: „Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würgt“ (Za III, Der Genesende 2, KSA 4, 272). In Za IV Der Nothschrei rekurriert Zarathustra auf diese Erinnerung, wenn er ihn das zweite Mal zu Tisch bittet.

  35. 35.

    Diese Melancholie der Vollendung als „[d]er Schmerz, einem musealen Zeitalter der Epigonen anzugehören“ (Schweer, Christoph: Heimweh, Heros, Heiterkeit. Nietzsches Weg zum Überhelden, S. 28), wird bei Nietzsche bereits in der Historienschrift formuliert, wie Christoph Schweer bemerkt: „Der überhistorische Blick und der Gedanke der ewigen Widerkehr verleiten zum Ekel am Dasein“ (ebd., S. 38 f.).

  36. 36.

    Den Titel „Fürsprecher des Lebens“ (ZA II, Der Wahrsager, KSA 4, 175), mit dem ihn eben jener am meisten geliebte Jünger einst und zuallererst betitelte, beansprucht er inzwischen für sich. Auch diese Verbindung zwischen den Kapiteln „Der Wahrsager“ und „Der Genesende“ spricht dafür, dass es sich bei den jeweils erwähnten Wahrsagern um ein- und dieselbe Person handelt.

  37. 37.

    Salaquarda beschreibt diese Inszenierung als mythischen Kampf: „Der Held fordert das Ungeheuer zum Kampf heraus, indem er ihm kundtut, wen es vor sich hat. Dabei fährt er in einer verbalen Drohgebärde seine stärksten Geschütze auf. Er präsentiert sich als – der Gottlose, der lehrt, daß alle Götter tot sind, und daher auf keinen überirdischen Beistand hofft; – der Fürsprecher des Lebens, der sich gegen Weltflucht und – Verneinung in jeder Form wendet; – der Fürsprecher des Leidens, der dieses zwar als Grundtatsache des Lebens kennt und anerkennt, sich aber weigert, es als Einwand gegen das Leben aufzufassen; – der Fürsprecher des Kreises, der die lineare Zeitauffassung und mit ihr jede Art von teleologischer Weltbetrachtung verwirft“ (Salaquarda, Jörg: Die Grundconception des Zarathustra, in: Gerhardt, Volker (Hg.): Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, Berlin 2012, S. 59 f.).

  38. 38.

    Alexander Nehamas widerspricht der Deutung, dass in diesem Kapitel die Möglichkeit von der Selbsttötung Zarathustras angesprochen ist, mit dem Hinweis darauf, dass Zarathustra selbst behauptet, dass ihm in diesem Moment das Leben am allerliebsten ist. Aber muss man als Leser allen Angaben von Zarathustra Glauben schenken? Und selbst wenn man ihm Glauben schenkte, wäre die Frage zu stellen, ob die Liebe zum Leben den Wunsch zu sterben ausschließt? Zarathustra selbst spricht in einer seiner Reden folgende Worte: „Liebe und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode“ (Za II, Von der unbefleckten Erkenntniss, KSA 4, 157). Beachtet man die Struktur, in der die Idee der Wiederkunft in den Zarathustra eingeflochten ist, erscheint Nehamas Interpretation als zu oberflächlich. Das Furchtbare des Gedankens ist in den beiden Visionen, die ihren Höhepunkt in der Vorstellung der schwarzen Schlange finden, präsent. Allein die Kapitelüberschrift Der Genesende impliziert, dass Krankheit, Gefahr und Nähe des Todes unmittelbar mit dem Gedanken der Wiederkunft verbunden sind. Schrittweise gelingt Zarathustra die Genesung, indem er sich in den Liedern immer weiter steigernd befreit und schließlich im Ja und Amen-Lied die Wiederkunft aus vollstem Herzen bejaht (vgl. Nehamas, Alexander: For whom the Sun shines, in: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, hrsg. von Volker Gerhardt, Berlin 2012, S. 133).

  39. 39.

    Vgl. FW 341, KSA 3, 570: „‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge […]“.

  40. 40.

    Alois Riehl, der den Gedanken der Wiederkunft nicht nur als maßgebliche Idee des Za betrachtet, sondern vielmehr verkürzend schließt, dass seit dem Za dieser Gedanke zum Kern von Nietzsches Philosophie werde, leitet dennoch richtig die zweischneidigen Konsequenzen dieser Lehre ab: „Da es aber nach der späteren Lehre Nietzsche’s kein Entrinnen vom Leben giebt, das Leben vielmehr in ‚ewiger Wiederkunft‘ unendlich Mal oft zurückkehrt: das nämliche Leben – so müssen jetzt alle Moralvorschriften und Praktiken, das Leben zu verneinen, nicht nur sinnlos, sondern verwerflich erscheinen. Aus dem weltverneinenden, die Welt überwindenden ‚Anachoreten und Heiligen‘ wird der weltbejahende, ‚dionysische‘ Genius und Held, der zum Leben ja sagt, ‚selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen‘“ (Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker, Stuttgart 1897, S. 120).

  41. 41.

    So bot bisher „die christliche Moral-Hypothese [folgende Vorteile:] 1) sie verlieh dem Menschen einen absoluten Werth […] 2) sie diente den Advokaten Gottes, insofern sie der Welt trotz Leid und Übel den Charakter der Vollkommenheit ließ, – eingerechnet jene ‚Freiheit‘ – das Übel erschien voller Sinn. 3) sie setzt ein Wissen um absolute Werthe beim Menschen an und gab ihm somit gerade für das Wichtigste adäquate Erkenntniß“ (NL 1886/1887, KSA 12, 5 [71], 211).

  42. 42.

    Der Gedanke der Wiederkunft ist nichts anderes als „die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig!“ (vgl. NL 1886/1887, KSA 12, 5 [71], 213).

  43. 43.

    Wie der Wiederkunftsgedanke bei Nietzsche zu interpretieren ist, darüber gibt es in der Forschungsliteratur unterschiedliche Ansätze. Diese Arbeit schließt sich der Deutung Salaquardas und Figals an, das heißt derjenigen, derzufolge nach Nietzsches Gedanke der Wiederkunft „der Weltlauf sich in identischen Zyklen wiederhole“ (Salaquarda, Jörg, Die Grundconception des Zarathustra, S. 55). Salaquarda gibt drei verschiedene Aspekte der Wiederkehr an: 1. Es geht um die Wiederkehr „von allem: Nichts geht je verloren; selbst der kleinste ‚Seufzer‘, jeder Gedanke, jede Lust und jeder Schmerz, alle kleinen und großen Ereignisse werden wiederkehren. [2. um die Wiederkehr] von allem in der gleichen Anordnung, ohne Variation: ‚Alles in der selben Reihe und Folge‘; [und 3. Geht es um die Wiederkehr] von allem in der gleichen Reihenfolge, die immer wieder geschieht: Wir werden unser Leben nicht nur ‚noch einmal‘, sondern unzählige Male leben müssen‘. Unausgesprochen impliziert das natürlich, daß wir es auch schon unendlich oft gelebt haben. ‚Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht‘“ (Salaquarda, Jörg: Die Grundconception des Zarathustra, S. 56). Vgl. auch Figal, Günter: Nietzsche. Eine philosophische Einführung, Reclam Verlag, Stuttgart 1999, S. 265–266). Vgl. auch NL 1881, KSA 9, 11 [202], 523 / NL 1881, KSA 9, 11 [148], 498 / Za III, Der Genesende, KSA 4, 276. Im Gegensatz zu dieser Auffassung stehen jene Interpretationen, die versuchen, die Möglichkeit von Veränderung in den Wiederkunftsgedanken von Nietzsche hineinzudenken, indem sie die These vertreten, es gehe eben nicht um die unendliche Wiederholung desselben. Vertreter dieser These sind unter anderen Gilles Deleuze und Annemarie Pieper. Deleuze schreibt: „Die ewige Wiederkunft ist nicht das Verharren Ein-und-Desselben, ist weder ein Gleichgewichtszustand noch die Dauer des Identischen. In der ewigen Wiederkunft kehrt nicht Ein-und-Dasselbe zurück, sondern die Wiederkunft ist selbst das Eine, das allein vom Diversen und von sich Unterscheidenden ausgesagt wird“ (Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, zitiert in: Pieper, Annemarie, ‚Ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch‘. Philosophische Erläuterungen zu Nietzsches Also sprach Zarathustra von 1883, S. 372. Vgl. auch ebd., S. 382). Zur Rezeptionsgeschichte des Gedankens der Wiederkunft siehe auch: Kerkmann, Jan: Die ewige Wiederkehr und der Wille zur Macht. Eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung über das Verhältnis der beiden ‚Grundlehren‘ in ausgewählten Nietzsche-Interpretationen 1894–1936, Baden-Baden 2019.

  44. 44.

    Mit diesen Worten wird betont, dass es Zarathustra keineswegs um eine moralische Deutung geht. Nicht, dass der Mensch moralisch „böse“ ist, wird bedauert, sondern seine allgemeine Mittelmäßigkeit.

  45. 45.

    Schon in FW 341 geht es letztlich um die Möglichkeit, diesen Gedanken bejahen zu können: „Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ‚du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‘ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem ‚willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?‘ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?“ (FW 341, KSA 3, 570). Sich diese Frage bei jeder Handlung ins Gedächtnis zu rufen, könnte als Formel zur Lebenssteigerung in Gebrauch genommen werden. Die Frage, ob sie dazu taugt oder ob sie das Leben vernichten würde, fasziniert Nietzsche bis zuletzt: „Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundconception des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann -, gehört in den August des Jahres 1881 […]“ (EH, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, 1, KSA 6, 335).

  46. 46.

    So scheinen die Tiere nicht ganz und gar den Selbstmord zu verurteilen. Sie erwarten allerdings von Zarathustra, dass, wenn er an dem Gedanken der Wiederkunft zerbricht, dies als sein Schicksal annehme und gutheiße, besser jedoch, er würde nicht daran zugrunde gehen. Ganz sicherlich aber entgeht man durch die Selbsttötung nicht dem Leben und dem Scheitern, wenn es sich immer wiederholt.

  47. 47.

    Als Lehre, so muss einschränkend hinzugefügt werden, fassen allerdings nur die Tiere Zarathustras diesen Gedanken auf, sofern sie eben Zarathustra als Lehrer der Wiederkunft deuten (vgl. Za III, Der Genesende 2, KSA 4, 276).

  48. 48.

    Die Sünde als theologischer Begriff lässt sich insofern deuten, als dass hier Zarathustra sich gegen sich selbst versündigt. Zarathustra hat damit einen Stand der Göttlichkeit erreicht, sei es in der Möglichkeit sich selbst Gesetze zu geben als auch sich selbst zu erschaffen (d. h. das eigene Wesen zu bestimmen), wobei einschränkend hinzugefügt werden muss, dass es freilich nur ein einziges von Zarathustra geschaffenes Geschöpf gibt, ihn selbst.

  49. 49.

    Diese Stimme taucht ab Za II auf, um Zarathustra zu seiner Bestimmung, der Auseinandersetzung mit dem Gedanken der Wiederkunft, aufzurufen. Auch die Begegnung mit den höheren Menschen steht daher im Zeichen des Wiederkunftsgedankens (vgl. Za II, Von grossen Ereignissen, KSA 4, 167 / Za III, Von der Seligkeit wider Willen, KSA 4, 204).

  50. 50.

    Vgl. dazu auch Figal: „Erträglich ist ihm [Zarathustra] die Wiederkunftslehre nur in der Kunstform, als Lied, das er sogleich wieder in seiner Fragwürdigkeit durchschaut: er nennt es ein ‚Leier-Lied‘ […]. Wo die Zarathustra zugeordneten Tiere munter vom ewigen rollenden Rad des Seins, dem Spiel vom Vergehen und Wiederkehr sin-gen, ist die Erfahrung der Schwere vergessen“ (Figal, Günter: Kein Grieche und kein tragischer Gott. Nietzsches Zarathustra-Dichtung zwischen Platon und Richard Wagner, in: Lectures d’une oeuvre „Also sprach Zarathustra“. Friedrich Nietzsche, S. 54). Allerdings ist zwischen dem Leier Lied und Zarathustras Tanzlied zu unterscheiden. Während das eine trivial bleibt, weil es das Leiden nicht thematisiert, sondern im fröhlichen Einerlei es vergessen macht, fordert das Tanzlied auf, sich über den Abgrund des Leidens hinweg zu setzen. Dass damit aber das Leiden für immer überwunden wäre, scheint tatsächlich unwahrscheinlich und noch nicht einmal wünschenswert zu sein, muss doch auch die negative Seite der Wiederkunft und das Leiden bejaht werden.

  51. 51.

    Vgl. auch Pieper, Annemarie: ‚Ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch. Philosophische Erläuterungen zu Nietzsches Also sprach Zarathustra von 1883, S. 132–148.

  52. 52.

    „Wahrlich, immer zieht es uns hinan – nämlich zum Reich der Wolken: auf diese setzen wir unsre bunten Bälge und heissen sie dann Götter und Übermenschen: – / Sind sie doch gerade leicht genug für diese Stühle! – alle diese Götter und Übermenschen“ (ZA II, Von den Dichtern, KSA 4, 164).

  53. 53.

    Auch die glückseligen Inseln sind eine Anspielung auf die Vergangenheit Zarathustras. Denn auf diesen weilte er eine Zeitlang und glaubte dort Freunde gefunden zu haben (vgl. Za III, Der Wanderer, KSA 4, 196).

  54. 54.

    Bei dieser Stelle ist im Vergleich zu Za, Der Genesende 2, KSA 4, 274 augenfällig, dass Zarathustra, wenn er von „gut“ und „böse“, „Gott“ und „Teufel“ spricht, die Begriffe einmal in herkömmlicher Deutung nutzt, wobei er sich in diesem Fall als Atheist und Gegner christlich tradierter Moralvorstellungen abfällig darüber äußert, oder aber die Werte in ihrer Bedeutung herumdreht und dann für sich in Anspruch nimmt. Obwohl Atheist, kann er sich als Diener des Göttlichen begreifen. Dieses Göttliche hat allerdings mit dem christlichen Gottesglauben nichts mehr zu tun. So muss bei jeder einzelnen Stelle geprüft werden, in welcher Bedeutung diese Begriffe genutzt werden.

  55. 55.

    Der Zwerg spielt in dem Bild mit dem Unmöglichen: Man kann andere Dinge werfen, aber nicht sich selbst. Sich selbst hochzuwerfen, erscheint als Wunsch, selbst die eigene Ursache von sich zu sein (der kausale Grund des Werfens). In diesem Sinn ist die Selbstvergöttlichung antizipiert, selbst sein eigener Grund sein zu wollen, wie es beispielsweise paradigmatisch bei Schelling heißt, der diesen Wunsch als die Hybris des Menschen definiert: „so schwingt sich ein andrer Geist an die Stelle, da Gott sein sollte“ (Schelling, Friedrich W. J.: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Stuttgart, 1964, S. 108).

  56. 56.

    Als eine Ausnahme würde sich die Selbsttötung betrachten lassen, sofern sich diese Tat als Folge des Urteils über den Wert des Lebens darstellen würde. In diesem Fall hätte das pessimistische Denken nicht nur das Leben gefährdet, sondern es auch vernichtet.

  57. 57.

    Jan Kerkmann interpretiert den Wahrsager im Gegensatz zu dieser Deutung als ‚Geburtshelfer‘, der Zarathustra zur Auseinandersetzung mit den höheren Menschen anregt, um ihn an Größe gewinnen zu lassen (vgl. Kerkmann, Jan: Die Einkreisung der schwarzen Schlange. Zur Figur des Wahrsagers im Zarathustra, in: Grätz, Katharina/ Kaufmann, Sebastian (Hg.): Nietzsche als Dichter. Lyrik –Poetologie – Rezeption, Berlin / Boston 2017, S. 253). Andererseits helfe auch Zarathustra dem Wahrsager seinen „unvollständigen Nihilismus“ (ebd., S. 267) zu überwinden. Einen Beweis für die Überwindung findet Kerkmann im Kapitel Das Abendmahl, indem ausgerechnet der Wahrsager darauf „insistiert […] sich statt Gesprächen den sinnlichen Genüssen zuzuwenden. Diese Kehre bekundet nicht die Verherrlichung eines unbeschwerten Hedonismus, sondern unterstreicht die Einbindung des Leibes und die Anerkennung einer Realität der Triebe, die sowohl ‚jenseits von Gut und Böse‘ als auch von Lust und Unlust angesiedelt ist“ (ebd., S. 268). Dabei übersieht Kerkmann, dass des Wahrsagers Hinweis auf Trank und Essen nur ein rhetorischer Kniff ist, um die Versuchung Zarathustras fortdauern zu lassen, indem der Streit besänftigt wird. Warum auch sollte der Wahrsager, der Zarathustra zum Kampf aufgefordert hat, so schnell klein beigeben, sind doch gerade erst alle Gäste und Zarathustra zu der Höhle zurückgekehrt, in welcher er wartete. Kerkmann, der den Wahrsager über sich hinauswachsen sieht, folgert, dass dieser „nun Mitleid, isolierende Askese und Kontemplation als Heilmittel ab[lehne. E]r sehnt sich stattdessen nach einer Genesung, die ihn notwendigerweise mit der dionysischen Begeisterung, der Ekstase, der Ursprungsahnung in Berührung bringt“ (ebd., S. 269). Tatsächlich könnte sich im Nachtwandler-Lied die Verwandlung des Wahrsagers andeuten. Ob der Wein als dionysischer Trank aufgewertet oder die Verwandlung als drogeninduzierte abgewertet wird, bleibt indes ambivalent. Nicht zu vergessen ist, dass der Rausch und rauschhafte Zustände, sofern sie als eigentliches, wahreres Leben behauptet werden, auch in der Kritik stehen (vgl. z. B. M 50, KSA, 3, 54–55).

  58. 58.

    So schreibt Schopenhauer: „das principium individuationis, die Form der Erscheinung, befängt ihn [den Mitleidigen] nicht mehr so fest […] Er wird inne, daß der Unterschied zwischen ihm und Anderen, welcher dem Bösen eine so große Kluft ist, nur einer vergänglichen täuschenden Erscheinung angehört: er erkennt, unmittelbar und ohne Schlüsse, daß das Ansich seiner eigenen Erscheinung auch das der fremden ist, nämlich jener Wille zum Leben, welcher das Wesen jeglichen Dinges ausmacht und in Allem lebt“ (Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 480).

  59. 59.

    Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 483.

  60. 60.

    „Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Werth: und jede aus irgend welchen anderen Motiven hervorgehende hat keinen“ (Schopenhauer, Arthur: Über die Grundlage der Moral, in: Schopenhauer Arthur: Über die Freiheit des menschlichen Willens / Über die Grundlage der Moral. Kleinere Schriften II, Zürich 1977, S. 248).

  61. 61.

    Nietzsche stellt das Phänomen des Mitleids sogar ganz in Frage, indem er daran zweifelt, dass es überhaupt so etwas wie uneigennützige Handlungen gebe. Schopenhauer habe seiner Meinung nach einfach nicht tief genug geblickt und sei blind gewesen für die hinter dem Mitleiden stehenden egoistischen Motive, von denen es zahlreiche gebe (M, 133, KSA 3, 125 ff.), am auffälligsten davon der Genuss eigener Überlegenheit und Macht. Aber auch der Nutznießer der mitleidigen Handlung ist nicht unverdächtig: Will er den anderen nicht zum Leiden überzeugen, überredet er ihn nicht zu einer Sichtweise, welche die Welt krank und schlecht erscheinen lässt und zieht damit den Starken zu sich herab? Genießt er nicht die Möglichkeit, zumindest noch die Macht zu haben, mit seinem Leiden andere anzustecken (MA I, 50, KSA 2, 70–71)? Mitleid ist für Nietzsche ein verdächtiges Phänomen, das als Verkleidung für ganz andere und vielgeleugnete Triebkräfte geeignet ist. Der Genuss im Mitleiden kann sich als verschleierte Grausamkeit entpuppen oder als verhehlter Neid, der sich befriedigt im Leiden von anderen. Schopenhauer reduziere, so Nietzsche, letztlich diese Welt auf eine leidende Welt, in der weder Platz für Freude noch für Mitfreude sei. Zur Mitleidskritik Nietzsches siehe auch Birnbacher, Dieter / Sommer, Andreas Urs (Hg.): Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche, Würzburg 2013. Darunter insbesonders: Stegmaier, Werner: Spielräume der Moralkritik. Die Beispiele Schopenhauers und Nietzsche, in: Birnbacher, Dieter / Sommer, Andreas Urs (Hg.): Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche, Würzburg 2013, S. 9–24, Goedert, Georges: Entwertung und Umwertung. Nietzsches Kritik der Moral und die Ethik Schopenhauers, in: Birnbacher, Dieter / Sommer, Andreas Urs (Hg.): Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche, Würzburg 2013, S. 45–60 und Mchedlidze, Gocha: Nietzsches Mitleidskritik als Aufwertung des Leidens, in: Birnbacher, Dieter / Sommer, Andreas Urs (Hg.): Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche, Würzburg 2013, S. 231–242.

  62. 62.

    Hierzu zählen unter anderem: Mitleid erregen wollen (MA I, 50, KSA 2, 70–71) Zweifel am reinen Phänomen des Mitleidens (MA I, 99, KSA 2, 95–96 / MA II, WS, 11, KSA 2, 546–547), Genuss und Machtgefühl im Mitleiden (MA I, 103, KSA 2, 99–100 / FW, 14, KSA 3, 386–388 / FW 118, KSA 3, 476 / GD, Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6, 160), Gegensatz zwischen Mitfreude und Mitleid (MA I, 321, KSA 2, 244 / M, 80, KSA 3, 78), Mitleiden als Heuchelei (MA II, 59, KSA 2, 404 / MA II, WS, 314, KSA 2, 692 / M, 383, KSA 3, 248 / FW 377, KSA 3, 628–631), Mitleiden als Anmaßung und Zudringlichkeit (MA II, 68, KSA 2, 406 / FW 338, KSA 3, 565–568 / JGB 270, KSA 5, 225–226 / EH, Warum ich so weise bin 4, KSA 6, 269–271), Mitleid als befriedigter Neid (MA II, 377, KSA 2, 526), Mitleid als Mangel an Selbstkontrolle (MA II, WS, 41, KSA 2, 571–572 / MA II, 45, KSA 2, 573–574), Mitleiden als Vermehrung (Verdoppelung) von Leid (M, 134, KSA 3, 127–128 / M, 137, KSA 3, 130 / AC 7), Mitleid als Charakterzug der Schwachen und Ohnmächtigen (FW 13, KSA 3, 384–386), eine Philosophie des Mitleidens als Niedergangssymptom eine Kultur (GM, Vorrede 5, KSA 5, 251–252 / GM III, 14, KSA 5, 367–372 / GM III, 25, KSA 5, 402–405 / GD, Streifzüge 37, KSA 6, 139–140).

  63. 63.

    Immer wieder wirft Nietzsche den historischen Philosophen vor, nicht etwa interesselose Wahrheit und Erkenntnis zu suchen, sondern ein Denkgebäude zu errichten, dass ihren persönlichen Neigungen entspricht. In Bezug auf Schopenhauer schreibt Nietzsche beispielsweise: „Unterschätzen wir es namentlich nicht, dass Schopenhauer, der die Geschlechtlichkeit in der That als persönlichen Feind behandelt hat (einbegriffen deren Werkzeug, das Weib, dieses ‚instrumentum diaboli‘), Feinde nöthig hatte, um guter Dinge zu bleiben; dass er die grimmigen galligen schwarzgrünen Worte liebte; dass er zürnte, um zu zürnen, aus Passion […] Schopenhauer wäre sonst nicht dageblieben, darauf darf man wetten, er wäre davongelaufen: seine Feinde aber hielten ihn fest, seine Feinde verführten ihn immer wieder zum Dasein“ (GM III, 7, KSA 5, 349).

  64. 64.

    In IV. Teil ändert sich im Vergleich zu den vorherigen, wie Grätz feststellt, die Erzählhaltung: „Insbesondere in den drei Schlusskapiteln tritt der Erzähler in einer veränderten Rolle markant hervor. Nicht länger hält er sich unauffällig im Hintergrund, sondern im Gegenteil macht er sein eigenes Erzählen jetzt selbstreflexiv zum Thema“ (NK 4, KSA 4, 2. Konzeption, Handlung und Struktur).

  65. 65.

    Dieses und nicht das „Glücke“ sei das, was zählt. Dieser interessante Gegensatz zwischen „Glück“ und „Werk“ soll in der abschließenden Diskussion zum IV. Teil des Zarathustra diskutiert werden. Denn er ist umso interessanter als er im Paradeaphorismus des Gefährlichen, d. h. in FW 283, nicht als Gegensatz, sondern als Einheit zusammengefasst wurde: „Denn, glaubt es mir! – das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben!“ (FW 283, KSA 3, 526).

  66. 66.

    Siehe dazu auch das Abschnitt 5.12.

  67. 67.

    Ein Bekenntnis zu Nietzsches eigenem Verhältnis zum Wiederkunftsgedanken macht Josef Simon im Nachlass aus: „Ich will das Leben nicht wieder. Wie habe ich’s ertragen? Schaffend. Was macht mich den Anblick aushalten? der Blick auf den Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen – Ach!“ (NL 1882/1883, KSA 10, 4 [81], 137 / vgl. Simon, Josef: Ein Text wie Nietzsches Zarathustra, in: Gerhardt, Volker (Hg.): Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, Berlin 2012, S. 180–181).

  68. 68.

    „Wir sind unterwegs, dass wir den höheren Menschen fänden – / – den Menschen, der höher ist als wir: ob wir gleich Könige sind. Ihm führen wir diesen Esel zu. Der höchste Mensch nämlich soll auf Erden auch der höchste Herr sein. Es giebt kein härteres Unglück in allem Menschen-Schicksale, als wenn die Mächtigen der Erde nicht auch die ersten Menschen sind“ (Za IV, Gespräch mit den Königen, KSA 4, 306). Entgegen der These, dass es sich bei dieser Stelle um eine eindeutige Anspielung auf Platons Politeia handele, „wo Sokrates für die Notwendigkeit einer Philosophenherrschaft argumentiert“ (NK 4, KSA 4, 306, 21–23), schreibt Grätz, dass es „völlig offen [bleibe], was in den Augen der Könige die ‚ersten Menschen‘ zu ersten macht und ob dabei an sittliche oder an geistige Qualitäten zu denken ist“ (ebd.).

  69. 69.

    Kiesel konstatiert in Zarathustras Gespräch mit dem Gewissenhaften des Geistes besondere Wertschätzung und das Fehlen von Ironie, sodass er vor allen anderen höheren Menschen als ausgezeichnete Gestalt erscheint. Das erscheint kaum überzeugend, angesichts des umfassend ironischen Tones dieses Kapitels, das sich an dieser Stelle als Widerspruch offenbart. Das Untersuchungsgebiet des Gewissenhaften des Geistes – das Hirn des Blutegels –, existiert nicht. Im Kapitel Von der Wissenschaft lacht Zarathustra den Gewissenhaften des Geistes aus: „[er] warf dem Gewissenhaften eine Hand voll Rosen zu und lachte ob seiner ‚Wahrheiten‘“ (Za IV, Von der Wissenschaft, KSA 4, 377).

  70. 70.

    In diesem Sinn dienen die höheren Menschen auch als Abgrenzungen von der Lehre Zarathustras, als Beispiele dafür, was Zarathustras Lehre nicht sein sollte, wie man sie unfreiwillig (die zwei Könige, der Gewissenhafte des Geistes) und freiwillig verkürzen (vor allem der Zauberer, aber auch der letzte Papst) und verfälschen könnte. Siehe dazu die Abschnitt: 5.6.3 und 5.7.

  71. 71.

    Dabei kann die Landschaft in die Zarathustra bei der Begegnung mit dem Gewissenhaften des Geistes gerät, als weitere Ironisierung dieser Gestalt verstanden werden. Denn bezeichnenderweise gilt das Moor als grundlos: Es ist die Ebene, die keinen festen Halt verspricht, sondern mehr noch droht, denjenigen, der sich zu tief hineinbegeben hat, zu verschlingen. Das Moor ist somit unmittelbar mit Gefährlichkeit verknüpft. Grätz schreibt: „Die Rede vom sumpfigen Gelände ist doppelbödig: Zum einen bezeichnet sie ein Feuchtgebiet und somit den Lebensbereich der Blutegel, zum andern verweist sie auf den Bereich des Bodenlosen und Unsicheren schlechthin. Die symbolische Bedeutung taucht das Selbstverständnis des ‚Gewissenhaften‘, der von sich beansprucht, er gehe den Dingen „auf den Grund“ (311, 14), ins Zwielicht, denn sumpfiges Gelände ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass es keinen sicheren Grund bietet. Der Erkennende, der sich freiwillig in den Sumpf begibt, ist somit nicht allein Sinnbild einer selbstquälerischen, sondern überdies noch einer unsicheren Wissenschaft“ (z. B. NK 4, KSA 4, Der Blutegel).

  72. 72.

    Dies ist auch insofern interessant, als das Blutopfer einen sakralen Hintergrund hat. Der Gewissenhafte bietet sich, sein Leben als Opfer der Wissenschaft an. So erscheint die Wissenschaft als Nachfolger der Religion bzw. als Religionsersatz. Dies entspricht der Kritik aus GM III, dass der Wissenschaftler die neueste Ausformung des asketischen Ideals sei (vgl. GM III, 23–25, KSA 5, 395–405).

  73. 73.

    Dies fällt nicht zuletzt deswegen so schwer, als man von einem Gehirn des Blutegels kaum sprechen kann. Das rudimentäre ZNS des Blutegels ist über die Segmente des Wurmes von vorne bis hinten verteilt.

  74. 74.

    Siehe dazu Abschnitt 5.6.3.

  75. 75.

    Zur masochistischen Lust an der Erkenntnissuche, vgl. JGB 229, KSA 5, 165–167.

  76. 76.

    Der Gewissenhafte des Geistes der die Gefährlichkeit ablehnt, nimmt diese, wenn es um eine empirische Erkenntnis geht, bedenkenlos in Kauf.

  77. 77.

    In den Dionysos-Dithyramben wird dieses Gedicht mit kleinen Änderungen wiederholt unter dem Titel: „Klage der Ariadne.“ Der Erzähler ist nun nicht mehr der männliche Zauberer, sondern die weibliche Ariadne und spielt auf die griechische Sage von Theseus und Ariadne an: Nach einer der Fassungen der Sage „verließ [Theseus] Ariadne einfach, und Dionysos machte sie auf Naxos zu seiner Braut. Nach der nicht ganz sicher zu entschlüsselnden Version Homers, der erstmals Ariadne mit Dionysos in Zusammenhang bringt (Odyssee XI, 321–325), tötete die jungfräuliche Artemis Ariadne aufgrund einer Aussage des Dionysos, die man später dahingehend ausdeutete, dass sie trotz der Liebe des Gottes immer noch an Theseus hing“ (NK 6/2, 684). In der Fassung der DD erhält die Sprecherin allerdings eine Antwort: „Ein Blitz. Dionysos wird in smaragdener Schönheit sichtbar. / Dionysos: / Sei klug, Ariadne!… / Du hast kleine Ohren, du hast meine Ohren: / steck ein kluges Wort hinein! – / Muss man sich nicht erst hassen, / wenn man sich lieben soll?… / Ich bin dein Labyrinth…“ (DD, Klage der Ariadne, KSA 6, 401).

  78. 78.

    In den DD, in denen der göttliche Gedanke mit Dionysos identifiziert werden kann, offenbart sich „Dionysos, der Jäger [unter anderem als] Allegorie einer Denk-Obsession“ (NK 6/2, 686).

  79. 79.

    Damit erinnert der göttliche Gedanke an den alttestamentarischen Gott, welcher Moses die 10 Gebote übermittelt, wovon das erste lautet: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ (2. Mose Ex 20, 3).

  80. 80.

    Dieser „Gedanke“, der auch als Gott personalisiert wird und der dem Anderen keinen geheimen Innenraum lassen möchte, bietet einen Vorausblick auf den hässlichsten Menschen. Denn dieser als der Mörder Gottes konnte es nicht ertragen, dass es jemanden gibt, der alles von ihm sieht, so dass er ihn tötete. Wenn sich der Zauberer aber bereits auf die Vorstellung eines anderen höheren Menschen bezieht, könnte das als weiteres Indiz gewertet werden, dass die höheren Menschen nichts weiter sind als verschiedene Charakterzüge von Zarathustra selbst.

  81. 81.

    Der Leser erfährt nur die gesprochene Anklage des lyrischen Ichs, da die Erwiderungen des göttlichen Gedankens nur im introspektiven Bewusstsein des lyrischen Ichs von ihm vernommen werden. In dieser Gesprächssituation lässt sich allein dadurch auf die Haltung des göttlichen Gedankens schließen, dass das Ich dessen Antworten stets wiederholt. Schon durch diese Form wird nahegelegt, dass es den göttlichen Gedanken gar nicht gibt, er ist fiktive Projektionsfläche des lyrischen Ichs.

  82. 82.

    Der Betrag des Lösegelds für das das lyrische Ich freigegeben werden soll, ist das lyrische Ich selbst.

  83. 83.

    Die Verschmelzung von Schmerz und Lust als paradoxe Einheit und grundsätzliches Motiv der Tragödie hat Nietzsche schon früh herausgestellt (vgl. NK 6/2, 688).

  84. 84.

    Die Gesten des Zauberers, die ihn als Verzweifelten herausstellen, korrespondieren mit der Verzweiflung des lyrischen Ichs. Insofern der Zauberer diese allerdings nur spielt, tut er nur so, als wäre er mit dem lyrischen Ich identisch. Grätz schreibt: „das Inauthentische der Szene [wird] durch das vergleichende ‚wie‘ an[gedeutet] – ‚wie ein Tobsüchtiger‘ (313, 5), ‚wie ein von aller Welt Verlassener und Vereinsamter‘ (313, 15 f.)“ (NK 4, KSA 4, Der Zauberer 1.).

  85. 85.

    Die Einheit von Lust und Schmerz als das Tragische habe, so Grätz, Nietzsche bereits früh formuliert „und sich dabei an Paul Graf Yorck von Wartenburgs Schrift Die Katharsis des Aristoteles und der Oedipus Coloneus des Sophokles (Berlin 1866) orientiert. Dort heißt es: ‚In der Ekstase aber sind die Affekte, welche sie hervorgerufen haben, aufgehoben. Die Schmerzen erwecken Lust, der Schrecken Freude, die Lust hat etwas krampfhaft Schmerzliches. Die Ekstase ist die höhere Einheit des Schmerzes und der Lust‘ (Yorck von Wartenburg 1866, 22)“ (NK 4, KSA 4, 317, 3–5).

  86. 86.

    Wenn der Gedanke Gott ist bzw. die Existenz Gottes, wird damit zugleich auch der einzige Bereich markiert, in dem Gott existiert, und zwar in Gedanken.

  87. 87.

    Grätz geht auf die verschiedenen Identifikationsmöglichkeiten des Gottes ein: Als grausamen Gott habe Nietzsche Dionysos Zagreus bereits in der GT herausgestellt (vgl. z. B. NK 4, KSA 4, 314, 11). Das wird auch im Kommentar zu den DD betont: „In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigen Herrschers“ (NK 4, KSA 6/2, 398, 18). Der unbekannte Gott, so Grätz, sei allerdings eine Anspielung auf die Apostelgeschichte, in der Paulus „bei seinem Missions-Besuch in Athen dem athenischen Volk das Christentum als die wahre Religion näherbringen will: ‚Ich bin herdurch gegangen, und habe gesehen eure Gottesdienste, und fand einen Altar, darauf war geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige Ich euch denselbigen, dem ihr unwissend Gottesdienst thut‘ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 164)“ (vgl. z. B. NK 4, KSA 4, 314, 12). Auch der Henker-Gott kann mit dem christlichen Gott assoziiert werden. In der GD, Die vier grossen Irrthümer, 6, KSA 6, 96 wird „das Christentum als ‚eine Metaphysik des Henkers‘“ charakterisiert (vgl. z. B. NK 4, KSA 4, 315, 14).

  88. 88.

    Dafür, dass Dionysos tatsächlich gemeint ist, sind die Hinweise im Za allerdings zu schwach. In den Dionysos-Dithryamben ist es freilich Dionysos, der in einem grünen Blitz auftaucht, so wie es Ariadne sein wird, die das Gedicht vorträgt, wie es der Titel (Klage der Ariadne) vorgibt. Dadurch, dass nun Ariadne als Frau das Lied an einen männlichen Gott adressiert, werden auch die sexuellen Konnotationen deutlicher. Ob die Anspielung auf Dionysos bereits in der ersten Fassung von Nietzsche mitgemeint war, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Sommer und Schmidt schreiben im NK 6/2, 686: „In der Za-Fassung wird der Anschein erweckt, als ob der Zauberer in Gestalt des grausamen ‚unbekannten Gottes‘, des ‚Henkergottes‘ den christlichen Gott von sich stieße und zugleich zurück wünschte, und er deswegen von Zarathustra gescholten würde“.

  89. 89.

    Die hässliche Wahrheit erinnert an den hässlichsten Menschen, der etwas später seinen Auftritt hat (vgl. Abschnitt 5.8).

  90. 90.

    Später in Za III, Das andere Tanzlied, KSA 4, 284–285 sitzt neben Zarathustra das Leben und führt ein zärtliches Zwiegespräch mit ihm: „Du weisst Das, oh Zarathustra? Das weiss Niemand. – –“ Dies könnte man als mögliche Brechung des Wiederkunftsgedankens lesen, der eingedenk von Zaratustras Einwänden auch nur Traum und Fantasie eines Dichters sein könnte.

  91. 91.

    Nietzsche kommt mit dieser Selbstkritik Zarathustras, dass sich sein Ideal des Übermenschen als Religionsersatz verstehen lasse, der Kritik anderer zuvor und kann damit doch nicht verhindern, dass zahlreiche Nietzsche Forscher einer metaphysisch mindestens belasteten Nietzscheinterpretation verfallen. Beispielhaft bereits: Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker, S. 119: „In dem Gedankenkreise Nietzsches nimmt die Lehre vom ‚Übermenschen‘ die Stelle der Religionsphilosophie ein. – Nietzsche war eine religiös gestimmte Natur; er besass Sinn für Ehrfurcht und sein Atheismus selbst hat religiöse Farbe und Leidenschaft.“

  92. 92.

    Und vielleicht soll für den Wissenschaftler gelten: Wer oberflächlich fühlt, hat auch nur oberflächliche Gedanken.

  93. 93.

    Erstaunlicherweise kommt an dieser Stelle dem Dichter das gleiche Habitat zu wie dem Gewissenhaften des Geistes; beide gehen auf einem Boden, in dem sie zu versinken drohen. Sowohl das Gebiet der Wissenschaft als auch die dichterische Schaubühne werden im Za in Zusammenhang mit Schutz- und Haltlosigkeit gebracht.

  94. 94.

    Die Konfrontation mit den Tieren der Wildnis bzw. mit den innerseelischen Monstern bleibt interpretatorisch vieldeutig. Was für ein Ereignis begibt sich in der Begegnung? Sie könnte zu einer Einsicht in die eigene Trieb- und Instinktnatur führen, die den Menschen in seiner Eitelkeit kränkt und erkennen lässt, dass er längst nicht so weit vom Tierreich entfernt ist, wie er sich wünscht. Aber auch Gottesvorstellungen könnten sich als Monster erweisen, von denen sich der Erhabene befreit und damit von moralischen Fesseln und Schuldgefühlen.

  95. 95.

    Dies ließe sich als versteckten Seitenhieb auf Kants Begriff des Erhabenen deuten. Vgl. dazu Kant: „So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muß das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist, indem das Gemüt die Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen angereizt wird“ (Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Klemme, Heiner F. (Hg.), Hamburg 2009, Seitenangaben zitiert nach den Gesammelten Schriften der Akademie Ausgabe, Berlin 1908, Bd. V, § 23, S. 246). Der Dichter mit seinen erhabenen Gefühlen ist allerdings bei Nietzsche durchaus nicht der Erhabene. Der Erhabene ist derjenige, der in die Wildnis geht und in ihr überlebt.

  96. 96.

    So kann die bittere Selbsterkenntnis als Vorstufe zur Veränderung gelten.

  97. 97.

    Zarathustras Reden sind durchaus nicht auf Widerspruchsfreiheit angelegt. Vgl. z. B.: „Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist“ (Za I, Vom Lesen und Schreiben, KSA 4, 48); mit „Blutzeichen schrieben sie auf den Weg, den sie giengen, und ihre Thorheit lehrte, dass man mit Blut die Wahrheit beweise. / Aber Blut ist der schlechteste Zeuge der Wahrheit; Blut vergiftet die reinste Lehre noch zu Wahn und Hass der Herzen“ (Za II, Von den Priestern KSA 4, 119).

  98. 98.

    In diesem Sinn schreibt Salaquarda: „Wer ist dieser Zarathustra […]? Er ist Dichter, Prophet, Religionsstifter, Moralist und anderes mehr – und wiederum ist er nicht das, was man üblicherweise unter einem Dichter, Propheten, Religionsstifter und Moralisten versteht […]. Er ist zweifellos ein Verführer, aber einer, der eine jede und einen jeden zu ihr bzw. ihm selber verführen möchte“ (Salaquarda, Jörg: Die Grundconception des Zarathustra, S. 52).

  99. 99.

    Siehe das Abschnitt 5.12.

  100. 100.

    Siehe das Abschnitt 5.11.

  101. 101.

    Eine ausführlichere Interpreation findet sich auch in: Natalie Schulte: Nur Narr, nur Dichter? Das Lied der Schwermuth in Nietzsches Zarathustra, in: Grätz, Katharina / Kaufmann, Sebastian (Hg.): Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetologie – Rezeption, Berlin / Boston 2017.

  102. 102.

    In der folgenden Interpretation werden insbesondere Inhalt und Deutung des Gedichtes sowie die immanente Symbolik fokussiert.

  103. 103.

    In Ez. 9, 3–11 ist es der Prophet Ezechiel, welcher den Gläubigen ein Taukreuz auf die Stirn malen sollte, um die Gläubigen zu kennzeichnen, während die restlichen Bewohner der Stadt, die vom wahren Glauben abgefallen waren, vernichtet werden sollten. So ist dort vom Buchstaben Taw (Л) die Rede (vgl. Ez. 9, 3–11).

  104. 104.

    Bereits bei Platon ist die Sonne Symbol für die Idee des Guten, die sowohl Erkenntnis als auch Existenz ermöglicht: „Die Sonne, denke ich, wirst du sagen, verleihe dem Sichtbaren nicht nur das Vermögen gesehen zu werden, sondern auch das Werden und Wachstum und Nahrung, unerachtet sie selbst nicht das Werden ist. […] Ebenso nun sage auch, daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesen habe es von ihm, da doch das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt“ (Platon: Politeia 509b). In der von Nietzsche nicht veröffentlichten Schrift, die „dionysische Weltanschauung“ wird der Sonnengott Apoll mit der Einheit von Kunst, Schein und Wahrheit identifiziert: „Er ist der ‚Scheinende‘ durch und durch: in tiefster Wurzel Sonnen- und Lichtgott, der sich im Glanze offenbart. Die ‚Schönheit‘ ist sein Element: ewige Jugend ihm zugesellt. Aber auch der schöne Schein der Traumwelt ist sein Reich: die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit erheben ihn zum wahrsagenden Gotte, aber eben so gewiss zum künstlerischen Gotte. Der Gott des schönen Scheines muß zugleich der Gott der wahren Erkenntniß sein“ (Die dionysische Weltanschauung, KSA 1, 554).

  105. 105.

    Dieses Verhältnis erinnert an die schopenhauerische Willenstheorie, der zufolge der einzelne zwar tun kann, was er will, aber nicht frei (von Motiven) wollen kann, was er will: „‚Du kannst thun, was du willst: aber du kannst, in jedem Augenblick deines Lebens, nur ein Bestimmtes wollen und schlechterdings nichts Anderes, als dieses Eine“ (vgl. Schopenhauer, Arthur: Über die Freiheit des menschlichen Willens, in: Schopenhauer, Arthur: Über die Freiheit des menschlichen Willens / Über die Grundlage der Moral. Kleinere Schriften II, Zürich 1977, S. 62–63).

  106. 106.

    Groddeck geht auf die lexikalische Polysemie des Narrenbegriffs ein: „Die ‚nachweislich älteste Bedeutung‘ ist: ‚eine verrückte, irrsinnige und überhaupt geisteskranke, an einer fixen idee leidende person‘. Moralisch gewendet konnte ‚Narr‘ aber auch der ‚gottlose‘ bedeuten; jedoch auch ‚spötter‘, ‚lustige person, spaszmacher‘ und ‚schalk‘ (der oft ‚sehr witzig und klug‘ ist), oder dann wieder ‚Narr‘ als ‚gegensatz zu einer weisen, witzigen, vernünftigen person‘. Schließlich ist für das Verständnis von ‚Narr‘ in diesem Gedicht, wo expressis verbis von der ‚Wahrheit‘ die Rede ist, ein bekanntes Stichwort erinnernswert: ‚Kinder und Narren sagen die Wahrheit‘“ (Groddeck, Wolfram, Friedrich Nietzsche ‚Dionysos-Dithyramben, Bd. 2: Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk, Berlin / New York 1991, S. 3).

  107. 107.

    Man denke beispielsweise an den Narren in Shakespeares Komödie „Wie es euch gefällt“ oder an die bissig-böse Gestalt des Till Eulenspiegel.

  108. 108.

    Der Narr ist im Zarathustra zum Teil negativ konnotiert (vgl. der Possenreisser in Za I, der Narr in Za III, Vom Vorübergehen und die Tiere als Schalks-Narren, die den Wiederkunftsgedanken nur flach verstehen). Dennoch ist der Narr auch positive Identifikationsfigur für Zarathustra. Bei der Begegnung mit dem Narren im Kapitel Vom Vorübergehen verscheucht Zarathustra den Narren, weil dieser ihm noch sein „Lob der Narrheit“ (Za III, Vom Vorübergehen, KSA 4, 224) verderbe. Auch im Widerspruch Zarathustras gegen den letzten Papst ist die Wertschätzung des Narren ersichtlich: „Fort mit einem solchen Gotte! Lieber keinen Gott, lieber auf eigne Faust Schicksal machen, lieber Narr sein, lieber selber Gott sein!“ (Za IV, Ausser Dienst, KSA 4, 325). In anderen Werken Nietzsches ist der Narr häufig ambivalent (vgl. z. B. der tolle Mensch in FW 125, KSA 3, 480–482) bis positiv konnotiert (vgl. z. B. FW 107, KSA 3, 464–465).

  109. 109.

    Zum Symbolgehalt des Regenbogens heißt es in NK 6/2, 664: „Der Regenbogen ist in der Bibel das Zeichen des Bundes, den Gott mit den Menschen geschlossen hat und insofern ein Zeichen des Heils, siehe Genesis 9, 13–15: „‚Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken, der soll das Zeichen seyn des Bundes zwischen mir und der Erde.‘“ Grätz betont, dass Zarathustra, die Symbole „Brücke“ und „Regenbogen“ in Verbindung zum Übermenschen setzt (vgl. NK 4, KSA 4, 371, 28‒372, 8), dieser in der Kritik des Zauberers also miteingeschlossen ist.

  110. 110.

    Das Wort ‚bunt‘, das assoziativ auf eine Vieldeutigkeit oder Vielseitigkeit hinweist, ist im Za häufig negativ konnotiert (vgl. Za II Vom Lande der Bildung, KSA 4, 153, 11–27).

  111. 111.

    Die Wanderschaft, die aus der ursprünglichen Gemeinschaft und Zivilisation wegführt hin zu einem reißerischen Raubtierdasein, in dem das feindliche und gefährliche Verhältnis genossen wird, kann an die Vorrede von MA I erinnern: „Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt“ (MA I, Vorrede, KSA 2, 17).

  112. 112.

    Siehe dazu Abschnitt 5.6.3.

  113. 113.

    Der Dichter erweist sich als Zerstörer. Seine wahre Natur, seine Raubtierexistenz ist nur durch seine Verkleidung, die Larve, verborgen. Ist es im Lied des Zauberers eine Raubkatze und ein Adler, so in der implizit angespielten Bibelstelle ein Wolf, vor dem gewarnt wird: „Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie (harmlose) Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe“ (Mt. 7, 15).

  114. 114.

    Das Lachen ist, wie Grätz herausstellt, ein Leitmotiv im Za. Immer wieder fordert Zarathustra seine Gäste auf, Lachen zu lernen (vgl. NK 4, KSA 4, 386, 19 f.). Das Lachen erweist sich bereits in Za III als Möglichkeit zerstörerische Wahrheiten zu bejahen (vgl. z. B. Za III, Vom Gesicht und Räthsel, KSA 4, 197–202).

  115. 115.

    Vgl. FW 344, KSA 3, 577: „Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, […] dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist…“.

  116. 116.

    Siehe dazu auch ein Notat von 1884 „Es giebt auch eine gewisse excentrisch werdende Bescheidenheit, welche das Gefühl der Leere selber wieder wollüstig empfinden lässt: ja einen Genuß an der ewigen Leere aller Dinge, eine Mystik des Glaubens an das Nichts und ein Sich-Opfern für diesen Glauben. Und welche Augen haben wir uns als Erkennende gemacht für alle die kleinen Genüsse der Erkenntniß!“ (NL 1884, KSA 11, 25 [13], 14 f.).

  117. 117.

    „Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen, – wusstet ihr das schon? / Und des Geistes Glück ist diess: gesalbt zu sein und durch Thränen geweiht zum Opferthier, – wusstet ihr das schon? / Und die Blindheit des Blinden und sein Suchen und Tappen soll noch von der Macht der Sonne zeugen, in die er schaute, – wusstet ihr das schon?“ (Za II, Von den berühmten Weisen, KSA 4, 134).

  118. 118.

    Der Wert von absoluten Wahrheiten ist Nietzsche zufolge nur in Gott verbürgt und ergibt sich keineswegs aus bloßer Erfahrung, die vielmehr lehre, dass einige Wahrheiten lebensdienlich und andere lebensfeindlich seien (vgl. FW 344, KSA 3, 577 oder auch FW 76, KSA 3, 431 f.).

  119. 119.

    Siehe zu 1, 2 und 3 das Abschnitt: 5.6.1.

  120. 120.

    Siehe das Abschnitt 5.6.2.

  121. 121.

    Es muss hierbei selbstverständlich unterschieden werden zwischen der textimmanenten Ebene, auf welcher der Zarathustra als eine überlieferte Geschichte, als Sage oder von Jüngern verfasste Gleichnissammlung erscheint und der realen Ebene, auf der Nietzsche Autor des Buches ist.

  122. 122.

    Wie in der Deutung des Zauberers (Lied der Schwermuth) wird den Dichtern schon bei Platon stellenweise jeder ernstzunehmende Zugang zur Wahrheit abgesprochen – wenn auch andere Passagen den pädagogischen Nutzen angemessen „korrigierter“ Mythen betonen (vgl. etwa den Mythos vom Totengericht in Gorgias 523c ff.). Das Motiv, das man selbst sein schärfster Kritiker sei, ist eines, an dem Nietzsche durchaus Gefallen findet. So ist das alte Weib dasjenige, das Zarathustra die Peitsche empfiehlt, wenn er zu Frauen gehe und der Dichter in Selbstkenntnis über sich selbst, erweist sich als der schärfste Verurteiler des Dichtertums.

  123. 123.

    Siehe die Abschnitt: 5.6.2 und 5.6.3.

  124. 124.

    In Za III, Das andere Tanzlied 3, KSA 4, 285–886 wird die Bejahung der Wiederkunft als Konklusion von der Mitternacht ausgesprochen: „Zwei! / Was spricht die tiefe Mitternacht? […] Zehn! ‚Doch alle Lust will Ewigkeit –, / Elf! / ‚– will tiefe, tiefe Ewigkeit! / Zwölf!“ In Za IV lernen die höheren Menschen durch dasselbe – hier als Nachtwandlerlied bezeichnete Gedicht – beim mitternächtlichen Spaziergang den Gedanken der Wiederkunft für einen Moment zu lieben (vgl. Za IV, Das Nachtwandler-Lied, KSA 4, 395–404).

  125. 125.

    Siehe Abschnitt 5.6.1.

  126. 126.

    Damit erinnert bereits der Anfang an den prominentesten Aphorismus des Gottestodes, d. h. an FW 125. Dort wird die Kunde des tollen Menschen, dass Gott gestorben sei, von den scheinbar aufgeklärten Menschen als eine Botschaft wahrgenommen, über deren Naivität sich nur lachen lässt: „Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander“ (FW 125, KSA 3, 480).

  127. 127.

    „Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und die erlösenden Blutstropfen: aber auch noch diese süssen und düstern Gifte nahmen sie von Leib und Erde!“ (Za I, Von den Hinterweltlern, KSA 4, 37).

  128. 128.

    „Viele wegzulocken von der Heerde – dazu kam ich. Zürnen soll mir Volk und Heerde: Räuber will Zarathustra den Hirten heissen. / Hirten sage ich, aber sie nennen sich die Guten und Gerechten. Hirten sage ich: aber sie nennen sich die Gläubigen des rechten Glaubens“ (Za I, Vorrede 9, KSA 4, 26).

  129. 129.

    Dass Gottesdienste nunmehr nur noch Erinnerungsfeste darstellen, erinnert den Leser ebenfalls an den Aphorismus FW 125, in dem, so die Erzählung vom tollen Menschen, dieser zuletzt in Kirchen gestürmt sei, um „sein Requiem aeternam deo“ (FW 125, KSA 4, 482) anzustimmen: „‚Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?‘“ (Ebd.).

  130. 130.

    Auch hier wird wie häufiger im Za die Menschlichkeit von Jesus betont. Mit dem Menschen Jesus, der aus Liebe zum Menschen auf den Gedanken verfiel, die Sündhaftigkeit der Menschheit durch seinen Tod auf sich zu nehmen, habe Gott besonders Mitleid gehabt – ein Mitleid, das Gott, so die implizite Folgerung, selbst zerstört habe. Obwohl die Menschlichkeit von Jesus hervorgehoben wird, sticht sein Beispiel an Liebe doch unter allen anderen hervor. Jesu Los verführt Gott zu seinem selbstzerstörerischen Mitleiden.

  131. 131.

    Schon Epikur hatte gezeigt, in welche Denkwidersprüche sich derjenige verstrickt, der einen allgütigen, allwissenden und allmächtigen Gott postuliert aber gleichzeitig anerkennt, dass es Übel in der Welt gibt: Es gibt Übel in der Welt und zugleich ist „Gott allgütig und allmächtig“ – dann kann er nicht allwissend sein, die Übel geschehen, weil Gott selbst nicht die Konsequenzen aller seiner Handlungen im Vorhinein wusste. „Gott ist allgütig und allwissend“, dann kann er nicht allmächtig sein, d. h. er wollte zwar alles optimal einrichten, aber es ist ihm leider nicht gelungen. Die Aussage „Gott ist allmächtig und allwissend“ bedeutet, dass Gott böse ist, er hätte die Welt ohne Böses schaffen können, er wusste auch wie, aber die Welt ist voller Übel, also wollte er die Übel in der Welt (vgl. S. Lorenz, Art. „Theodizee“, in: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, Basel 1995, S. 1066–1068). In dem letzten Sinn argumentiert Zarathustra, wenn er impliziert, dass Gott die unfähigen Menschen gewollt habe und daher für ihre Unfähigkeit verantwortlich sei.

  132. 132.

    Dagmar Kiesel verweist auf das Bibelzitat Röm 9, 20 (und auch 9, 21 lässt sich hinzuziehen): „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht etwa ein Werk zu seinem Meister: Warum hast du mich so gemacht? 21 Hat nicht der Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen?“ (vgl. Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, S. 27).

  133. 133.

    So ist es in FW 125 auch ausgerechnet der tolle Mensch, der Verrückte, der wie ein Narr die selbstverständliche Wahrheit formuliert, dass Gott tot ist. Dennoch handelt es sich bei dieser Wahrheit auch um eine, die nicht ausgesprochen werden darf, weil sie indiskret ist und nicht zum guten Ton gehört. Der Narr ist die Gestalt, die, indem sie das offensichtliche sagt und fragt, Konventionen und Herrschaftsansprüche in Frage stellt. Als Hofnarr ist der Narr oder die verrückte Gestalt allerdings ihrer Gefährlichkeit beraubt, sie gehört zur höheren Gesellschaft, die sich unterhalten lassen will. Genau wie Zarathustra stellt auch der tolle Mensch die Frage nach der möglichen Vergöttlichung des Menschen (vgl. FW 125, KSA 3, 481).

  134. 134.

    Dass der Glaube an den Wert der Wahrheit selbst religiöser Art sei und der Wille zur Wahrheit letzter Rest des asketischen Ideals führt Nietzsche in GM III aus: „Was aber zu ihm zwingt, jener unbedingte Wille zur Wahrheit, das ist der Glaube an das asketische Ideal selbst, wenn auch als sein unbewusster Imperativ, man täusche sich hierüber nicht, – das ist der Glaube an einen metaphysischen Werth, einen Werth an sich der Wahrheit, wie er allein in jenem Ideal verbürgt und verbrieft ist (er steht und fällt mit jenem Ideal)“ (GM III, 24, KSA 5, 400).

  135. 135.

    Wie Sommer in seinem Kommentar zu JGB herausstellt, entnimmt Nietzsche wesentliche Inspiration für den philosophischen Gehalt dieses Begriffs aus Kuno Fischers Descartes-Darstellung. Anders als Descartes und Fischer führt Nietzsche dann versuchsweise den Willen zur Wahrheit auf den Willen zur Täuschung und schließlich auf den Willen zur Macht zurück (NK 5/1, 77).

  136. 136.

    Widerspruchslosigkeit kann als Anspruch des logischen Denkens und der Vernunft verstanden werden. Dass die Welt eine Vernünftige sein sollte, offenbart ein Vertrauen in die Vernunft, das selbst in Frage steht.

  137. 137.

    Das ästhetische Urteil, so Zittel, ersetze bei Nietzsche das ethische: „Wenn nichts mehr verboten ist, ist jedoch nicht alles erlaubt, denn das Widerlegte bleibt ausgeschlossen, und nicht alles, was erlaubt ist, überzeugt auf ästhetische Weise“ (Zittel, Claus: Ästhetische Kalküle in Nietzsches Moralkritik, in: Mortzfeld, Benjamin: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019, S. 115).

  138. 138.

    Der westliche Kulturkreis ist an bestimmte Musikintervalle gewöhnt, die als harmonisch empfunden werden und das Geschmacksverständnis prägen: „Wer daran gewöhnt ist, dass ein bestimmtes Intervall mit bestimmten Interpretationen besetzt ist, wird künftig mit diesem Verständnis Musik hören und decodieren. Diese Festlegung ist eine Begrenzung der Verständnismöglichkeiten, die darüber hinaus eine Öffnung für außereuropäische Musik sehr erschwert, möglicherweise ganz verhindert“ (Kramp, Barbara: Möglichkeiten, Herausforderungen und Begründungen musikalischer Elemente im Religionsunterricht der Grundschule. Eine Herleitung aus anthropologischer, kirchenmusik-geschichtlicher, pädagogischer und religionspädagogischer Perspektive, Dissertation der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, 2019, S. 15, https://phka.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/161/file/KrampDissertationPublikation.pdf zuletzt überprüft am 04.06.2020).

  139. 139.

    Ein Gespräch voller literarischer Anspielungen wird eher von demjenigen als geist- und genussreich empfunden, der vermöge seiner eigenen literarischen Bildung die Anspielungen versteht.

  140. 140.

    Dies aber ist, wie wir gesehen haben, im Zarathustra keinesfalls immer der Fall (vgl. Abschnitt: 5.6.1).

  141. 141.

    „Der Sonne gleich will auch Zarathustra untergehn: nun sitzt er hier und wartet, alte zerbrochne Tafeln um sich und auch neue Tafeln, – halbbeschriebene“ (Za III, Von alten und neuen Tafeln 3, KSA 4, 249).

  142. 142.

    „Auflehnung – das ist die Vornehmheit am Sclaven. Eure Vornehmheit sei Gehorsam! Euer Befehlen selber sei ein Gehorchen! / Einem guten Kriegsmanne klingt ‚du sollst‘ angenehmer, als ‚ich will‘. Und Alles, was euch lieb ist, sollt ihr euch erst noch befehlen lassen“ (Za I, Vom Krieg und Kriegsvolke, KSA 4, 59). Vgl. auch Za I, Von tausend und einem Ziele, KSA 4, 75.

  143. 143.

    „Aber, wo ich nur Lebendiges fand, da hörte ich auch die Rede vom Gehorsame. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes. / Und diess ist das Zweite: Dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann. So ist es des Lebendigen Art. / Diess aber ist das Dritte, was ich hörte: dass Befehlen schwerer ist, als Gehorchen. Und nicht nur, dass der Befehlende die Last aller Gehorchenden trägt, und dass leicht ihn diese Last zerdrückt: – / Ein Versuch und Wagniss erschien mir in allem Befehlen; und stets, wenn es befiehlt, wagt das Lebendige sich selber dran. / Ja noch, wenn es sich selber befiehlt: auch da noch muss es sein Befehlen büssen. Seinem eignen Gesetze muss es Richter und Rächer und Opfer werden“ (Za II, Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4, 147). Außerdem, so lässt sich anmerken, kann man das Befehlen nicht glorifizieren, wenn man nicht auch Gehorsame haben möchte: vgl. dazu bereits Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker, S. 74.

  144. 144.

    Vgl. Za II, Von den berühmten Weisen, KSA 4, 133 / Za II, Die stillste Stunde, KSA 4, 189 / Za III, Von der verkleinernden Tugend 2, KSA 4, 214 / Za III, Von alten und neuen Tafeln 4, KSA 4, 250 / Za III, Von alten und neuen Tafeln 25, KSA 4, 265 / Za III, Von der grossen Sehnsucht, KSA 4, 279.

  145. 145.

    „Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück – ja, zurück zu Leib und Leben: das sie der Erde ihren Sinn gebe, einen Menschen-Sinn! […] Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn der Erde, meine Brüder: und aller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt! Darum sollt ihr Kämpfende sein! Darum sollt ihr Schaffende sein“ (Za I, Von der schenkenden Tugend, KSA 4, 100). Mit dieser Rede verabschiedet sich Zarathustra von seinen Jüngern, nicht zuletzt deswegen, damit diesen die Möglichkeit gegeben wird, sich selbst zu finden und nicht etwa Zarathustras „Lehre“ als eine „Heilslehre“ begreifen: „Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, dass euch nicht eine Bildsäule erschlage! Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen!“ (Ebd.).

  146. 146.

    Vgl. Za I, Von den Hinterweltlern, KSA 4, 35–38.

  147. 147.

    „‚Bei meiner Ehre, Freund, antwortete Zarathustra, das giebt es Alles nicht, wovon du sprichst: es giebt keinen Teufel und keine Hölle. Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib: fürchte nun Nichts mehr!‘“ (Za I, Vorrede 6, KSA 4, 22).

  148. 148.

    „Möchten Prediger kommen des schnellen Todes! Das wären mir die rechten Stürme und Schüttler an Lebensbäumen! Aber ich höre nur den langsamen Tod predigen und Geduld mit allem ‚Irdischen‘“ (Za I, Vom freien Tode, KSA 4, 94).

  149. 149.

    das asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerirenden Lebens […] Der asketische Priester ist der fleischgewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anderswo-sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft: aber eben die Macht seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier anbindet, eben damit wird er zum Werkzeug, das daran arbeiten muss, günstigere Bedingungen für das Hiersein und Mensch-sein zu schaffen, – eben mit dieser Macht hält er die ganze Heerde der Missrathnen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen, Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein fest, indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht“ (GM III, 13, KSA 5, 366).

  150. 150.

    „Schätzen ist Schaffen: hört es, ihr Schaffenden! Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod. / Durch das Schätzen erst giebt es Werth: und ohne das Schätzen wäre die Nuss des Daseins hohl. Hört es, ihr Schaffenden! / Wandel der Werthe, – das ist Wandel der Schaffenden. Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muss“ (Za I, Von tausend und Einem Ziele, KSA 4, 75). Im Wertschätzen ist nicht nur der „Schatz“ enthalten, sondern auch das „Abschätzen“ als ein Raten und Vorausdeuten und Ahnen, das ohne letzte Legitimation von Wahrheit und Wissen auskommen muss.

  151. 151.

    Pusse erkennt im hässlichsten Menschen eine Anspielung auf Jesus: „Der hässlichste Mensch ist ein Vexierbild von Jesus Christus, er nimmt die Schuld aller auf sich, denn er figuriert die ‚Schuld‘ Gott getötet zu haben, seinen ‚Zeugen‘ […], er ist also ein Vatermörder, doch dabei keineswegs triumphal, wie es eigentlich zu erwarten wäre, vielmehr ist seine Melancholie vor dem Hintergrund der Interiorisierung des Gestorbenen zu verstehen“ (Pusse, Tina-Karen: Von Fall zu Fall. Lektüren zum Lachen. Kleist, Hoffmann, Nietzsche, Kafka & Strauß, Freiburg 2004, S. 112).

  152. 152.

    Pusse schließt in ihrer Untersuchung über das Lachen, dass diese Sehnsucht für Zarathustra unerfüllt bleiben muss: „Dieses Lachen erkennt den Kreislauf des Umschlags von Komödie und Tragödie des Daseins selbst als Teil einer größeren Komödie […]. Die ‚Wahrheit‘ erhält ihre Berechtigung nicht mehr von einem Absoluten her, sondern daher, daß der Mensch sie braucht, um existieren zu können. Diese Einsicht, diese ‚Wahrheit‘, daß wir die Wahrheit brauchen, um leben zu können, daß aber seit jeher – zu den Zeiten der Daseinstragödien – Menschen für die Wahrheit sterben (wie Jesus oder Sokrates), ist eine zutiefst komische Inversion. […] Nur dann, wenn dieser Widerspruch als komisch angesehen werden kann, kann er überhaupt gesehen werden […]. Eine ‚Wahrheit‘, die völlig im Dienst des Lebens steht, ist natürlich keine, für die man sterben würde. Anderseits ist derjenige, der gewohnt ist, für etwas zu leben – und zu denen gehört auch Zarathustra – nicht fähig zur lachenden Annahme der Sinnlosigkeit, wie der Hirte seiner Version sie ihm vorgelebt hat“ (Pusse, Tina-Karen: Von Fall zu Fall. Lektüren zum Lachen. Kleist, Hoffmann, Nietzsche, Kafka & Strauß, S. 102 f.). Allerdings wäre es auch möglich, das Lachen als die einzige Form der Bejahung dieses Widerspruches zu deuten – sich für eine Sache zu opfern und dabei zu wissen, dass es die Sache nicht wert ist. Interessanterweise entscheidet Zarathustra sich, sich eben nicht für die höheren Menschen aufzuopfern (siehe 5.12).

  153. 153.

    Man bedenke aber auch, dass die Schlange als Begleittier Zarathustras zwar assoziativ mit dem Wiederkunftsgedanken verknüpft ist, aber auch für Weisheit seht und nicht für Vergiftung und Tod. Andererseits kann nach einer Befreiung dasjenige oder derjenige zum Freund werden, der für andere „Unbefreite“ noch eine Bedrohung ist. Wer sich selbst keine Ziele geben kann, für den ist ein Zerstörer und Hinterfrager von allgemeingültig geglaubten Zielen eine Bedrohung. Wer die Sinnlosigkeit nicht aushalten kann, der wird bedroht von Perspektiven, die Endziele und absolute Werte in Zweifel ziehen.

  154. 154.

    Dieses Unaussprechliche erfährt in Bennholdt-Thomsens Untersuchung eine genauere Deutung: „Bei der ersten Begegnung war der häßlichste Mensch Zarathustra als ‚etwas Unaussprechliches‘ […] erschienen. Er ist der Mörder Gottes, hat also eine befreiende Tat vollbracht. Aber seine Tat geschah aus Rache, und in den Geist der Rache ist er immer noch vollstrickt. […] Er kann sich verachten – darin liegt seine Größe, seine ‚Höhe‘ –, aber er kann sich nicht erlösen, d. h. sich bejahen. Er repräsentiert also den in sich selbst gefangenen Willen und somit den grundsätzlichsten Sinn des abgründlichen Gedankens […]. Da er [Zarathustra] lange Zeit nicht imstande war, diesen Gedanken auszusprechen, kommt der Anblick des häßlichsten Menschen für ihn dem Anblick von etwas Unaussprechlichem gleich“ (Bennholdt-Thomsen, Anke: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarischen Phänomen. Eine Revision, S. 187).

  155. 155.

    Der tote Weg entspricht dem Nichts, vor dem auch der tolle Mensch warnte: „Nach Ansicht des Narren führt der vom Menschen verschuldete ‚Tod Gottes‘, zu einem Sturz aus allen Lebensgewohnheiten heraus – ins Nichts. Leben nach Gottes Tod ist ein Übergang in den freien Fall und ein Sturz ins Leere“ (Gerhardt, Volker: Leben im freien Fall. Philosophieren nach dem Tod Gottes, in: Mortzfeld, Benjamin: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019, S. 91).

  156. 156.

    Diese Kritik fasst Nietzsche am schärfsten in EH zusammen: „Ich werfe den Mitleidigen vor, dass ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor Distanzen leicht abhanden kommt, dass Mitleiden im Handumdrehn nach Pöbel riecht und schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich sieht, – dass mitleidige Hände unter Umständen geradezu zerstörerisch in ein grosses Schicksal, in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf schwere Schuld hineingreifen können“ (EH, Warum ich so weise bin 4, KSA 6, 270). Zur Mitleidskritik Nietzsches siehe die Fußnoten 400 und 401.

  157. 157.

    Warum es einem lieber sein kann, verachtet als bemitleidet zu werden, können wir vielleicht erkennen, wenn wir versuchen, den Unterschied zwischen diesen beiden Haltungen zu finden. Zunächst einmal erklären sowohl Mitleiden als auch Verachtung von der Position des Subjekts ein Machtverhältnis, das die eigene Überlegenheit und Stärke postuliert. Im Gegensatz zum Mitleiden ist Verachtung allerdings ein Gefühl der Distanzierung, der Nicht-Identifikation, des Unverständnisses und der Nicht-Anerkennung des Anderen. Dabei wird allerdings dem Anderen eine gewisse Macht und Freiheit zugestanden, er könnte anderes und besseres wählen, aber bleibt doch bei seinem Ungenügen, seiner selbstgewählten Schwäche und seinen Lügen. Weil er anders könnte, aber freiwillig im Schlechteren bleibt (als was auch immer dieses Schlechtere definiert wird), verachtet man ihn. Derjenige, der verachtet, fühlt sich in seiner Position dem anderen evident überlegen und kann nicht verstehen, warum der andere nicht den gleichen Schluss zieht. Das Unverständnis, warum der andere anders wählt und die Nicht-Anerkennung sind in diesem Gefühl unleugbar, was sie sind. Anders verhält es sich allerdings beim Mitleiden: Beim Mitleiden geht der Mitleidende davon aus, dass der Andere dasselbe leidvoll empfindet wie ersterer und dass er sich eine andere Situation wünscht. Er fühlt sich gegenüber dem Bemitleideten in einer beneidenswerten Position und möchte dem Armen, dem Schwächeren, dem Dümmeren durchaus helfen und zu sich emporheben. Das Machtgefühl der eigenen Überlegenheit identifiziert sich mit dem Leiden des Anderen ungefragt. Das eigene Verständnis, das empathische Mitgefühl des Begreifens sind im Mitleiden stets enthalten. Die Ablehnung der Verachtung ist der Großmut des Mitleidens deswegen vorzuziehen, weil diese Haltung nicht vorgibt, den anderen zu verstehen und ihn zum Preis der Anerkennung degradiert zu einer Position der Schwäche.

  158. 158.

    Wie Sommer zeigt, setzt sich Nietzsche mit der Gestalt des Pilatus ausführlich auseinander. U. a. in AC 46, KSA 6, 225 / NL 1884, KSA 11, 25, [338], 100 / NL 1887, KSA 12, 9 [88], 207. Sommer betont, dass neben Zarathustra Pilatus die Skepsis der Stärke symbolisiere. Nietzsche lese das neue Testament gegen die „durchsichtigen Parteiinteressen seiner Verfasser“ (S. 77) und werte Pilatus auf. Seine Frage „‚Was ist Wahrheit?‘ (Johannes 18, 38) zersetzt die göttlichen Aspirationen, die zumindest der Evangelist seinem Heiland zuschreibt und erweist sich als integraler Bestandteil der Desillusionierungs- und Abwiegelungsstrategie, mit der der Statthalter das Problem Jesus zu lösen hofft […]“ (S. 77). Alle Zitate aus: Sommer, Andreas Urs: Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der Urteilsenthaltung. Pilatus und der „Typus des Erlösers“, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Bd. 11: Antike und Romantik bei Nietzsche, Berlin 2004, S. 75–86. Dafür, dass die Zarathustra Stelle tatsächlich auf Pilatus anspielt, kann das zeitnah entstandene Notat NL 1884, KSA 11, 25, [338], 100 herangezogen werden: „Es wird erzählt <daß> der berühmte Stifter des Christenthums vor Pilatus sagte ‚ich bin die Wahrheit‘; die Antwort des Römers darauf ist Roms würdig: als die größte Urbanität aller Zeiten“.

  159. 159.

    Die besondere Bedeutung von FW 344 wird unterstützt durch Nietzsches eigene Wiederholung dieses Aphorismus in GM III. In der dritten Abhandlung spitzt sich die Diskussion über die Herkunft des Glaubens an den unbedingten Wert der Wahrheit in den letzten acht Abschnitten zu. Der Glaube an den Wert der Wahrheit wird auf den eigentlichen und innersten Kern des asketischen Ideals zurückgeführt: „dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist“ (GM III, 24). Der Wissenschaftler, welcher der Wahrheit verpflichtet ist, bleibt damit an sein christliches Erbe gebunden, er bleibt ein Gläubiger, solange er an die Wahrheit glaubt, obwohl sich der Wert der Wahrheit nicht empirisch beweisen lässt und sogar der Verdacht geäußert wird, dass Wahrheit und Leben einen Widerspruch bilden.

  160. 160.

    Deutlicher noch im Kapitel Za II, Von den Tugendhaften, KSA 4, 120–121. Beeindruckend reformuliert aber auch in GM II: „Die Schwäche soll zum Verdienste umgelogen werden […] und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur ‚Güte‘; die ängstliche Niedrigkeit zur ‚Demuth‘; die Unterwerfung vor Denen, die man hasst, zum ‚Gehorsam‘ (nämlich gegen Einen, von dem sie sagen, er befehle diese Unterwerfung, – sie heissen ihn Gott). Das Unoffensive des Schwachen, die Feigheit selbst, an der er reich ist, sein An-der-Thür-stehn, sein unvermeidliches Warten-müssen kommt hier zu guten Namen, als ‚Geduld‘, es heisst auch wohl die Tugend; das Sich-nicht-rächen-Können heisst Sich-nicht-rächen-Wollen, vielleicht selbst Verzeihung (‚denn sie wissen nicht, was sie thun – wir allein wissen es, was sie thun!‘). Auch redet man von der ‚Liebe zu seinen Feinden‘ – und schwitzt dabei.“

  161. 161.

    Jesus scheint im Zarathustra auch mit seiner göttlichen Abkunft zu irren: Im Zarathustra wird die Gestalt Jesus, die explizit nur im Kapitel Vom freien Tode vorkommt, auf die aber auch im Kapitel Von den Priestern angespielt wird, stets als menschlicher Prophet, nie aber als Sohn Gottes als Jesus Christus, behandelt. Jesus kann, so die erschließende Deutung, nicht die Wahrheit sein, wenn er ein Mensch ist. Umso berechtigter erscheint Pilatus Frage „Was ist Wahrheit?“, auf die er keine Antwort zu erhalten erwartet, da es keine vernünftige Erwiderung darauf geben kann, die erklärt, wie ein konkreter Mensch ein abstraktes Ideal sein kann. Die heftige Kritik der christlichen Moral, die im Zarathustra präsent ist, trifft allerdings weniger Jesus als seine Interpreten und die Gemeinschaft der Gläubigen. Vgl. Za II, Von den Priestern, KSA 4, 118: „Und nicht anders wussten sie ihren Gott zu lieben, als indem sie den Menschen an’s Kreuz schlugen!“ Jesus selbst wird im Za durchaus Wertschätzung zuteil. Er erschafft ein Ideal und tritt für dieses ein. Das Problem ist, dass dieses Ideal lebensfeindlich gerät: „Wahrlich, zu früh starb jener Hebräer, den die Prediger des langsamen Todes ehren: und Vielen ward es seitdem zum Verhängniss, dass er zu früh starb. / Noch kannte er nur Thränen und die Schwermuth des Hebräers, sammt dem Hasse der Guten und Gerechten, – der Hebräer Jesus: da überfiel ihn die Sehnsucht zum Tode. / Wäre er doch in der Wüste geblieben und ferne von den Guten und Gerechten! Vielleicht hätte er leben gelernt und die Erde lieben gelernt – und das Lachen dazu! / Glaubt es mir, meine Brüder! Er starb zu früh; er selber hätte seine Lehre widerrufen, wäre er bis zu meinem Alter gekommen! Edel genug war er zum Widerrufen!“ (Za I, Vom freien Tode, KSA 4, 95).

  162. 162.

    Nihilismus und Selbstvergöttlichung sind zwei mögliche Folgen des Gottestodes, die der tolle Mensch im Aphorismus 125 aus der FW dramatisch benennt. In dem Aphorismus ist Gott nicht einfach gestorben, sondern er wurde von den Menschen gemeuchelt, ohne dass die Täter ein Bewusstsein über ihre Tat erlangten: „Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? […] Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? […] Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?“ (FW 125, KSA 3, 481).

  163. 163.

    In diesem Sinn sieht Grätz Selbstverachtung und Selbstliebe miteinander verbunden: „Wiederholt führt Zarathustra in betonter Paradoxie Selbstverachtung mit Selbstliebe eng. Dem liegt ein Argumentationsmuster zugrunde, wonach die selbstverachtende Negation des aktuellen Menschseins die Voraussetzung für die angestrebte Überwindung des Menschen bildet“ (NK 4, KSA 4, 332, 9–11).

  164. 164.

    Die geforderte Ästhetisierung des Hässlichen ordnet Paul von Tongeren der von Nietzsche interpretierten Philosophie der Griechen zu: „Eine Philosophie, die sich in diesen Griechen spiegelt, wird nicht eine wahre Welt hinter oder unter dieser Oberfläche suchen, keinen Sinn hinter dem Leiden, keine rechtfertigende Funktion des Übels. Sie wird dagegen Leiden und Übel selber als Material und Experiment für den Erkennenden annehmen. Nur wer diese Kunst versteht und in diesem Sinne das Hässliche als schön zu sehen weiß, wird vermeiden können, dass es uns ‚schlecht und düster‘ macht (FW 290, KSA 3, 531)“ (Tongeren, Paul van: Was uns Nietzsches Ästhetik für die Frage der Lebenskunst lehrt, in: Gödde, Günter / Loukidelis, Nikolaos / Zirfas, Jörg (Hg.): Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophisch-psychologisches Kompendium, Stuttgart 2016, S. 124). Dass die Überwindung der Verachtung und die Bejahung des eigenen Schicksals Schönheit kreieren kann, legt auch der erste Aphorismus des vierten Buches FW Sanctus Januarius nahe, der als Neujahrsprogramm zum Vorsatz erhoben wird: „Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!“ (FW 276, KSA 3, 521).

  165. 165.

    Vgl. Za IV, Der hässlichste Mensch, KSA 4, 327 f.: „Da aber sah er, als er die Augen aufthat, Etwas, das am Wege sass, gestaltet wie ein Mensch und kaum wie ein Mensch, etwas Unaussprechliches.“

  166. 166.

    Dagmar Kiesel deutet auch den Esel als Menschentypus: „Der Esel steht in der Figürlichkeit der Alltagssprache für starrköpfige Dummheit. Diese tumbe Beharrlichkeit interpretiert Nietzsche als Anerkennung der konventionellen Werte der herkömmlichen, christlich geprägten Moral. Problematisch an dieser Akzeptanz sind in seinen Augen nicht nur die Inhalte dieser Werte, sondern auch, dass sie sich ohne kritische Reflexion und einen vorsätzlichen individuellen Willensakt vollzieht: Das I-A Sagen des Esels ist ein habitualisiertes Ja-Sagen zu tradierten Normen und fungiert somit als Anti-Modell zu Nietzsches Plädoyer für eine, dem Willen zur Macht entspringende, autonome und individuelle Wertschöpfung“ (Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, S. 60).

  167. 167.

    So wie z. B. Jesus unter die Menschen ging, die Schuld der Menschheit auf sich nahm und sich töten ließ, so ist es nun der Esel, der alle Last trägt: „Er trägt unsre Last, er nahm Knechtsgestalt an, er ist geduldsam von Herzen und redet niemals Nein; und wer seinen Gott liebt, der züchtigt ihn“ (Za IV, Die Erweckung 2, KSA 4, 389). Vergleiche auch „Welche verborgene Weisheit ist das, dass er lange Ohren trägt und allein Ja und nimmer Nein sagt! Hat er nicht die Welt erschaffen nach seinem Bilde, nämlich so dumm als möglich?“ (Ebd.) mit der biblischen Ebenbildlichkeit von Gott und Mensch: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau“ (1 Mose, Gen 1, 27). Andererseits ist das Reich des Esels im Gegensatz zum christlichen Jenseits ein Reich „Jenseits von Gut und Böse“ (Za IV, Die Erweckung 2, KSA 4, 389). Vgl. dazu Grätz, Katharina: ‚Also sprach Zarathustra‘ als weltliches Evangelium und als Parodie: Zarathustra-Welten, in: Mortzfeld, Benjamin: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019, S. 101: „So ist das Eselsfest nicht allein eine Bibelparodie, sondern zugleich eine Parodie auf Zarathustras Lehre der Lebensbejahung. Er selbst wird in die Nähe des ‚I-A‘-schreienden Esels gerückt“.

  168. 168.

    Vgl. Za I, Vom Lesen und Schreiben, KSA 4, 49.

  169. 169.

    „– dass ihr endlich wieder thatet wie Kinder thun, nämlich betetet, hände-faltetet und ‚lieber Gott‘ sagtet! / Aber nun lasst mir diese Kinderstube, meine eigne Höhle, wo heute alle Kinderei zu Hause ist“ (Za IV, Das Eselsfest 2, KSA 4, 393).

  170. 170.

    Vgl. dazu Grätz, Katharina: ‚Also sprach Zarathustra‘ als weltliches Evangelium und als Parodie: Zarathustra-Welten, S. 101: „Die höheren Menschen ihrerseits inaugurieren den neuen Kult des Eselsfests, der die christliche Liturgie parodiert und von Zarathustra als Ausdruck von Lebensbejahung bestätigt wird.“

  171. 171.

    Bennholdt-Thomsen schließt: „Wenn dieser Mensch am Ende fähig ist, frei zu sprechen und sein Leben zu bejahen, dann hat sich gewissermaßen der Geist der Schwere selbst angenommen und überwunden […]. Zarathustras Erkenntnis und Sieg wird hier vom häßlichsten Menschen nachvollzogen in eigener Sache“ (Bennholdt-Thomsen, Anke: Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarischen Phänomen. Eine Revision, S. 187).

  172. 172.

    „Diess mag sich nun so verhalten oder auch anders; und wenn in Wahrheit an jenem Abende der Esel nicht getanzt hat, so geschahen doch damals grössere und seltsamere Wunderdinge als es das Tanzen eines Esels wäre. Kurz, wie das Sprichwort Zarathustra’s lautet: ‚was liegt daran!‘“ (Za IV, Das Nachtwandler-Lied 1, KSA 4, 396).

  173. 173.

    „Als sie [die höheren Menschen] aber zur Thür der Höhle gelangten, und das Geräusch ihrer Schritte ihnen voranlief, da stutzte der Löwe gewaltig, kehrte sich mit Einem Male von Zarathustra ab und sprang, wild brüllend, auf die Höhle los; die höheren Menschen aber, als sie ihn brüllen hörten, schrien alle auf, wie mit Einem Munde, und flohen zurück und waren im Nu verschwunden“ (Za IV, Das Zeichen, KSA 4, 407).

  174. 174.

    Vgl. Mt 18, 2–3: „Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“.

  175. 175.

    Das Motiv des Wiederkäuens ist bei Nietzsche ein ambivalentes: Neben der Stumpfsinnigkeit und Genügsamkeit, die damit assoziiert werden kann, ist sie dennoch eine Tätigkeit, die bei Nietzsche gelobt und gefordert wird und zwar eindringlich von seinen Lesern, die seine Texte besser auswendig kennen sollten (vgl. z. B. GM, Vorrede 8, KSA 5, 256).

  176. 176.

    Mit diesem Diätplan parodiere Nietzsche, so Grätz, die Bewegung der Vegetarier, die zu Nietzsches Zeit regen Zulauf erhielt und über ernährungsberatende Funktionen hinaus ideologisch die Lebensweise des Maßhaltens vertrat. Der Bettler entspricht nicht nur mit seiner Fleisch-Abstinenz dieser Lebensweise, sondern hinzu kommen „der Verzicht auf Alkohol, wie überhaupt Mäßigkeit und Bedürfnislosigkeit, sein sanftes Wesen sowie sein kritischer Blick auf die Gesellschaft“ (NK 4, KSA 4, Der freiwillige Bettler). Der Vegetarismus verspreche nicht nur ein besseres, weil ruhigeres Leben, sondern vor allem auch ein längeres: „‚Als Folge ihrer Lebensweise nehmen sie das gewöhnliche Lebensalter der Menschen zu etwa 120 Jahren an; auch soll bei ihnen der Puls, wenn die sonstigen Lebensgewöhnungen gut sind, nur 50–60 Schläge in der Minute machen, dagegen derjenige der Fleischesser 70–90. Dieses legen sie zu Gunsten eines ruhigen und gleichmäßig verlaufenden Lebensprozesses und somit einer längeren Lebensdauer aus‘“ (ebd.). Das Ideal eines langen, ausgeglichenen und ruhigen Lebens steht im Gegensatz zu einem gefährlichen Leben und der freiwillige Bettler erscheint infolge dessen kaum als Figur einer gefährlichen Lebensführung.

  177. 177.

    Vgl. u. a. FW, Vorrede 4, KSA 3, 352 oder JGB, Vorrede, KSA 5, 11.

  178. 178.

    Vgl. dazu auch Vivarelli, Vivetta: Der Nietzsche der radikalen Aufklärung. Leben und Denken als ‚freier Geist‘ in: Mortzfeld, Benjamin: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019, S. 81: „Der Wille zum Um- und Andersdenken, […] verdichtet sich in der Metapher des Wanderers, der in seinem geisteigen Nomadentum keine Grenzsteine und keinen Halt in endgültigen Ansichten kennt.“

  179. 179.

    Siehe dazu das Abschnitt 5.10.2.

  180. 180.

    Vgl. dazu Meier, Heinrich: Die ‚Umwerthung aller Werthe‘ und das philosophische Leben, in: Mortzfeld, Benjamin: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019, S. 120: „Das Hochgebirge hat mit dem Meer und der Wüste, die Nietzsche an anderen Stellen aufruft, um das philosophische Leben durch Metaphern zu charakterisieren, die Unwirtlichkeit gemeinsam, die extremen Bedingungen, unter denen das Leben geführt und bestanden werden muss. In Eis und Hochgebirge kann man sich bewegen, wie man in die Wüste gehen oder sich auf hohe Berge begeben kann. Aber man kann sich nicht beständig, nicht ausschließlich, nicht ohne Unterbrechung aufhalten. Eis und Hochgebirge, das offene Meer, die Ödnis der Wüste verweisen auf den Wechsel von Aufstieg und Abstieg, das notwendige Hin und Her, die Folge von Aufbruch, Rückkehr und neuem Aufbruch. Alle drei zeichnet der weite, unverstellte Horizont aus, wobei die Metapher von Eis und Hochgebirge den beiden anderen die natürliche Artikulation der Höhenunterschiede – das ‚Pathos der Distanz‘ – und die Assoziation der freien Übersicht voraus hat. Alle drei stehen für das Verlassen des Reichs gesicherter Satzungen, für die Entfernung von Meinung, Glaube, Überlieferung, für den Bruch mit der Konvention – kurz: für eine tiefgreifende ‚Umwerthung‘“.

  181. 181.

    Diese „Bilder“ können auch mit den „Standbildern“ der Wahrheit assoziiert werden, denen das lyrische Ich im Lied der Schwermuth im Grunde feind ist. Und so wie das lyrische Ich als Katze die zivilisatorische Welt verlässt, um dem diabolischen Urwald zuzustreben, so folgt der Schatten Zarathustra in kalte Gegenden, die ihn ebenfalls die bisherigen Werte von Gut und Böse verkehren lassen.

  182. 182.

    „Es ist Willkür und Lust an der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, – wenn er neugierig und versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines Treibens und Schweifens – denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wüste – steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neugierde. „Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht Böse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels?“ (MA I, Vorrede 3, KSA 2, 17).

  183. 183.

    Bei diesem Weg ins Verbotene („Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und wenn irgend Etwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte“ (Za IV, Der Schatten, KSA 4, 339 f.) kann man das „Verbotene“ als Chiffre Nietzsches für den Zweifel an einer autoritär auftretenden Ethik und Religion begreifen. Vgl. dazu auch Meier, Heinrich: Die ‚Umwerthung aller Werthe‘ und das philosophische Leben, S. 120: „Was die Philosophie als distinkte Lebensweise bestimmt, ist ihre suchend-versuchende Ausrichtung, die vor keiner Autorität haltmachen lässt, weil sie sich bei keiner Antwort beruhigen kann, die ihre Beglaubigung einer Autorität schuldet. Die Philosophie ist das Leben, das auf radikales Fragen gegründet ist und sich in radikalem Fragen gegründet weiss. Darin liegt die prinzipielle Spannung zu Moral, Politik, Religion beschlossen. Im Blick auf diese unaufhebbare Spannung nennt Nietzsche die Philosophie im unmittelbaren Anschluss an das ‚freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge‘ eine ‚Wanderung im Verbotenen‘“.

  184. 184.

    Das Credo „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“ wird in der Forschungsliteratur als Position eines erkenntnistheoretischen Nihilismus verstanden (vgl. Grätz, Katharina: ‚Der Dichter verräth sich in seinen Gestalten‘ – und bleibt ungreifbar: Nietzsche, Zarathustra und Zarathustras Schatten, in: Nietzscheforschung 25, 2018, S. 132). Während es aber für Grätz „um die philosophische Fundierung der nihilistischen Position zu gehen scheint“ (ebd.) und nicht „um die lebenspraktischen Implikationen einer solchen Auffassung“ (ebd.), sieht Schmidt in dieser Formulierung eine philosophische Wegbereitung für den Faschismus: „Wenn nichts wahr und alles erlaubt ist, dann bedarf es erst gar nicht der sorgfältigen Argumentation; jede Bemühung um Konsequenz und Kontinuität ist a limine überflüssig, alles wird zum Spiel oder zum Experiment. Wo aus dem Grundsatz, daß nichts wahr sei, der Schluß gezogen wird, daß alles erlaubt sei auch in Hinsicht […] auf das konkrete Handeln, dort gerät der Nihilismus in die Nähe des Faschismus. In diesem weiten Sinne hat Nietzsche den Faschismus geistig vorbereitet, einschließlich der faschistischen Rhetorik und Agitation: als ein System totaler Verantwortungslosigkeit“ (Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 2: Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, Darmstadt 1985, 132). Der ersteren Position könnte man vorwerfen, Nietzsches Gefährlichkeit zu depotenzieren, in dem sie den Satz nur auf erkenntnistheoretisches Gebiet einzuschränken versucht („Nichts ist wahr, Alles ist [zu denken] erlaubt“). Dabei wäre es auch möglich, dass der zweite Teil „Alles ist erlaubt“ von der Erkenntnis auf die Ethik übergeht und daher tatsächlich als antihumanistisch par excellence aufgefasst werden könnte. Die zweite Position (Schmidt) versucht die Engführung dieses Credo mit dem Faschismus. Dessen politisch-biologische Ideologie behauptet allerdings eine absolute Wahrheit. Entweder ist aus dem „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“ alles zu schließen, dann könnte Nietzsches Satz herhalten sowohl für Faschismus als auch Kommunismus oder Anarchismus, oder es gibt doch eine anti-ideologische Implikation aus dem Zusammenhang, in dem der Satz fällt. Man kann aus der Begegnung zwischen dem Schatten und Zarathustra folgern, dass der Schatten mit Zarathustra diesen Gedanken vollzieht. Es ist also eigentlich ein Gedanke Zarathustras, von dem der Leser aber nicht erfährt, wie Zarathustra aktuell dazu steht – möglicherweise hat er ihn inzwischen ad acta gelegt. Zarathustra befürchtet für den Schatten, diesem könne zuletzt ein Gefängnis selig dünken. Ein solches Gefängnis kann symbolisch für eine Ideologie stehen, definitiv ist damit ein festes und einengendes Glaubenssystem gemeint. Ein solches lehnt Zarathustra explizit ab. Im IV. Teil ist die Überlegenheit Zarathustras über die höheren Menschen evident, mithin Zarathustras Position der des Schattens überlegen. Der Versuch jedoch, sich um die philosophische Interpretation antihumanistischer Züge des Credos und eine mögliche Rechtfertigung von Verbrechen zu drücken, kann auch absurde Züge annehmen und zwar, wenn die Position als philosophisch irrelevant, als bloß autobiographisches Versatzstück interpretiert wird: „In Kenntnis der Briefe Nietzsches kann zumindest das Bild im zweiten Satzteil kaum missverstanden werden: Es nimmt Bezug auf Nietzsches leidvolle Badeerlebnisse im Engadin […]. So gesehen wird man den Ausruf ‚Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‘ aus dem Munde von Zarathustras Schatten wohl kaum in dem Sinne deuten dürfen, dass hier ein Nihilist sich zu diesem Spruch bekennt. Vielmehr geht es, textnah gesprochen, um nichts weiter als um eine Mutmacherformel angesichts frühjahrskalter Bergseen“ (Niemeyer, Christian: ‚Auf die Schiffe ihr Philosophen!‘ Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens, München 2019, S. 86). Dabei übersieht Niemeyer, dass bei konsequenter Anwendung der biographischen Auslegung die philosophische Interpretation überflüssig würde. In diesem Fall könnten sich dann diejenigen bei Niemeyer bedanken, gegen die er argumentierend zu Felde zieht, beispielsweise Margot Fleischer, Jochen Schmidt oder Heinz Schlaffer. Denn eine Philosophie, die nur noch biographisch ausgelegt wird, wird philosophisch irrelevant. Nicht weil Nietzsches Philosophie unmoralisch ist (wie Fleischer, Schmidt, Schlaffer sie interpretieren) wird sie erledigt, sondern weil sie persönlich und nicht verallgemeinerbar ist. Eine moralisch böse Philosophie hätte währenddessen noch die Attraktivität des Bösen, wenn auch freilich nur auf bestimmte Interpreten. Vgl. auch Fleischer, Margot: Der ‚Sinn der Erde‘ und die Entzauberung des Übermenschen, Darmstadt, 1993, S. 152. Zur Quellenlage des Assassinenspruchs siehe den Kommentar zur GM: NK 5/2, 566–570.

  185. 185.

    Sowohl in der Erzählung von der Ichwerdung des freien Geistes aus MA I als auch im Reisebericht des Schattens im Za bricht die Zerstörungswelle über die jeweiligen Protagonisten hinweg, ohne dass sie sich freiwillig in Gefahr begeben hätten. In der ersteren wendet sich ein vom eigenen Ich unbegriffener plötzlicher Hass gegen dasjenige, was vorher zutiefst verehrt wurde, beim Schatten ergibt sich die Eruption als Folge seiner Folgsamkeit gegenüber Zarathustra. Wäre es als Alternative auch denkbar, sich freiwillig für die Relativität zu entscheiden? Oder kann man der Umwälzung, die zu ihr führt, nur erliegen? Wäre es nicht auch denkbar, diese Haltung selbst zu überdenken oder wäre das stets ein Rückzug in ein ‚Gefängnis‘? Die Alternativen werden durch den Typus des Schattens nicht experimentell überprüft, der von vornherein zu sehr von seinem eigentlichen Wunsch nach Sicherheit kompromittiert ist, um die positive Verwirklichung eines gefährlichen Lebens zu überprüfen.

  186. 186.

    „Dir aber, oh Zarathustra, flog und zog ich am längsten nach, und verbarg ich mich schon vor dir, so war ich doch dein bester Schatten“ (Za IV, Der Schatten, KSA 4, 339). Wenn der Schatten, wie er behauptet, der beste ist, so muss es (zuvor) andere gegeben haben. Es lässt sich leicht imaginieren, dass Zarathustras Lebens- und Denkweise eine ist, die eine Vielzahl von Schatten verschleißen könnte, wenn diese an ihn gebunden all die gefährlichen Wagnisse mit Zarathustra vollziehen müssen, um „gute“ Schatten zu sein.

  187. 187.

    Zur Bedeutung „Nachtisch-Lied“ siehe Groddeck, Wolfram: Friedrich Nietzsche „Dinoysos-Dithyramben“. Die „Dionysos-Dithyramben“ Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk, S. 53: „Die Bezeichnung ‚Nachtisch-Lied‘ läßt sich zunächst auf die antike Form des σκόλιον zurückführen, das ein ‚nach der Tafel vorgetragenes Lied‘ ist. [… F]ür den ‚Wanderer‘ der ‚vielerlei Länder sah‘ […] klingt das französische Wort für ‚Wüste‘, ‚désert‘ homophon mit ‚dessert‘, ‚Nachtisch‘. Nach der Logik des Wortspiels ist der ‚Nachtisch‘ nur ein Effekt der ‚Wüste‘ – die ‚Wüste‘ noch einmal.“

  188. 188.

    Eine Interpretation unter Berücksichtigung formaler und sprachlicher Gestaltung bietet Groddeck, Wolfram: Friedrich Nietzsche „Dinoysos-Dithyramben“, S. 46 – 98.

  189. 189.

    Zur Anspielung auf Mt. 12, 40 vgl. NK 4, KSA 4, 381, 22–24.

  190. 190.

    Wie Groddeck betont, stellt das lyrische Ich durch den Verweis auf den zunächst abtrünnigen Propheten Jona „die Gelehrten-Eitelkeit des ‚Wanderers‘, seine Belesenheit, [selbstironisch] zur Schau“ (Groddeck, Wolfram: Friedrich Nietzsche „Dinoysos-Dithyramben“, S. 65).

  191. 191.

    Zum Symbol der Nüsse, vgl. Groddeck, Wolfram: Friedrich Nietzsche „Dinoysos-Dithyramben“, S. 56: „‚Nüsse‘ ist im Text sprichwörtliche Metapher für ‚Räthsel‘, da man Rätsel so löst wie man Nüsse knackt. Aber der doppelte Vergleich der ‚Mädchen‘ mit ‚Rätseln‘ und ‚Nüssen‘ produziert Zweideutigkeit, weil ‚Nüsse‘ als Metapher nicht nur für ‚Räthsel‘, sondern auch für ‚Mädchen‘ verstanden werden kann. Denn die Bezeichnung ‚Nüsse‘ für ‚Mädchen‘ impliziert die obszöne Anspielung – ‚pars pro toto‘ – auf das weibliche Genital.“

  192. 192.

    Den Namen Dudu hat Nietzsche Lord Byrons Don Juan entnommen, während der Name „Suleika“ auf Goethes West-östlichen Diwan verweist. Sommer und Schmidt schließen, dass „wenn N.s Wanderer die ‚Harfe des alten Zauberers ergreift‘ um sein Nachtisch-Lied zu singen, zu singen, […] der Zauberer [nicht nur deutlich an Wagner, sondern auch weniger deutlich] an Goethe erinnert. Doch weil dessen dichterische Welt der Vergangenheit angehört, ist es ‚ein altes Nachtisch-Lied‘ das der Wanderer ‚einst‘ dichtete […], und als bloßes ‚Nachtisch‘-Lied ist es epigonal. Da er aber dies samt dem von Goethe beförderten Orientalismus (und Eskapismus) reflektiert, vermag der Wanderer zur Harfe des alten Zauberers nur noch in grotesk verfremdeter Form zu singen. In dieser Verfremdung, in der sich das nicht zu unterdrückende moderne Bewusstsein verrät, gerät das ‚Lied‘ zur bewusst grotesk inszenierten Goethe-Parodie“ (NK 6/2, 667 / vgl. auch NK 6/2, 670).

  193. 193.

    Zu der sexuell aufgeladenen Symbolik des Gedichts siehe Groddeck, Wolfram: Friedrich Nietzsche „Dinoysos-Dithyramben“, S. 54–56, 66–80.

  194. 194.

    In den DD wird diese Zeile nicht nur wiederholt, sondern zwei hinzugefügte Strophen fällen auch ein fatales Urteil: „Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt! / Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt. / Der ungeheure Tod blickt glühend braun / und kaut, – sein Leben ist ein Kaun… // Vergiss nicht, Mensch, den Wollust ausgeloht:/ du bist der Stein, die Wüste, bist der Tod…“. Das Ende des Gedichts in DD kulminiert in der Gleichsetzung von Wüste, Nihilismus und Tod, die selbst einem Menschentypus entsprechen, der einen Endpunkt darstellt. Siehe auch: NK 6/2, S. 671 f.

  195. 195.

    Die vom Leser imaginierte Vorstellung eines lüsternen Greises kann sowohl vom Schatten als Sänger des Liedes selbst evoziert werden, denn dieser ist wie auch die anderen höheren Menschen ein alter Greis, als auch von der Metapher des „[ä]ltlichen Eheweibchen[s]“ Europa: Denn wenn Europa das ältliche Eheweibchen ist, dann ist das lyrische Ich wohl der ältliche Ehemann.

  196. 196.

    Der von solcher Obszönität indignierte Thomas Mann urteilt über das Lied, in dem er autobiografische Elemente zu entdecken meint: „Im vierten Teil des ‚Zarathustra‘ […] findet sich, in dem Kapitel ‚Unter Töchtern der Wüste‘, ein orientalisierendes Gedicht, dessen gräßliche Scherzhaftigkeit eine kasteite Sinnlichkeit und ihre Nöte, bei schon gelockerten Hemmungen, mit qualvoller Geschmacklosigkeit verrät. In diesem Gedicht von den ‚allerliebsten Freundinnen und Mädchen-Katzen, Dudu und Suleika‘, einem erotischen Wachtraum von peinlicher Humorigkeit, sind die ‚Flatter- und Flitteröckchen‘ jener Kölner gewerbtreibenden Damen wieder da, noch immer da“ (Mann, Thomas: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, Vortrag erstmals gehalten in gekürzter englischer Form im Hunter College, New York, 1947 u. erstmals veröffentlicht 1947 im Herbstheft der Neuen Rundschau, Bermann-Fischer Verlag, Stockholm, Berlin 1948, S. 10 f.). Zu den stark ablehnenden Reaktionen in der Rezeptionsgeschichte, vgl. NK 4, KSA 4, Unter Töchtern der Wüste.

  197. 197.

    „Luther soll am 18. April 1521 vor dem Reichstage zu Worms seine Antwort auf die Frage, ob er widerrufen wolle, mit den Worten geschlossen haben: ‚Hier stehe ich! Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen.‘ Diese Worte stehen an dem Lutherdenkmale, welches 1868 in Worms enthüllt wurde. Nach der ältesten Darstellung hat er aber nur die im Sprachgebrauche der Zeit gewöhnlichen Worte: ‚Gott helfe mir, Amen!‘ gesprochen“ (Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des deutschen Volkes, Berlin 1887, S. 376).

  198. 198.

    Dabei kann man allerdings die moralisch-ethischen Ansprüche des Europäers als überholt betrachten angesichts des Widerspruchs zwischen dem realpolitischen Machtanspruch, mit dem die Länder Europas auftreten, und den Moralansprüchen, die sie vorgeblich vertreten: „Charakteristik des Europäers: der Widerspruch zwischen Wort und That: der Orientale ist sich treu im täglichen Leben. Wie der Europäer Colonien gegründet hat, beweist seine Raubthier-Natur. Der Widerspruch erklärt sich daraus, daß das Christenthum die Schicht, aus der es wuchs, verlassen hat“ (NL 1884, KSA 11, 25 [163], 56).

  199. 199.

    Meyer interpretiert die höheren Menschen nicht als Menschentypen, sondern als Stimmungen, welche die Ausgestaltung des eigenen Werkes gefährden können: „Jede Gestalt des ‚Vierten Teils‘ vertritt Stimmungen, die der Vollendung des Lebenswerkes, wie Nietzsche es sich zum Ziel gesetzt hatte, gefährlich werden konnten: die sentimentale Pietät gegenüber dem Altgeheiligten, der radikale Ekel vor allem und jedem Tun, der nach raschen Erfolgen bedürftende Ehrgeiz treten auf“ (Meyer, Richard M.: Nietzsche. Sein Leben und seine Werke, S. 411).

  200. 200.

    Diese Antwort des Lebens deutet Figal als Beweis, dass keiner, auch nicht Zarathustra, der Lehrer der Wiederkunft sein könne: „Niemand weiß, daß alles wiederkehrt und es also keinen Untergang gibt, niemand kann deshalb Lehrer dieses Gedankens sein. Um seine Wirkung zu entfalten, muß der Gedanke zurückgehalten, verschwiegen werden“ (Figal, Günter: Kein Grieche und kein tragischer Gott. Nietzsches Zarathustra-Dichtung zwischen Platon und Richard Wagner, S. 54).

  201. 201.

    So entsprechen die Vorwürfe die das lyrische Ich im ersten Lied des Zauberers dem „göttlichen Gedanken“ macht denjenigen des hässlichsten Menschen. Vgl.: „In’s Herz, / Einsteigen, in meine heimlichsten / Gedanken einsteigen? / Schamloser! Unbekannter – Dieb!“ (Za IV, Der Zauberer, KSA 4, 315) mit „Sein Mitleiden kannte keine Scham: er kroch in meine schmutzigsten Winkel. […] Er sah immer mich: an einem solchen Zeuge wollte ich Rache haben – oder selber nicht leben“ (ZA IV, Der hässlichste Mensch, KSA 4, 331).

  202. 202.

    „Versuchte ich dich? Ich – suche nur. / Oh Zarathustra, ich suche einen Ächten, Rechten, Einfachen, Eindeutigen, einen Menschen aller Redlichkeit, ein Gefäss der Weisheit, einen Heiligen der Erkenntniss, einen grossen Menschen! / Weisst du es denn nicht, oh Zarathustra? Ich suche Zarathustra“ (Za IV, Der Zauberer, KSA 4, 319).

  203. 203.

    So warnt der letzte Papst Zarathustra: „Ist es nicht deine Frömmigkeit selber, die dich nicht mehr an einen Gott glauben lässt? Und deine übergrosse Redlichkeit wird dich auch noch jenseits von Gut und Böse wegführen! / Siehe doch, was blieb dir aufgespart? Du hast Augen und Hand und Mund, die sind zum Segnen vorher bestimmt seit Ewigkeit. Man segnet nicht mit der Hand allein“ (Za IV, Ausser Dienst, KSA 4, 325). Und auch der hässlichste Mensch warnt vor sich: „Du selber aber – warne dich selber auch vor deinem Mitleiden! Denn Viele sind zu dir unterwegs, viele Leidende, Zweifelnde, Verzweifelnde, Ertrinkende, Frierende – / Ich warne dich auch vor mir. Du erriethest mein bestes, schlimmstes Räthsel, mich selber und was ich that. Ich kenne die Axt, die dich fällt“ (Za IV, Der hässlichste Mensch, KSA 4, 331).

  204. 204.

    Der in diesem Kontext fallende Züchtungsgedanke ruft ins Gedächtnis, dass die im Zarathustra angesprochenen neuen Ideale nicht nur das Leben des einzelnen betreffen und ihn zu einem wagnisvollen Leben aufrufen, sondern auch die Menschheit etwas ist, mit dem experimentiert werden darf. In welchem Verhältnis stehen der existentielle Aufruf zu einem gefährlichen Leben mit den Idealen des Übermenschen und der ewigen Wiederkunft zu einer gesellschaftlichen Umwälzung, die eine Kultur ins Leben rufen will, die diese Ideale als herrschende setzt? Die Antwort auf diese Frage bleibt von Beginn der Nietzscheforschung an umstritten. Vgl. z. B. Heckel, Karl: Nietzsche. Sein Leben und seine Lehre, Leipzig 1922, S. 13: „Damit ist die Wegrichtung zur Höherzüchtung der Menschheit gewiesen, die den eigentlichen [Gehalt] der Lehre Nietzsches vom aufsteigenden Leben bestimmt. Er hat der Deszendenzlehre Darwins ebenbürtig eine Aszendenzlehre gegenübergestellt.“ Oder auch Seydl, Ernst: Also sprach Zarathustra. Eine Nietzsche-Studie, in: Raich, Johann Michael (Hg.): Frankfurter Zeitgemäße Broschüren, Bd. XXI., Hamm 1902, S. 269: „Aber die Menschheit soll streben, noch edleren und höheren Geschöpfen das Dasein zu geben, sie soll dem Typus ‚Uebermensch‘ schaffen.“ Vgl. aber auch Lessing, Theodor: Nietzsche, (erstmals erschienen 1925, Ullstein Verlag, Berlin), München 1985, S. 69: „Schon in dieser ‚Vorrede‘ wird somit klar, daß Nietzsche vor nichts mehr Scheu hat als vor der Verwechslung seiner Übermenschenlehre mit dem Rohlingsideal einer muskelfesten Machtmoral.“ Oder auch Rickert, Heinrich: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920, S. 21 f.: „Schließlich steht der am höchsten, der es vermag, das Leben in seiner Totalität mit all seinen Schrecknissen und Fürchterlichkeiten zu ewiger Wiederkehr zu bejahen, denn eine solche Haltung zum Leben ist das Zeichen der größten Lebendigkeit, Stärke und Kraft.“ Vgl. zum Primat des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft auch Rickert, Heinrich: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920, S. 139.

  205. 205.

    Dagmar Kiesel, welche die höheren Menschen ausschließlich als Seelenteile Zarathustras deutet, zieht zu Beginn ihrer Abhandlung daraus drastische Konsequenzen in Bezug auf das mögliche Scheitern Zarathustras: „Zarathustras Persönlichkeit und Lehre sind jedoch – wie ich zu zeigen versuchen werde – immer noch von der Kollision der konträren Triebe Redlichkeit und Ressentiment durchzogen und daher zum Scheitern verurteilt.“ Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, 14. Gegen Ende ihrer Abhandlung schwächt die Autorin dieses scharfe Urteil ab: „Das amor fati ist hier zumindest punktuell realisiert und mit ihm die personale Einheit Zarathustras wiederhergestellt“ (ebd., 80).

  206. 206.

    „Und zumal über dem Himmel: denn alle Götter sind Dichter-Gleichniss, Dichter-Erschleichniss! / Wahrlich, immer zieht es uns hinan – nämlich zum Reich der Wolken: auf diese setzen wir unsre bunten Bälge und heissen sie dann Götter und Übermenschen: – / Sind sie doch gerade leicht genug für diese Stühle! – alle diese Götter und Übermenschen. / Ach, wie bin ich all des Unzulänglichen müde, das durchaus Ereigniss sein soll! Ach, wie bin ich der Dichter müde!“ (Za IV, Von den Dichtern, KSA 4, 165).

  207. 207.

    „Verwandelt sah ich schon die Dichter und gegen sich selber den Blick gerichtet. / Büsser des Geistes sah ich kommen: die wuchsen aus ihnen“ (Za IV, Von den Dichtern, KSA 4, 166).

  208. 208.

    „Ich bin von Heute und Ehedem, sagte er dann; aber Etwas ist in mir, das ist von Morgen und Übermorgen und Einstmals. / Ich wurde der Dichter müde, der alten und der neuen: Oberflächliche sind sie mir Alle und seichte Meere“ (Za IV, Von den Dichtern, KSA 4, 165).

  209. 209.

    „Kaum aber hatte Zarathustra diese Worte gesprochen, da stürzte er nieder gleich einem Todten und blieb lange wie ein Todter. Als er aber wieder zu sich kam, da war er bleich und zitterte und blieb liegen und wollte lange nicht essen noch trinken. Solches Wesen dauerte an ihm sieben Tage“ (Za III, Der Genesende, KSA 4, 271).

  210. 210.

    „‚Warum? sagte Zarathustra. Du fragst warum? Ich gehöre nicht zu Denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf. / Ist denn mein Erleben von Gestern? Das ist lange her, dass ich die Gründe meiner Meinungen erlebte“ (Za IV, Von den Dichtern, KSA 4, 163).

  211. 211.

    „Ich trete alle Wege todt und zu Schanden“ (Za, Der hässlichste Mensch, KSA 4, 329).

  212. 212.

    Vgl. Zarathustras Begegnung mit dem Narren im Kapitel Vom Vorübergehen, in dem Zarathustra die Verachtung des Narren als Wunsch Rache zu nehmen für unwürdig erklärt. Als letzten Rat gibt er dem Narren folgende Worte mit auf den Weg: „wo man nicht mehr lieben kann, da soll man – vorübergehn! –“ (Za III, Vom Vorübergehen, KSA 4, 225).

  213. 213.

    Gerade in der Gestalt des hässlichsten Menschen wird Zarathustras eigenes Verhältnis zur Verachtung problematisiert. Denn dieses ist durchaus ambivalent: 1. Achtenswert ist die Selbstverachtung, denn sie ist eine schöpferische Kraft. 2. Man sollte nicht nach den anderen hinblicken, sonst entstehen Ekel und Verachtung – ein krankmachendes Gift (vgl. Za III, Vom Vorübergehen, KSA 4, 225). 3. Andere im Licht der Verachtung erscheinen zu lassen, kann ein Mittel von Selbstaufwertung sein (ebd.).

  214. 214.

    Die Deutung einer engen Geistesverwandtschaft zwischen Zarathustra/Nietzsche und den Priestern im Allgemeinen versucht Dagmar Kiesel stark zu machen, indem sie auf Za II, Von den Priestern, KSA 4, 117 verweist. Sie schreibt im Anschluss: „Eine vordergründige Lesart könnte dies nur auf die familiäre Herkunft Nietzsches aus mehreren Pastorengenerationen beziehen. Doch Zarathustras wertschätzender Hinweis auf einige leiderprobte priesterliche ‚Helden‘ zeigt, dass es sich weniger um biologische, als vielmehr um geistige Verwandtschaft handelt: Sowohl das Leiden als auch Heldencharaktere werden bekanntlich von Nietzsche wertgeschätzt“ (Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, S. 31). Dem könnte man hinzufügen, dass in GM III der Typus des Philosophen (wie Zarathustra einer ist) sich aus dem asketischen, priesterlichen entwickelt (vgl. Abschnitt 3.2). Im Unterschied zum Priester und dessen schöpferischen Ressentiment gestaltet sich Zarathustra allerdings als jasagende Person, die (zumindest) Nietzsche frei von solchen Gefühlen denkt. Kritisch angemerkt sei ebenfalls, dass der Held und seine Opferbereitschaft bei Nietzsche häufiger in Verdacht stehen, bloß eine Schauspielerei vor (imaginierten oder tatsächlichem) Publikum zu sein (vgl. z. B. JGB 25, KSA 5, 42–43 und GM III, 8, KSA 5, 351–356). Nietzsches eigene Kommentare zur Zu- oder auch Nichtzugehörigkeit zur Priesterkaste als Sohn eines Pastors könnten indes auch von einem selbstironischen Tonfall geprägt sein: „Es ist nothwendig zu sagen, wen wir als unsern Gegensatz fühlen – die Theologen und Alles, was Theologen-Blut im Leibe hat – unsre ganze Philosophie…“ (AC 8, KSA 6, 174).

  215. 215.

    „Oh Glück! Oh Glück! Willst du wohl singen, oh meine Seele? Du liegst im Grase. Aber das ist die heimliche feierliche Stunde, wo kein Hirt seine Flöte bläst. / […] – einen alten braunen Tropfen goldenen Glücks, goldenen Weins? Es huscht über ihn hin, sein Glück lacht. So – lacht ein Gott. Still! – […] Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick – Wenig macht die Art des besten Glücks. Still! […] – Wie? Ward die Welt nicht eben vollkommen? Rund und reif? Oh des goldenen runden Reifs –“ (Za IV, Mittags, KSA 4, 343–345).

  216. 216.

    Dagmar Kiesel zieht ihrem Argumentationsstrang folgend konsequenterweise den Schluss, dass es sich beim Mitleiden mit den höheren Menschen um Selbstmitleid handle und damit ein desaströses Selbstbild offenlege: „Dies erklärt, warum der Notschrei Zarathustra dermaßen aufwühlen musste: Er ist nichts anderes als der Hilferuf des eigenen gespaltenen Ichs, das nach Balsam für die verwundete Seele verlangt. Dass Zarathustra versucht ist, sich selbst zu bemitleiden, muss ihm im Höchstmaß als anstößig erscheinen. Selbsmitleid gilt schon gemeinhin als ein pathetisches Phänomen, das in der Regel auf wenig Verständnis stößt. Bei Zarathustra jedoch, dem Verächter des Mitleids par excellence, muss die Gefahr des eigenen Selbstmitleids mit Selbstverachtung einhergehen“ (Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, S. 77).

  217. 217.

    Ausführlich zum Mitleid siehe die Fußnoten 400 und 401.

  218. 218.

    Dass die höheren Menschen nicht für die Schwachen da sein oder die Kranken pflegen und unterstützen sollten sind explizite Forderungen in der GM und steigern sich in GD bis zum Euthanasie Gedanken (vgl. GM III, 14, KSA 5, 367–372 und GD, Streifzüge 36, KSA 6, 134).

  219. 219.

    Beachtenswert ist in diesem Kontext auch eine Notiz von 1884: „Wir enthalten den Entwurf zu vielen Personen in uns: der Dichter verräth sich in seinen Gestalten. Die Umstände bringen Eine Gestalt an uns heraus: wechseln die Umstände sehr, so sieht man an sich auch zwei, drei Gestalten. – Von jedem Augenblick unseres Lebens aus giebt es noch viele Möglichkeiten“ (NL 1884, KSA 11, 25 [120], 45).

  220. 220.

    Sowohl Anfang und Ende beginnen bzw. schließen ironischerweise genau gleich mit der Hoffnung auf Erfüllung, wie Katharina Grätz betont: „So scheint der von Zarathustra immer wieder feierlich angekündigte ‚grosse Mittag‘ zwar über die vier Werkteile hinweg immer näherzurücken, er tritt aber bis zum Schluss nicht ein. Das Werk endet im vierten Teil, wie es beginnt: im Zeichen der Erwartung“ (Grätz, Katharina: ‚Also sprach Zarathustra‘ als weltliches Evangelium und als Parodie: Zarathustra-Welten, in: Mortzfeld, Benjamin: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019, S. 99). Es stellt sich also die Frage: Kippt die positiv konnotierte Hoffnung am Ende von Teil IV in ihr eigenes Gegenteil? Ist die Geschichte Zarathustras die einer Nicht-Entwicklung und des Selbstbetruges, nämlich die eigene Stärke nur von einer stetig in die nahe Zukunft gelegten Erwartung zu beziehen, die aber augenscheinlich niemals erfüllt werden wird?

  221. 221.

    Als „Tagesgedanken“ und „Nachtgedanken“ sind diese auch schon von Theodor Lessing interpretiert, der die beiden aber nicht nur als unvereinbar betrachtet, sondern in gewagter These behauptet: „daß an ihrem Gegensatz und Widerspruch Nietzsches Denken zerbrach“ (Lessing, Theodor: Nietzsche, S. 73 f.).

  222. 222.

    Marco Brusotti stellt in seiner umfangreichen Monographie „Die Leidenschaft der Erkenntnis“ heraus, dass der Gedanke der Wiederkunft überhaupt nur unter der Bedingung des Übermenschen ertragen werden kann (vgl. Brusotti, Marco: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin / New York 1997, S. 516 – 539). Genauso auch Skirl: „Die Lehre ist nicht erträglich und soll es auch nicht sein, Hoffnung besteht einzig in der (durch Zarathustras Untergang) möglichen Existenz des Übermenschen, der die Wiederkunftslehre leben kann“ (Skirl, Miguel, Ewige Wiederkunft, in: Ottmann, Henning (Hg.) Nietzsche Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, S. 226–227). Skirl verweist im Anschluss auf eine Textstelle im Nachlaß: „Nach der Aussicht auf den Übermenschen auf schauerliche Weise die Lehre der Wiederkunft: jetzt erträglich!“ (NL 1883, KSA 10, 15 [10], 482).

  223. 223.

    Dass der Gedanke der Wiederkunft einen Rückfall in einen eigentlich überwundenen metaphysischen Standpunkt markiere, formuliert Karl Löwith: „seine Lehre von der Wiederkunft [ist] doppeldeutig und widersinnig, ein Religionsersatz auf dem Standpunkt des Atheismus, als dessen entscheidenden Wendepunkt sich Nietzsche dennoch wußte“ (Löwith, Karl: Kierkegaard und Nietzsche oder philosophische und theologische Überwindung des Nihilismus, Frankfurt am Main 1933, S. 25).

  224. 224.

    Vgl. Za III, Der Genesende, KSA 4, 275.

  225. 225.

    Diese literarische Ausgestaltung einer Situation, in der intensives Glück und Leid zusammenfallen und gleichsam den Erlebenden aus der Realität entrücken, schildert gefährlich überwältigende Gefühle, die Nietzsche nicht fremd waren. In einem Brief schreibt Nietzsche an Köselitz: „An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehen habe […] Ich werde wohl einige Jahre noch leben müssen! Ach, Freund, mitunter läuft mir die Ahnung durch den Kopf, daß ich eigentlich ein höchst gefährliches Leben lebe, denn ich gehöre zu den Maschinen, welche zerspringen können! Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen […] Ich hatte jedesmal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zuviel geweint, und zwar nicht sentimentale Thränen, sondern Thränen des Jauchzens; wobei ich sang und Unsinn redete, erfüllt von einem neuen Blick, den ich vor allen Menschen voraus habe“ (N. an Heinrich Köselitz, 14. August 1881, KSB 6, Nr. 136, S. 112).

  226. 226.

    „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene“ (Za I, Von den drei Verwandlungen, KSA 4, 31). Dieses in gewisser Weise idealisierte Bild des Kindes geht weniger auf Beschreibungen dessen zurück, was Kinder tatsächlich sind oder wie sie die Welt sehen, als dass Nietzsche mit einer beliebten Metapher Heraklits spielt, in welcher die Zeit, die selbstvergessen zermalmt und neu schöpft mit einem Kind verglichen wird: „Das Aeon [das Weltzeitleben] – ein Kind [mit sich selber] brettspielend; des Kindes ist das Königreich!“ (Heraklit, Fragmente, Griechisch und Deutsch, übersetzt von Georg Burckhardt, Wiesbaden 1951, S. 37).

  227. 227.

    Durch Dagmar Kiesels Deutung dieser Metapher schwächt sich ihre ursprüngliche These vom Scheitern Zarathustras (S. 14) und der Fragmentierung seiner Persönlichkeit bis hin zum Selbstverlust (S. 13 und S. 20) erheblich ab: „Bezeichnend ist, dass die Tierarten […] einander nicht bekämpfen, sondern eine paradiesische Idylle repräsentieren: Das gegenseitige Ressentiment haben sie verloren. Besonders deutlich wird diese Ressentimentfreiheit (auch des Autors) an der Tatsache, dass beide Figuren nicht schwarz-weiß, sondern differenziert und vorurteilsfrei (also: redlich) gezeichnet werden: Die Tauben sind eben nicht weltmüde, asketisch und nihilistisch, sondern fröhlich und ihre Liebe zu Zarathustra ist weder eine verquere und maskierte Selbstliebe noch entwertet sie den Geliebten in seiner Bedürftigkeit. Und der Löwe demonstriert seine Stärke nicht als aggressives und destruktives Raubtier, sondern beteiligt sich liebevoll und ‚schüchtern‘ (wohl aufgrund seiner geringen caritativen Erfahrung) am gemeinsamen Projekt der Tröstung Zarathustras“ (Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, Würzburg 2015). Durch diese Szene werde die Einheit von Zarathustras Person wiederhergestellt. Konsequenter hinsichtlich ihrer (ursprünglichen) These wäre es gewesen, diese Vision als ein Wahngebilde Zarathustras zu begreifen, das er fortan nötig hat, um sich als ganze Person zu betrachten. Vor dieser harten Deutung schreckt Kiesel am Ende ihrer Abhandlung leider zurück.

  228. 228.

    Die christliche Symbolik wie die Taube, die Symbol des Heiligen Geistes ist, sowie die Idylle, die als Paradies voller „Zärtlichkeit und Frohlocken“ ausgemalt wird, können den Eindruck von Ironie verstärken. Und selbst wenn Nietzsche Zarathustra als rein siegreiche Gestalt imaginieren wollte, könnten wir trotzdem gegen Nietzsche diese Vision als wahngeprägtes, halluzinatorisches Erleben deuten, weil uns die Ausdeutung von Idylle nicht überzeugt. In diesem Sinn gilt, was Andreas Urs Sommer von den Lesern fordert, eine kritische Interpretation, die sich auch von Nietzsches (möglicherweise) gewünschter Deutung distanziert: „Die historische Person Nietzsche hat vielleicht von seiner Philosophie gedacht, sie sei ein in sich stimmiges Gefüge von Lehren, also etwas recht Traditionelles. Aber selbst wenn dem so wäre, könnten wir die Philosophie Nietzsches und das daran Bleibende heute ganz woanders suchen, als es die historische Person Nietzsches möglicherweise intendiert hat – nämlich genau da, wo es nicht aufgeht. Ob aus Berechnung oder aus Nachlässigkeit, kann uns egal sein“ (Sommer, Andreas Urs: Was bleibt von Nietzsches Philosophie?, Berlin 2018, S. 43). Ob sich mit dem Kapitel Das Zeichen Zarathustras Erwartungen erfüllen ist in der Forschung umstritten (vgl. dazu NK 4, KSA 4, Das Zeichen). Vgl. auch Joisten, Karen: Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, Dissertation, Würzburg 1994, S. 264, Zittel, Claus: ‚Nachtwandler des Tages‘: Traumpoetik und Parodie in Nietzsches Also sprach Zarathustra‘, in: Pelloni, Gabriella und Schiffermüller, Isolde (Hg.): Pathos, Parodie, Kryptomnesie: das Gedächnis der Literatur in Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, Heidelberg 2015, S. 116.

  229. 229.

    Vgl. MA I, Vorrede, 4, KSA 2, 18.

  230. 230.

    Das gehorchende Ohr, das den höheren Menschen fehlt, bezieht sich folglich nicht darauf, dass sie unwillig zu einer Art von Gehorsam wären. Sie sind nur allzu bereit, Zarathustra zu folgen und sich ihm zu unterwerfen. Damit aber hören sie aber gerade nicht auf ihre eigene innere Stimme, für die sie taub sind, sondern auf eine fremde.

  231. 231.

    Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass Nietzsche in der Frage, ob die höheren Menschen reale Personen sind, sich für eine gewisse Ambiguität entschieden hat. Da der Löwe in die Vision Zarathustras gehört, ist er kein realer Löwe und dennoch in der Lage, die höheren Menschen zu vertreiben. Das erscheint besonders dann plausibel, wenn all diese Gestalten nur fantastischer Natur sind und folglich aufeinander reagieren können. Dennoch ließe sich auch argumentieren, dass die höheren Menschen in ihrer sensitiven Art an Zarathustras Bildern Anteil nehmen können und für einen Moment alle von Zarathustras Vision betroffen sind.

  232. 232.

    Indem sich Zarathustra von den höheren Menschen abwendet, löst er sich von den Ketten seiner Vergangenheit. Es lohnt sich nicht, gescheiterte Versuche zu restaurieren oder zu reformieren, wenn es um eine gänzliche neue Zukunft gehen soll. Zarathustra verwirklicht, was Nietzsche sich von seiner Philosophie verspricht. So bemerkt Löwith: „Nietzsche sah die Zeit und ihre Weisheit nicht im restaurativen Rückblick auf ein ewiges Christentum, sondern im Vorblick auf eine künftige Welt, die er philosophisch bereiten wollte. Er dachte in Möglichkeiten, die nicht schon dagewesene nur wiederholen, sondern bisher Unmögliches wirklich werden lassen, nachdem ein wirkliches Christentum in unserer weltlich gewordenen Welt unmöglich geworden ist. Er wollte nicht konservierend in eine Vergangenheit zurück, so wenig wie er nur blindlings fortschreiten wollte, wenn er das Bestehende revidierte und es im Blick auf die Zukunft in seinen Fundamenten revolutionierte“ (Löwith, Karl: Kierkegaard und Nietzsche oder philosophische und theologische Überwindung des Nihilismus, S. 29–30).

  233. 233.

    Als Werk Zarathustras könnte man die Bereitschaffung des Bodens für den kommenden Übermenschen deuten. In einer Anmerkung Dagmar Kiesels zeigt sie, wie Zarathustras Lehre des Übermenschen auch als Erbschaft des Christenthums gedeutet werden und mit Augustinus Gedanken des „(uti) gebrauchen) und (fui) genießen“ in Verbindung gebracht werden kann (vgl. Kiesel, Dagmar: Selbstaufhebung der Person in Also sprach Zarathustra IV, S. 32 f.). Ganz im Sinne des Christentums „gehen die Liebe zum und die Sehnsucht nach dem Übermenschen mit Selbstverachtung, Selbstverschwendung und Selbstopfer bzw. dem Willen zum Selbstuntergang und zum Zu-Grunde-Gehen einher“ (ebd., S. 33).

  234. 234.

    In diesem Sinn hat, wie Reschke feststellt, die Pindar-Anleihe eine kulturkritische Perspektive: „In [der Notwendigkeit des Müssens] sind die Bedingungen kritisch eingelassen, die das Subjekt erst zu einem machen, das es nötig hat, sich jenseits der von der modernen Kultur bereit- und stillgestellten Werte zu behaupten, sich im und als Gegensatz zu ihnen aufzustellen. Den kulturellen Krankheiten der Moderne eine neue Gesundheit, eine Fähigkeit zur Gesundung als Alternative entgegenzusetzen, darin liegt die Bedeutung des Muss. Das Subjekt in der Moderne muss durch deren Krankheiten gegangen sein, heißen sie Einsamkeit, Melancholie, Schein, Oberflächlichkeit, muss sie bis zum Umschlag gelebt und erlitten haben, um sie als Voraussetzung zu begreifen, genau mit ihnen sich von ihnen zu befreien“ (Reschke, Renate: Schweigen unter schwarzen Zypressen und ‚Morgenröten‘. Friedrich Nietzsche über Lebenskunststrategien, S. 177).

  235. 235.

    Daher wäre es eine andere Frage, inwiefern das Leben von Gläubigen zu beurteilen wäre, wenn es diese Perspektive noch gäbe. Für Zarathustra ist Jesus eine zwiespältige Gestalt. Zwar scheitert sie seiner Meinung nach, aber sie hat einen ehrlichen Versuch gewagt, dem Leben Sinn zu verleihen. Zarathustra spricht, dass Jesus, wenn er länger gelebt hätte, seine Lehre widerrufen hätte (vgl. Za, I, Vom freien Tode, KSA 4, 95), weil diese Lehre und mögliche Lebensbejahungzueinander im Widerspruch stehen. Die Wahl sich hinrichtenzu lassen, die ein Urteil über den Wert des irdischen Lebens zu treffen scheint, besiegelt nach Zarathustras Meinung Jesus Scheitern (vgl. Fußnote 500).

  236. 236.

    Wenn auch die Frage nach der Möglichkeit radikaler Lebensbejahung unter der Prämisse eines allgemeingültigen Glaubens im Zarathustra weniger präsent ist, so ist dennoch klar, dass der christliche Gott wohl eher schlecht abschneiden würde wegen der christlichen Abwertung des irdischen Lebens. Andere Götter wären indes durchaus denkbar: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“ (Za I, Vom Lesen und Schreiben, KSA 4, 49). Vgl. auch NL 1884, 25 [270], 82: „I Grundsatz: es giebt keinen Gott. Er ist so gut widerlegt, als irgend ein Ding. Man muß ins ‚Unbegreifliche‘ flüchten um seine These durchzusetzen. Folglich ist es von jetzt ab Lüge oder Schwäche, an Gott zu glauben.“

  237. 237.

    Dennoch muss man gerechterweise bemerken, dass ein Unterschied besteht, ob man sein eigenes Leben als gescheitert ansieht (wie die höheren Menschen), oder ob andere Menschen ein Leben als gescheitert ansehen (wie Zarathustra das der letzten Menschen). Denn die letzten Menschen behaupten für sich selbst: „‚Wir haben das Glück erfunden‘“. Zwischen den letzten Menschen und Zarathustra klafft ein unüberbrückbarer Spalt: Wenn alle Entscheidungen letztlich auf das Individuum zurückfallen, gibt es kein allgemeingültiges Argument, warum ein Entwurf wie der zarathustrische, die letzten Menschen überzeugen sollte, wenn dessen Begriffe, wie „Schöpfung“, „Stern“, „Liebe“ und „Sehnsucht“ bei ihnen auf keinen Widerhall treffen, weil sie den Verlust davon nicht schmerzlich empfinden. Tatsächlich könnten die letzten Menschen leugnen, dass es sich dabei überhaupt um einen Verlust handle, vielleicht empfinden sie sich als weit aufgeklärter als Zarathustra, der ihnen selbst wie ein Anachronismus vorkommt, der von Idealen nicht loskommen kann, der wahnhaft an solche Ideen gebunden bleibt. Vielleicht würden sie erwidern, dass ein gelungenes Leben ein gleichmütiges sei, während jede Erfindung von „neuen Tafeln“ in der Selbstzerstörung ende.

  238. 238.

    Um das eigene Leben als Ganzes bejahen zu können, dazu ist eine Versöhnung mit der Vergangenheit nötig. Wer seine Vergangenheit, erlebtes Unrecht, selbstverschuldete Missstände und falsche Entscheidungen nicht als zugehörig zu seiner Entwicklung und seinem Versuch anerkannt, wird ein Gefangener der Vergangenheit. Im Zarathustra erinnert das Akzeptieren der Vergangenheit allerdings weniger an eine Versöhnung als an eine Gewalttat: „‚Es war‘: also heisst des Willens Zähneknirschen und einsamste Trübsal. Ohnmächtig gegen Das, was gethan ist – ist er allem Vergangenen ein böser Zuschauer. / Nicht zurück kann der Wille wollen; dass er die Zeit nicht brechen kann und der Zeit Begierde, – das ist des Willens einsamste Trübsal.[…] Alles ‚Es war‘ ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall – bis der schaffende Wille dazu sagt: ‚aber so wollte ich es!‘“ (Za II, Von der Erlösung, KSA 4, 179–180).

  239. 239.

    Die Möglichkeit der höheren Menschen, den Gedanken der Wiederkunft zeitweilig zu bejahen, kann als Beweis ihrer Größe gelten. Den höheren Menschen als jeweilige Typen des Wissenschaftlers, Dichters, Atheisten etc. räumt Nietzsche auf experimentelle Art die (zeitweilige) Möglichkeit solcher Bejahung ein, indem er selbst ihre Begegnung mit Zarathustra fingiert. Kann er, Nietzsche, ihnen die Bejahung zugestehen oder müssen diese Figuren aufgrund ihrer eigenen logischen Konsistenz scheitern? Insofern gilt auf der Ebene des Gedankens, was Nietzsche in einem Notat von 1884 festhält: „Zeitalter der Versuche. Ich mache die große Probe: wer hält den Gedanken der ewigen Wiederkunft aus? – Wer zu vernichten ist mit dem Satz ‚es giebt keine Erlösung‘, der soll aussterben“ (NL, 1884, KSA 11, 25 [290], 85).

  240. 240.

    Der jubelnde Erlösungston in einigen Nietzscheinterpretationen könnte durch diese Einschränkung etwas reduziert werden. Zum Erlösungston, vgl. Zweig, Stefan: Baumeister der Welt. Balzac. Dickens. Dostojewski. Hölderlin. Kleist. Nietzsche. Casanova. Stendhal. Tolstoi, Frankfurt am Main 1951, S. 312: „Und von diesem Augenblick an, wo sein Geist kein Mitleid mehr mit dem Körper hat, kein Mit-Leiden mit seinem Leiden, sieht er zum erstenmal sein Leben in einer neuen Perspektive, seine Krankheit in tieferem Sinn. Mit ausgebreiteten Armen nimmt er sie in sein Schicksal wissend hinein als ein Notwendiges, und da er als der fanatische ‚Fürsprecher des Lebens‘ alles an seiner Existenz liebt, so sagt er auch zu seinem Leiden jenes hymnische Ja Zarathustras, jenes jubelnde ‚Noch einmal! Noch einmal in alle Ewigkeit!‘ Aus dem bloßen Anerkennen wird ein Erkennen, aus dem Erkennen eine Dankbarkeit. Denn aus dieser höheren Schau, die den Blick weghebt vom eigenen Leiden entdeckt er […], daß er keiner Macht der Erde so sehr verbunden und verschuldet ist wie seiner Krankheit, daß er gerade dem grimmigsten Folterknecht sein Höchstes dankt: die Freiheit.“

  241. 241.

    Entsprechend zu der markanten Stelle der Vorrede von FW („Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, – wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss in uns haben. Leben – das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln“ (FW Vorrede 3, KSA 3, 349 f.) findet sich im Za folgendes: „Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode. Also rede ich zu euch Feiglingen! / Aber nun will euer entmanntes Schielen ‚Beschaulichkeit‘ heissen! Und was mit feigen Augen sich tasten lässt, soll ‚schön‘ getauft werden! Oh, ihr Beschmutzer edler Namen! / Aber das soll euer Fluch sein, ihr Unbefleckten, ihr Rein-Erkennenden, dass ihr nie gebären werdet: und wenn ihr auch breit und trächtig am Horizonte liegt! / […] Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere. / Und diess heisst mir Erkenntniss: alles Tiefe soll hinauf – zu meiner Höhe!“ (Za II, Von der unbefleckten Erkenntniss, KSA 3, 157 und 159). Vgl. auch Abschnitt 4.5.

  242. 242.

    „‚Bei meiner Ehre, Freund, antwortete Zarathustra, das giebt es Alles nicht, wovon du sprichst: es giebt keinen Teufel und keine Hölle. Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib: fürchte nun Nichts mehr!‘ […] ‚Nicht doch, sprach Zarathustra; du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist Nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zu Grunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben‘“ (Za I, Vorrede 6, KSA 4, 22).

  243. 243.

    In der Forschung findet dieses Kapitel als erfüllende Glückserfahrung, die Zarathustras sonstigem Taten- bzw. Gedankendrang konträr gegenübersteht, Beachtung: „Die Erfahrung der Aufhebung von Zeit, die mit der Beschwörung völliger Stille einhergeht, wird von Zarathustra als Moment der Vollkommenheit […] gefasst und als ekstatischer Zustand höchsten Glücks apostrophiert: […] Für diesen einen Moment scheint Zarathustra nach keinerlei Veränderung zu streben und ganz in sich zu ruhen. Während er sonst die Fort- und Höherentwicklung des Menschen propagiert und das Ungenügen zum positiven Impuls des Daseins deklariert, scheint er in ‚Mittags‘ ganz im Moment aufzugehen“ (NK 4, KSA 4, Mittags). Dass diese Glückserfahrung nicht ungetrübt ist, stellt Grätz heraus: Sei es, dass Zarathustra sich gegen den Schlaf sträubt und lieber tätig wäre bis er dem Schlafbedürfnis unterliegt, sei es, dass melancholische Zwischentöne das reine Glück unterminieren. Zu unterschiedlichen Einschätzungen der Nietzscheforschung über diese Glückserfahrung siehe ebenfalls NK 4, KSA 4, Mittags.

  244. 244.

    Zuletzt ringt sich Zarathustra durch einen Willensakt aus dem Schlaf empor. Zum Primat des Schöpferischen gegenüber dem Glück, siehe auch Himmelmann, Beatrix: Glück, Wille und Macht bei Kant und Nietzsche, in: Mortzfeld, Benjamin: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019, S. 94–98.

  245. 245.

    Wir könnten natürlich versuchen zu unterscheiden, und das schale Glück der letzten Menschen als Zufriedenheit bezeichnen und Glück als Form totaler Erfüllung. Die totale Erfüllung kann nur das „leidenschaftliche Herz“ erringen und wer leidenschaftlich lieben kann, kann auch leidenschaftlich hassen, leidenschaftlich leiden und sich sehnen. Die höheren Menschen sind ihren Leidenschaften nachgegangen, im Gegensatz zu den letzten Menschen und auch wenn die höheren Menschen das Glück nur selten kennen, so ist der Verlust von Zufriedenheit doch nicht ein allzu hoher Preis. Aber so einfach kann diese Unterscheidung nicht getroffen werden; der erfüllte Moment „Mittags“ erscheint jenseits purer Leidenschaft viel eher als Moment einkehrenden Friedens und der Versöhnung. Der Begriff des Glückes bleibt im Zarathustra polymorph.

  246. 246.

    Beachtenswert dazu auch ein Kommentar von Ernst Bertram, der Erbe und Gefährlichkeit miteinander in Verbindung setzt: „Wohl weiß daneben Zarathustra, daß es gefährlich ist, Erbe zu sein. Aber Gefahr adelt ja für ihn, Gefahr legitimiert, beweist, bezeugt Wert, Gefahr ist Wert. Die Gefahr der Erbschaft, das eben ist für Nietzsche nur das Glück, die Auszeichnung der Erbschaft“ (Bertram, Ernst: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1929, S. 23).

  247. 247.

    Das Subjekt, das seiner eigenen Logik folgt, entspricht, wie Reschke schlussfolgert, mehr einer Müssens-Ethik, die ihm allerdings ermöglicht, „nicht zum Spielball oder Vollstrecker außer ihm formulierter und determinierter Lebensvorsätze [zu geraten]. Bereits Nietzsche stellte ihm anheim, seinem Leben jene Form zu geben, deren Konturen nur er zu bestimmen hat. Dass dies ein problematisches Fürsprechen für das Subjekt ist, denn auch dem Scheitern ist damit eine Chance gegeben, steht nicht nur außer Frage. Um in einem Bild Baudelaires zu bleiben: Nach Morgenröten kann auch eine Sonne aufgehen, deren Schwarz zum Untergang führt […]. Die Freiheit der eigenen Negation gehört zum Risiko des Subjekts in der Moderne“ (Reschke, Renate: Schweigen unter schwarzen Zypressen und ‚Morgenröten‘. Friedrich Nietzsche über Lebenskunststrategien, S. 177 f.).

  248. 248.

    Vgl. Za I, Vom neuen Götzen, KSA 4, 61–64. Za I, Von den Fliegen des Marktes, KSA 4, 65–68 / Za II, Vom Gesindel, KSA 4, 124–127.

  249. 249.

    In seinen Entwürfen zum IV. Teil lehnt Nietzsche eine solche Option für Zarathustra allerdings ab: „kein Geheimbund! Die Folgen meiner Lehre müssen fürchterlich wüthen: aber es sollen an ihr Unzählige zu Grunde gehen“ (NL 1884, KSA 11, 25 [305], 88).

  250. 250.

    Es gibt es in Za IV Anspielungen auf ein kommendes zarathustrisches Reich, das allerdings nicht näher bestimmt wird. Grätz schreibt: „Dem Thema der Herrschaft kommt bereits im ‚Honig-Opfer‘ eine wichtige Rolle zu, wenn Zarathustra dort seinen ‚grosse[n] Hazar‘ [Za IV, Das Honig-Opfer, KSA 4, 298], das ‚Zarathustra-Reich von tausend Jahren‘ [ebd.] prophezeit“ (NK 4, KSA 4, Gespräch mit den Königen).

  251. 251.

    Dass Zarathustra zum Auslöser eines solchen Umsturzes werden könnte, zog Nietzsche zeitweilig in Erwägung: „Unwille, Klage – bis zum Attentat. Zarathustra lacht, ist glücklich, denn er bringt die große Krisis“ (NL 1884, KSA 11, 25 [322], 88).

  252. 252.

    Die nietzschesche Philosophie mit ihrem Aufruf zum Gefährlich-Leben ist gleich doppelt elitär. Einmal ist die Zahl derjenigen, die es wagen, gefährlich zu leben, nur gering. Diese sind also bereits aus der Masse der ‚Normalen‘ herausgehoben. Zum anderen ist sie auch elitär in der Hinsicht, als ihre Anhänger keinerlei Verpflichtung anerkennen, der Gesellschaft zu dienen. Die einzelnen Menschen, die den Übermenschen anstreben, sind vielmehr die Gipfel der bisherigen Menschheit und damit ist es ihnen erlaubt, von der Gesellschaft zu nehmen, ohne ihr selbst verpflichtet zu sein.

  253. 253.

    Unentschieden war Nietzsche zunächst, ob er Zarathustra würdige Mitstreiter und Nachfolger gönnen würde. Zunächst einmal sollten es die Gescheiterten sein, die ihn aufsuchen: „Der Berg zuletzt umdampft von Trübsal und Noth alle Arten Unmögliche flüchten zu ihm – ein Herr von Narren um mich!“ (NL 1884, KSA 11, 25 [306], 89). Dann wiederrum sollten zumindest die Stärkeren ihm zur Gesellschaft bleiben: „die Weltmüden ziehn davon, die Schaar wird kleiner. Ihr theilt er seine Lehre mit, um zum Übermenschen den Weg zu finden und doch guter Dinge zu sein“ (NL 1884, KSA 11, 25 [322], 88).

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Schulte, N. (2023). Die höheren Menschen als Protoentwürfe eines gefährlichen Lebens. In: Gefährlich Leben - Gefährlich Denken. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67331-7_5

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