9.1 Überblick über das Kapitel

Im ersten Teil dieses Kapitels gehen wir auf die Konsequenzen der hyperbolischen phänomenologischen Epoché für die „Welt“ ein, die dem Leib die Leiblichkeit erschließt. Im zweiten Teil klärt unsere Untersuchung diese weiter auf und verteidigt die These, dass sowohl der Zugang zur Welt anhand der Leiblichkeit als auch die Erlebnisse einzelner Leiber nichts anderes sind, als „Sinneröffnung“, die sich bei Richir in drei Dimensionen („das Sprachliche“ oder le langage, „das Sprachsystem“ oder la langue, „das Jenseits des Sprachlichen“ oder le hors langage) und auf unterschiedlichen Sinnschichten bewegt. Damit wird auch bei der Sinnhaftigkeit das Phänomenologische, das Symbolische und die absolute Transzendenz sichtbar. Im dritten Teil machen wir sichtbar, dass Richirs Leibthematik über die Phänomenologie hinaus auch in aktuelle Debatten über den Status des Selbst in der Neuroethik, Kognitionswissenschaft, oder sogar der Biologie usw. eine starke Intuition einbringen kann. Außerdem werfen wir eine problematische Frage auf, die sich aus Richirs paradoxem Verständnis des Leibes als etwas „Asubjektivem“ ergibt.

9.1.1 Einleitung

In diesem letzten Kapitel unserer Arbeit geht es um die Sammlung und Verteidigung aller zentralen Bestimmungsthesen unserer Arbeit. Mit „Sammeln“ meinen wir, dass es die Ergebnisse der einzelnen Kapitel zu einem zentralen Thema zusammenführt: der Sinneröffnung (dem Sprachlichen, dem Sprachphänomen). Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, müssen wir zunächst die Relevanz der hyperbolischen phänomenologischen Epoché für das Verständnis des Sprachphänomens skizzieren. Das Kapitel wird in drei Hauptteile unterteilt:

Wenn wir uns im ersten Teil des Kapitels mit der hyperbolischen phänomenologischen EpochéFootnote 1 beschäftigen, dann nicht nur weil sie uns hilft, Richirs phänomenologisches Werk methodologisch als Ganzes zu betrachten, sondern weil sie auch Konsequenzen für unsere Thematik der Phänomenologie des Leibes und der Leiblichkeit hat. Doch inwiefern ist dies der Fall? Wir hatten diese beiden Begriffe jeweils im Hinblick auf die Subjektivität und die Welterschließung schon in der Einleitung angedeutet. Was hat diese hyperbolische phänomenologische Epoché also mit Subjektivität und Welterschließung zu tun? Wir verteidigen die folgende These: Die hyperbolische phänomenologische Epoché hat erstens eine Konsequenz für die „Welt“, die dem Leib die Leiblichkeit erschließt. Diese „Welt“ besteht nicht mehr aus Erscheinungen von diesem oder von jenem Erscheinenden. Vielmehr besteht sie aus dem Schweben des Scheins. Im zweiten Teil des Kapitels werden wir verstehen, dass diese „Welt“ nur in Hinblick auf die Sinnbildung verstanden werden kann. Und zweitens hat die hyperbolische phänomenologische Epoché nicht nur Konsequenzen für die „Welt“, die die Leiblichkeit erschließt, sondern auch für den Leib (oder besser ausgedrückt, für das leibliche Selbst). Diese Epoché schließt durch die phänomenologische Schwingung (Reflexivität), die in ihr verankert ist aus, dass der Leib sich etabliert. Eine andere, dritte Folge dieser Epoché besteht darin, dass sie es vermag, die Illusion des ontologischen Simulacrums aufzudecken. Somit werden die „Welt“ und der Leib vor Täuschung bewahrt, auch wenn sie ständig von der transzendentalen Illusion des ontologischen Simulacrums begleitet sind.

Im zweiten Teil deckt unsere Untersuchung dies auf und verteidigt die These, dass sowohl der Zugang zur Welt anhand der Leiblichkeit als auch die Erlebnisse einzelner Leiber nichts Anderes sind, als „Sinneröffnung“. Dieser Sinn bewegt sich bei Richir in drei Dimensionen („das Sprachliche“ oder le langage, „das Sprachsystem“ oder la langue, „das Jenseits des Sprachlichen“ oder le hors langage) und auf unterschiedlichen Sinnschichten. Anhand dieses Bauwerks der Sinnbildung vermag Richir es, sich von der logisch-eidetischen Stiftung des Sprachlichen (im Strukturalismus, im Idealismus Platons und der Neuplatoniker, und später auch bei Husserl) zu distanzieren und somit seine eigene originelle Phänomenologie des Sprachlichen zu entwickeln. Wir sind der Meinung, dass der Leib und die Leiblichkeit dadurch einen Überschuss der Erfahrung aufweisen, dass sie unterschiedliche Schichten der Sinnbewegung artikulieren. Die erste Sinnbewegung bezieht sich auf die Artikulation zwischen dem Sprachlichen und dem Nichtsprachlichen oder dem Jenseits des Sprachlichen, sodass sich die Reflexivität des Sprachlichen mit einem Ipse in der Reflexivität des Jenseits des Sprachlichen ohne ein Ipse verwickelt. Wir argumentieren, dass diese Reflexivität für die Sinnbildung vorteilhafte Gründe hat. Außerdem sind wir der Meinung, dass Richirs Jenseits des Sprachlichen eine Herausforderung für die Theorie der Transparenz des Bewusstseins in der analytischen Philosophie darstellt, da das Jenseits des Sprachlichen das artikuliert, was dem Bewusstsein entgeht. Das Jenseits des Sprachlichen bezieht sich über einen Abstand auf das Bewusstsein. Eine andere, zweite Sinnbewegung (im Zickzack) besteht zwischen dem Sprachlichen und dem Symbolischen. Das erste verweist auf die Sinnbildung, während das zweite auf die Sinnstiftung verweist. Das erste deutet auf eine Pluralität von Welten und das zweite auf eine Singularität der Welt hin. Für uns hat diese Bewegung einen Vorteil: wir haben nun mannigfaltige mögliche Zugänge nicht nur für die phänomenologische Analyse, sondern auch für eine phänomenologische Sinnbildung. Unserer Meinung nach kann die Phänomenologie dieser Art von Spannung und Reflexivität zwischen den beiden Dimensionen nicht entkommen, denn darin liegt ihre Lebendigkeit. Bei jeder Bewegung oder Reflexivität sind der Leib und die Leiblichkeit immer beteiligt. Die Bewegungen des Sinns zwischen dem Sprachlichen (Immanenz) und dem Jenseits des Sprachlichen (Transzendenz) sowie zwischen dem Sprachlichen (Phänomenologischen) und dem Sprachsystem (Symbolischen) sind für uns Beweise dafür, dass Richirs Phänomenologie als ein dualistisches Denken bezeichnet werden kann.

Im anschließenden dritten Teil haben wir nur ein Ziel: Wir machen sichtbar, dass Richirs Leibthematik über die Phänomenologie hinaus auch in aktuelle Debatten über den Status des Selbst in der Neuroethik, Kognitionswissenschaft, oder sogar der Biologie usw. eine starke Intuition einbringen kann. Eine dieser Debatten interessiert uns besonders. Es geht dabei um den Streit, ob das leibliche Selbst wesentlich minimal ist – dieser Begriff wird später erläutert –, sodass die Interaktivität nur eine sekundäre Rolle spielt oder ob es wesentlich interaktiv ist, ohne das Selbst nur auf einen sozialen Individualismus zu reduzieren. Wir zeigen, dass Richirs Phänomenologie des Leibes mit einigen Modifikationen beides, also sowohl minimal als auch interaktiv sein kann. Darüber hinaus werden wir auf eine paradoxe Schwierigkeit in Richirs Verständnis von Leib als einem „asubjektivem“ hinweisen. Dieser Schwierigkeit entspricht die Frage: Ist der persönliche Leib, der mir gehört, nicht das, was mir ursprünglich als inniges „Ich“ zuzurechnen ist?

9.2 Die hyperbolische Epoché und deren Konsequenzen für die Leiblichkeit und den Leib

Zunächst möchten wir einige wichtige Teile unserer Arbeit aus den verschiedenen Kapiteln grob zusammenfassen. Der Grund hierfür ist, dass wir davon überzeugt sind, dass es einen speziellen roten Faden gibt der sich durch die gesamte Arbeit zieht. Dieser spezielle rote Faden wird uns helfen, Richirs Phänomenologie, aber besonders auch unsere These über die Leiblichkeit und den Leib im Hinblick auf die Sinnbildung als Ganzes zu betrachten. Bevor wir dazu kommen, geben wir jedoch zunächst einen Überblick über die verschiedenen Untersuchungsgegenstände, die wir in dieser Arbeit bearbeitet haben:

Im Kapitel über die Chora haben wir schon angekündigt, dass sowohl der Leib (Subjekt) als auch das Reale (Objekt) dem Griff der Doxa (Stellungnahme) entgeht. In einem anderen Kapitel über die Wahrnehmungsobjekte ging es darum, zu zeigen, wie die Unbestimmtheit von Weltobjekten von einer unendlich potentiellen Pluralität von anderen Blicken abhängt. Im dritten Kapitel hatten wir unter anderem die These der Anonymität des leiblichen Selbst verteidigt. Im vierten Kapitel haben wir unterschiedliche Bezüglichkeiten des Leibes zur Welt herausgestellt, die man als Intentionalität, Passivitiät, Bildlichkeit und Prä-Reflexivität zusammenfassen kann. In einer starken Auseinandersetzung mit solchen leiblichen Bezüglichkeiten zur Welt führt Richir den Begriff der aktiven, nichtspiegelnden Mimesis von innen ein, wodurch ein Bezug zur Welt in der Phantasia ermöglicht wird. Im fünften Kapitel über das Erhabene haben wir Richirs Begriff der phänomenologischen Schwingung eingeführt, um sowohl die These des Dualismus bei Richir, als auch eine frühere These der Anonymität des Selbst und des Sinns zu verteidigen. Im sechsten Kapitel über die Rolle der Leiblichkeit in der Kunst wurde gezeigt, wie anhand der „perzeptiven“ Phantasia die Welt der Objekte (der Dinglichkeit) neutralisiert wird, sodass nur eine Sachlichkeit zwischen einer Figurierbarkeit und einer Nichtdarstellbarkeit (Nichtfigurierbarkeit) der Phantasia zugänglich wird. Im siebten Kapitel über den affektiven Bezug zur Welt haben wir nicht nur herausgearbeitet, wie das Selbst (Dasein bei Heidegger) als emotionale Färbung mittels der Affekte in seiner Welt möglich ist, sondern auch anhand der Affektionen gezeigt, wie die Welt im Selbst (Dasein bei Heidegger) sein könnte, ohne dass aber dieses Sein im Letzteren in eine Ontologie verfällt.

Die Frage, mit der wir uns jetzt konfrontiert sehen, ist, was denn nun dieser spezielle rote Faden ist, der nicht nur unsere Ausführung in dieser Arbeit, sondern auch das große Konstrukt von Richirs Phänomenologie zusammenhält? Wir sind der Meinung, dass diese Frage uns zu einer anderen Frage führt, nämlich: worin besteht Richirs phänomenologische Methode? Denn nur diese Methode kann Rechenschaft darüber geben, warum bei ihm z. B. sowohl der Leib als auch das Reale der Doxa entgeht (Kap. 2); oder warum die Unbestimmtheit von Weltobjekten von einer unendlich potentiellen Pluralität von anderen Blicken (Leiblichkeit, Phantasia) abhängt (Kap. 3); oder warum das Selbst sich als Unmöglichkeit – also das, was vor und nicht in oder hinter dem Bewusstsein liegt, d. h., was ihm ausweicht und was es nicht zu erfassen vermag – erweist (Kap. 4); oder warum der leibliche Bezug zur Welt nicht durch eine bildliche, passive (Husserl), präreflexiv motorische (Merleau-Ponty), intentionale, sondern aktive, nichtspiegelnde Mimesis von innen (Richir) stattfindet (Kap. 5); oder warum die natürliche Einstellung überwunden werden könnte, damit die Begegnung überhaupt möglich ist, damit sich das Symbolische und das Phänomenologische in der Erfahrung begegnen können (Kap. 6); oder warum die Körperlichkeit (das Ding) eines Kunstwerkes neutralisiert wird, sodass das „Unfigurierbare“ „perzipiert“ wird (Kap. 7); oder warum die Schwingung der Leiblichkeit das Sein relativiert, die Ontologie Heideggers in Klammern setzt, und die Affektionen nicht mit sich selbst übereinstimmt, sondern durch einen Abstand durchdrungen ist (Kap. 8) und so weiter. Der rote Faden ist nichts anderes als die hyperbolische phänomenologische Epoché. Mit dieser Methode vermag es Richir, Husserls phänomenologische Epoché zu vertiefen, um die Phänomenologie desselben zu radikalisieren und neu zu gründen. Wenn wir vom Radikalisieren sprechen, dann soll dies buchstäblich in Bezug auf die ursprüngliche Bedeutung von „radikal“ verstanden werden. Dieses Wort stammt aus dem Lateinischen „radicalis“ (radix, radic-) und bedeutet soviel wie „von der Wurzel her“. Richir will also die Phänomenologie Husserls von ihrer methodischen Wurzel her neu gründen.

Um diese neue Methode systematischer darstellen zu können, fangen wir zunächst mit der Folge von Husserls Version der phänomenologischen Epoché für Richir an. Diese Folge kann aus zwei Blickwinkeln zusammengefasst oder verstanden werden.

In erster Linie zielte Husserls Epoché darauf ab, die natürliche Einstellung zu überwinden. Wenn also die blinde Positivität von Objekten und die ungeprüfte Verwicklung mit unterschiedlichen Arten von DoxaFootnote 2 aufgehoben werden, so haben wir eine reduzierte Form von 1) dem, was auf die Objekte als solche abzielt (noesis) und 2) der Idee des Seins und Soseins, die das Ziel erfasst (noema). Was wir also in dieser Instanz haben, ist eine komplexe Struktur von intentionalen Verhältnissen zwischen einer Ausrichtung (visée) auf ein Objekt und dem Ziel dieser Ausrichtung (visé), das gerade das Objekt umfasst. In dieser reduzierten Struktur der Intentionalität ist Erfahrung immer Erfahrung von etwas – von etwas in seinem Seinssinn (sens d’être) und mit seinem Sinn des Soseins (sens d’être ainsi). Mit anderen Worten, die intentionalle Struktur impliziert eine Stellungnahme für die verschiedenen Arten von Doxa – Wahrnehmung, Erinnerung, Denken –, sogar für die Phantasia. In Bezug auf diese letzte zeigt Richirs Auseinandersetzung mit Husserls Begriff der Phantasia, dass dessen Analyse von Phantasie die Phantasia (Richir) durch Hinzufügen des Imaginären zum Phantastischen verformt. Die Verformung erfolgt durch Hinzufügen der Struktur der Intentionalität zum Phantastischen. Hier wird die Struktur der Intentionalität impliziert, deren Modell das der Wahrnehmung ist, wie sich diese z. B. in der Analyse des inneren Zeitbewusstseins zeigt. Aus diesem Grund stellte Richir eine beunruhigende Frage, die in etwa lautet: Wo wird die Epoché in den Husserl’schen Analysen (der Phantasia) wirklich durchgeführt, wenn sie immer noch von der Zweideutigkeit einer Quasi-Wahrnehmung belagert ist? Das heißt, dass die Epoché vertieft umgesetzt werden soll, indem sie die intentionale Struktur freilegt, wodurch die Stiftung der perzeptiven Apperzeption ihren mächtigen Abdruck hinterlässt. Diese Freilegung gilt für alle Arten von intentionalen Stellungnahmen, inklusive der in der Phantasia. In einem früheren Kapitel haben wir diesen mächtigen Abdruck in Bezug auf ontologische Simulacra verstanden. Wir werden noch einmal zu diesem Begriff des ontologischen Simulacrums kommen. Davor soll jedoch noch die – laut Richir – zweite Folge der Husserl’schen Epoché vorgestellt werden.

Man könnte fragen, was in einer zweiten Instanz nach der Durchführung der Epoché übrigbleibt. Die Epoché enthüllt nichts anderes als die Gefangenschaft des Erlebten in der Subjektivität; d. h. sie enthüllt die Selbstverlorenheit oder Selbstvergessenheit des Bewusstseins in dem, was dasselbe erfasst. Um dies genauer auszudrücken, wird die Selbstbeteiligung des Selbst bestätigt, das seinerseits die Epoché durchführt. Dieses Selbst ist aktiv an dem beteiligt, worauf es zugreifen kann, womit es in einem Verhältnis steht. Es ist also ein transzendentales Ich, das sich hinter dem mondänen Ich der Weltdinge befindet.Footnote 3 Die Durchführung der Epoché bei Husserl erfolgt laut Richir auch zeitlich (in einem Zeitpunkt) und dies impliziert auch einen Bezug zu einem subjektiven Bewusstsein: Denn „zeitlich“ verweist hier auf einen ständigen Ablauf der lebendigen Gegenwart, die mit der Retention und der Protention – die Beschreibung passt am besten zur Stiftung der perzeptiven Apperzeption, wie wir es in einem früheren Kapitel über die Wahrnehmungsobjekten behandelt haben – versehen ist. Eben in diesem ständigen Ablauf erfolgt die Erfahrung (l’expérience). Husserls phänomenologische Epoché besteht darin, diesen kontinuierlichen Erfahrungsfluss nur eine Weile auszusetzen. Die Epoché befindet sich also nicht nur in der Gegenwart, sondern das Subjekt beherrscht auch die Durchführung der Epoché. Der Vorgang hat zur Folge, dass die Selbstverlorenheit des transzendentalen Selbst mit der Aussetzung des ständigen Erfahrungsflusses wiederholt wird. Mit anderen Worten, das Subjekt geht nicht durch die Epoché verloren, sondern ist gerade bei (oder im Zeitpunkt) der Durchführung aktiv beteiligt.

So wird das, was nach der Epoché übrigbleibt, in direktem Zusammenhang mit einem aktiven Subjekt verstanden – uns ist also das Erlebnis in der Sphäre der cogitatio immanent gegeben. Genau in diesem Zusammenhang kann Richirs Kritik an Husserl in Méditations phénoménologiques verstanden werden: die Immanenz der Erlebnisse zu sich selbst impliziert ihre Gefangenschaft in der SubjektivitätFootnote 4 und damit auch in der Gegenwart. Das Problem in dieser zweiten Instanz ist nämlich, dass das Erlebnis (vécu) sich selbst in der Transparenz der cogitatio erscheint. Wie wir im zweiten Teil sehen werden, hat diese Idee die Theorie der Transzparenz des Bewusstseins in der analytischen Philosophie des Geistes beinflusst. Das Erlebnis wird da in der Subjektivität gefangen; man könnte bei Erlebnis von dem Gehalt der intentionalen Struktur sprechen, womit das Erlebnis in seiner Selbsterscheinung (auto-apparition) gegeben ist; dies kann man leicht mit dem Begriff „Phänomen“ übersetzen . Es ist sich selbst bewusst und wird durch seine Selbsterscheinung gegeben. In dieser Selbsterscheinung – im Selbstbewusstsein des Erlebnisgehalts – ist das transzendentale Bewusstsein vergleichbar mit einem ontologischen Simulacrum (wir werden noch dazu kommen).

Damit all diese Schwierigkeiten überwunden werden können, muss die Phänomenologie Husserls von ihrer methodischen Wurzel her vertieft gegründet werden. Hier wendet sich Richir, während er sich ein wenig von Husserl distanziert, Descartes hyperbolischem Zweifel als Modell für die methodische Aussetzung (Aufhebung) aller Formen von Bestimmungen und Positivitäten zu, sei es in den intentionalen Strukturen oder auf der Seite der Gegebenheit (Gefangenschaft) der Erlebnisse in der Subjektivität. Aber worin besteht dieser cartesianische hyperbolische Zweifel? Und was ist seine Leistung bezüglich der neuen Epoché – diese Epoché leitet ihren Namen vom cartesianischen hyperbolischen Zweifel ab und wird von Richir als hyperbolische phänomenologische Epoché benannt – die Richir nun fördert?

Wir sehen, dass die erste dieser Fragen beantwortet werden muss, wenn wir Rechenschaft über die zweite ablegen wollen. Denn es sieht so aus, als müssen wir auf die Unterscheidung achten, die Decartes zwischen dem Cogito und der Basis des Wissens getroffen hat, wenn wir nicht auf die Inhaftierung der Phänomene in der Subjektivität hereinfallen wollen, wie es bei Husserl der Fall ist. Die Basis der Wissenschaft ist dann aber dieser Zweifel, der hyperbolisch (in Überschuss) werden muss. Es ist der hyperbolische Zweifel, der hilft, die Intrige des Genii Magni (bösen Geistes – dieser trägt den Namen „Genius Magnus“) zu vereiteln und die Wissenschaft zu sichern. Es ist dieser Zweifel, der das Cogito absichert, insofern dies impliziert, dass das Cogito ein Denken (von etwas) – „pensé quelque chose“ – anzeigt. Richir verstand dieses „Denken von etwas“ jedoch im Hinblick auf seine phänomenologische Undeutlichkeit und Unbestimmtheit. Es besteht also im hyperbolischen Zweifel einerseits die Zusicherung, dass ich etwas denke. Aber es gibt auf der anderen Seite einen Zweifel (eine Unbestimmtheit) darüber, was dieses etwas sein kann. Oder besser gesagt, es besteht kein Zweifel an einem sum, soweit ich denke, während ich nichts über den Inhalt dieser Gedanken weiß: Die Unbestimmtheit des Inhalts von Denken und Sein ist die Folge dieses hyperbolischen Zweifels.

Mit dieser Darstellung sind wir nun in der Lage, von Richirs hyperbolischer phänomenologischer Epoché zu sprechen. Aus dem hyperbolischen Zweifel folgt, dass eine hyperbolische phänomenologische Epoché die Faktizität des Seins und des Denkens nicht als selbstverständlich hinnehmen soll. Diese hyperbolische phänomenologische Epoché betrachtet auch die Bestimmung des Gedankeninhalts nicht als selbstverständlich. Man sieht daran schon, dass sich diese neue Epoché nicht nur von der Epoché Husserls distanziert, sondern auch danach strebt, sich von der Faktizität des Selbst zu distanzieren. Während die Epoché in der ersten Instanz darin besteht, die unterschiedlichen Arten von Doxa und ihrer Darstellung durch die ihnen entsprechenden Objekte auszusetzen, damit ihre Strukturen analysiert werden können, besteht die hyperbolische phänomenologische Epoché Richirs darin, diese intentionalen Strukturen selbst von Doxa anhand der Erscheinungen (apparitions) und der Erscheinenden (apparaissants) auszusetzen, um die Art von Stiftung aufzuzeigen, die ihnen zukommt und um das Phänomen und nichts als das Phänomen zugänglich zu machen.Footnote 5 Richirs Anliegen, Husserls Phänomenologie neu zu gründen und die Folge der phänomenologischen Epoché derselben zu radikalisieren, besteht also in der Infragestellung der Intentionalität und des intentionalen Gehalts des Erlebten. Im Hinblick auf die Konsequenz der hyperbolischen phänomenologischen Epoché für die zweite Instanz behauptet Richir, dass sowie die Epoché (die Aussetzung) der Tatsache (factualité) es Husserl ermöglicht hat, den Sinn in seiner Inhaftierung in den Tatsachen (les faits) zu befreien, so ermöglicht die Aussetzung der Faktizität (Ontologie) bei der neuen Epoché, eine andere Dimension des Sinns von ihrer Inhaftierung in der Faktizität des Selbst zu befreien.Footnote 6 Wir fassen zum besseren Verständnis diese zwei Instanzen noch einmal zusammen: 1) Die Erscheinungen sollten nicht mehr als Erscheinungen von diesem oder jenem Erscheinenden, sondern als Schein (apparence) und nichts als Schein erscheinen, wobei dieser Schein dem Regime des Traumes (zwischen der Welt der Wirklichkeit und der Phantasiewelt ohne jegliches Objekt) ähnelt. 2) Nichts von dem was als Schein (apparence) gilt, sollte auf das Selbst – sei dieses Selbst als die transzendentale Subjektivität (Husserl) oder als Dasein (Heidegger) verstanden – zurückgeführt werden.

Von der Darstellung dieser neuen Epoché her ist noch nicht klar, warum die neue Dimension des Sinns, die sich als Schein und nichts anderes als Schein (erste Instanz) erweist, dem Selbst (zweite Instanz) entgehen soll. Wodurch bzw. womit lässt sich diese These begründen? Das heißt, was macht die These der hyperbolischen phänomenologischen Epoché aus? Wo lässt sich die Wurzel dieser neuen Methode finden, sodass sie sich nun von der Husserls abgrenzt?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einige Schritte zurückgehen. Bei Husserls Epoché gibt es einen Zeitpunkt der Epoché, der sich als ein Zeitpunkt des Stillstands erweist. Die Funktion dieses Zeitpunktes besteht darin, den Fluss des Zeitbewusstseins für den Phänomenologen zugänglich zu machen, der ihn beschreiben will. Im dritten Kapitel hatten wir gezeigt, dass die Urimpression bei einem Wahrnehmungsablauf in einem Jetzt (Zeitpunkt) geschieht, wo die leere Retention und die leere Protention (also die Leerintentionen) in der Struktur der Temporalisierung (temporalisation) der Wahrnehmung wohnen. Mit der Struktur dieser Temporalisierung (bzw. der Spatialisierung: spatialisation) ist die Einheit des intentionallen Sinns bei Husserl begründet worden. Wir hatten gezeigt, dass Richir genau diese Konstellation der Privilegierung des Jetzt als Gegenwart in Frage stellt. Doch warum stellt er diese Struktur der Temporalisierung in Frage? Weil der intentionale Gehalt (Erscheinung) dabei in der Temporalisierung der Gegenwart (sprich in der Gegenwart des Bewusstseins) erscheint. Das heißt, dass diese Erscheinung als eine Erscheinung von einem Erscheinenden in der Erfassung des Bewusstseins erscheint. Es ist gerade diese Gegenwart des Bewusstseins bei der Erfassung des Phänomens, die Richir bestreitet. Deshalb will er den Zeitpunkt (Gegenwart oder Jetztpunkt) bei Husserl, welcher mit retentionalem und protentionalem intentionalen Sinn versehen wird, – all das nennt Richir Temporalisierung – mit einer neuen Temporalisierung ersetzen. Diese neue Temporalisierung nennt er Proto-Temporalisierung. Sie ist ein tieferer transzendentaler Horizont der „Zeit“, der jegliche Voraussetzung der Zeit bzw. der Gegenwart außer Kraft setzt – also die hyperbolische phänomenologische Epoché. Die Proto-Temporalisierung (diese geht Hand in Hand mit der Proto-Spatialisierung) liegt außerhalb jeglicher Ontologie. Sie bestreitet auch die (ontologische) Ekstase, die man vielleicht in Heideggers Befindlichkeitslehre findet. Sie ist deshalb proto-ontologisch, zugleich eine transzendentale Vergangenheit (immemorial) – also keine Gewesenheit der Befindlichkeit – als auch eine transzendentale Zukunft (immature) – und keine Zukunft (noch die Gegenwart) der Stimmung im Sinne Heideggers –, wie wir schon im zweitenn Kapitel in Bezug auf die Leiblichkeit und im achten Kapitel in Bezug auf die Affektivität festgestellt haben.

Womit können wir solche eine Proto-Temporalisierung also vergleichen? Richir vergleicht diesen „Zeithorizont“ mit dem „Augenblick“ (in Grieschisch έξαίφνης: das „έξ“ bezeichnet „außerhalb von“ oder „abseits“ und „αίφνης“ bezeichnet „plötzlich“, „unerwartet“, „abrupt“; im Französischen l’instantané) aus Platons Parmenides. Auch wenn der „Augenblick“ in anderen Texten Platons auftaucht, wird er erst im Parmenides im Rahmen der dritten Hypothese über das Eine problematisiert. Dieses Eines ist zugleich eines und vieles, zwischen Seienden (t’eon, ta eonta) und Nichtseienden (mê eonta), zwischen Veränderung und Beständigkeit, es schwingt zwischen „Entstehen“ oder „Werden“ und „Umkommen“ oder „Untergehen“ und so weiter. Dieser Abstand zwischen ta eonta und mê eonta, zwischen Bewegungslosigkeit und Bewegung etc. vollzieht sich im „Augenblick“ als dem Augenblick eines Umschwungs (revirement) von einem Punkt zu einem anderen, ohne dass der Punkt verortbar wird. Dieser unverortbare (͗àτοπος) „Augenblick“ des Umschwungs – der nie in der Zeit liegt; der „Augenblick“ bricht abrupt mit der Zeit – bewegt sich zwischen Bewegung und Ruhe und umgekehrt zwischen Ruhe und Bewegung; er führt diesen Umschwung des Einen von der Bewegung zur Ruhe und umgekehrt. Da er weder in der Zeit noch außerhalb der Zeit (Ewigkeit), weder die Bewegung noch die Ruhe ist, soll der „Augenblick“ des Umschwungs oder der Schwingung in Richirs Phänomenologie in Bezug auf die Χώρα (Leiblichkeit) verstanden werden, die zwischen Sein und Werden liegt. In einem anderen Zusammenhang vergleicht Richir diesen platonischen „Augenblick“ mit dem cartesianischen „Augenblick“ (instantFootnote 7). Aber der cartesianische „Augenblick“ sei ohne Vergangenheit und ohne Zukunft (Proto-Temporal) und werde als virtuell verstanden.

In der Schwingung (clignotement) wurzelt die hyperbolische phänomenologische Epoché. Richir verkompliziert die phänomenologische Schwingung, indem er sie zwischen dem platonischen „Augenblick“ (l’instantané) und dem cartesianischen „Augenblick“ (l’instant) verortet. Damit könnte man sagen, dass die plötzliche, abrupte, unerwartete Schwingung von der Bewegung zur Ruhe und von der Ruhe zur Bewegung (platonischer „Augenblick“) auf die ungreifbare Schwingung in der Proto-Temporalität (cartesianischer „Augenblick“) trifft. Der Umschwung von einer Schwingung zur anderen hat nicht das Ziel, zur Temporalität zu gelangen, da ein temporaler Augenblick nicht erreicht werden kann. Stattdessen dreht sich diese Schwingung wieder um. Der Vorgang geht so weiter und weiter – er ist also plural. Deshalb verbindet Richir die phänomenologische Schwingung mit der „Ewigkeit“. Von großer Bedeutung ist hier die Idee, dass die hyperbolische phänomenologische Epoché die im Verständnis Husserls wichtige Annahme eines Zeitpunktes außer Kraft setzt und dafür die Schwingung in Kraft setzt. Durch die Letzte wird der Pol der Bestimmtheit überwunden. Genau das macht diese neue Epoché aus: sie öffnet sich der phänomenologischen Schwingung.

Nun sind wir an den Punkt gekommen, wo wir die zwei Hauptkonsequenzen der hyperbolischen phänomenologischen Epoché in ihren Zusammenhang bringen müssen:

1) Sie hat erstens Konsequenzen für die „Welt“, die dem Leib die Leiblichkeit erschließt. Diese „Welt“ besteht nicht mehr aus Erscheinungen von diesem oder von jenem Erscheinenden. Vielmehr besteht sie aus dem Schweben des Scheins. Dieses Schweben bewegt sich zwischen Schein oder Erscheinen (apparence) und Erscheinung (apparition). Bei dem ersten hat der Schein nichts mit dem Schein der gestifteten wirklichen (réel) Welt zu tun. Vielmehr geht es um die unaufhörliche plurale Schwingung von einem Pol des Scheins (apparences) zu einem anderen Pol des Scheins. Diese Schwingung des Scheins in der PluralitätFootnote 8, in der Obskurität, in der Schwankung zwischen einem Auftreten und einem Verschwinden, in der Instabilität und jenseits jeglicher bestimmten Stiftung des intentionalen Sinns (sens) bezieht sich auf die Phänomene und nichts als die Phänomene (phénomènes et rien que phénomènes), in denen sie erscheint. Da diese Phänomene, die dadurch erschlossen werden, keine Phänomene anderer Dinge der Welt sind, die schon vorhanden – also schon gestiftet – sind, sondern nichts anderes als Phänomene sind, gilt dieses nichts anderes als Phänomen als die „Welt“, die dem Leib anhand der Leiblichkeit erschlossen ist. In einer zweiten Instanz des Schwebens schwingt der Schein in der Pluralität usw. in die Richtung der Erscheinung (apparition). Dies zeigt, dass die Schwingung zwischen Schein und Erscheinung in die intentionale Struktur verfallen könnte (Potentialität), wo die Erscheinung nun diesen oder jenen schon gestifteten intentionalen Sinn erfüllt. Sonst bleibt das, was für die Leiblichkeit als Schein in den Phänomenen als nichts als Phänomenen erscheint, in der Instabilität, Flüchtigkeit, Schwankung und Obskurität abseits von jeglicher Erfassung der Doxa. Die Phänomene als nichts als Phänomene bezeugen laut Richir in der phänomenologischen Schwankung die phänomenologische Reduktion im wahrsten Sinne des Wortes und erfüllen damit den Anspruch seiner transzendentalen Phänomenologie. Hier zeigt sich die intrinsische Verbindung, aber auch die methodische Unterscheidung zwischen Epoché und Reduktion. Während die Epoché als Methode der Aussetzung einen Horizont entfaltet, greift die Reduktion das auf, was entfaltet ist. Die Epoché eröffnet eine Dimension von Phänomenen. Die Reduzierung ergreift sie. Um dies mit Schnell auszudrücken und das Vokabular der Positivität zu verwenden:

Die Epoché transzendiert die Positivität […], um zu enthüllen, was sie zum Schwingen bringt […]. Reduktion übernimmt oder nimmt die Positivität auf sich (was natürlich nicht die der „realen“ Objektivität ist, sondern die des Phänomens), um genau die Jenseitssphäre des Phänomens hervorzuheben.Footnote 9

So ist die Differenzierung der beiden Begriffe methodisch. Jedoch kann laut Richir erst in diesem Zusammenhang die Sache selbst der Phänomenologie, das worum es dabei eigentlich geht, verstanden werden.

2) Die hyperbolische phänomenologische Epoché hat nicht nur Konsequenzen für die „Welt“, die die Leiblichkeit erschließt, sondern auch für den Leib (oder besser ausgedrückt, für das leibliche Selbst). Diese Epoché schließt durch die phänomenologische Schwingung (Reflexivität), die in ihr verankert ist, aus, dass der Leib (Selbst) sich etabliert. Noch einmal zur Verdeutlichung: Die Schwingung bedeutet für Richir die Reflexivität und bei jeder Schwingung – im zweiten Teil dieses Kapitels wird es sich um die Reflexivität des Sprachlichen handeln, dort wird es auch um das leibliche Selbst gehen – ist der Leib beteiligt. Im vierten Kapitel haben wir die These der Reflexivität des leiblichen Selbst vertreten, durch die sich dieses Selbst nicht etablieren kann. Dies hat eine Konsequenz für das leibliche Selbst: Es wird anonym. In dieser Hinsicht stimmt Richir mit Patočkas Untersuchung der Möglichkeit einer a-subjektiven Phänomenologie überein, indem er im Sinne einer anonymen phänomenologischen Subjektivität argumentiert. Dadurch richtet sich seine Beschreibung der Subjektivierung des phänomenologischen Feldes durch die „Immanentisierung des Erlebnisses“ deshalb als Kritik gegen Husserl, Michel Henri und Heidegger. Auch in Bezug auf das Erlebnis gibt es eine Folge: mit der Reflexivität des leiblichen Selbst argumentiert Richir gegen die reine Gegebenheit des Erlebnisses im Bereich der Cogitatio, d. h. gegen die Einsperrung des Erlebnisses in der Subjektivität.Footnote 10 Somit entgeht auch dem leiblichen Selbst das Phänomen. Das bedeutet: Nichts von dem, was als Schein (apparence) im Phänomen gilt, kann auf das Selbst – sei dieses Selbst als die transzendentale Subjektivität (Husserl) oder als Dasein (Heidegger) verstanden – zurückgeführt werden. Das Phänomen läuft immer vor sich her und ist zugleich hinter sich und rennt auf sich selbst zu. Somit entgeht auch dem leiblichen Selbst das Phänomen. Genau das haben wir im vierten Kapitel als die Unmöglichkeit des Selbst herausgearbeitet, das in der Reflexivität seine Ohnmacht (Heidegger) erfährt. Richirs Verständnis des leiblichen Selbst ist deshalb radikaler als das denkende Selbst (cogito) des hyperbolischen Zweifels von Descartes. Während bei Descartes das Denken das denkende Selbst im Denken und im Sein – wir verstehen dies als eine Zusammenstellung – etabliert, ist dies beim reflexiven leiblichen Selbst anders: es bleibt unmöglich. Das Denken etabliert nicht das Sein des leiblichen Selbst, sondern nur seine Reflexivität, seine Schwankung, seine Anonymität und vor allem seine Unmöglichkeit. Die hyperbolische, phänomenologische Epoché deckt diese Zusammenstellung des Denkens und des Seins im Selbst auf und ordnet sie als ein ontologisches Simulacrum ein. Was ist dann also mit dem ontologischen Simulacrum gemeint?

Die oben gestellte Frage gibt uns Anlass, eine dritte Konsequenz der hyperbolischen phänomenologischen Epoché hinzuzufügen. Die hyperbolische phänomenologische Epoché, welche in der phänomenologischen Schwingung wurzelt, vermag es, die Illusion des ontologischen Simulacrums aufzudecken. Aber die Frage bleibt, wie diese Aufdeckung der dem ontologischen Simulacrum entsprechenden Illusion durch die hyperbolische phänomenologische Epoché geleistet wird. Vielleicht müssen wir um diese Frage zu beantworten mit Richirs Verständnis vom phänomenologischen Simulacrum anfangen, welches wir im zweiten Kapitel unserer Arbeit bereits rekonstruiert haben: das ontologische Simulacrum erscheint genauso wie ein Phänomen. Deshalb haben wir Richirs Begriff apparence sowohl mit Schein als auch mit Erscheinen übersetzt. Das ontologische Simulacrum zeigt sich wie ein Erscheinen und ein Schein (apparance) in dem Erscheinenden (lapparaissant). In dem Erscheinen bzw. Schein (apparence) hat dieses Erscheinen oder der Schein seinen Ursprung. Aber was bedeutet dieser Ursprung? Er ist das „Erscheinen/Schein (apparance), in dem die Erscheinung (apparition) des Erscheinens (apparence) sein Erscheinen hat“.Footnote 11 Die eigene Erscheinung (Selbsterscheinung) erscheint also im Erscheinen. Richir präzisiert: „Das ontologische Simulacrum kann nur ein Erscheinen der Erscheinung des Erscheinens sein – wenn man will, der Mythos, dass das Erscheinen sich selbst aus seiner eigenen Erscheinung herstellt“Footnote 12. In Méditations phénoménologiques schreibt Richir: „Das ontologische Simulacrum […] wird mit dem Schein gegeben, dieser Schein des Erscheinens des gleichen Scheins als reinem und schlichtem Schein zu sein.“Footnote 13 All das drückt die Selbst-Apperzeption oder die Selbsterscheinung des Erscheinens oder des Scheins aus. Der philosophische (also metaphysische) Gott wäre in diesem Fall eine gute Bezeugung dieses ontologischen Simulacrums, da jegliche prädikative Durchführung dieses Gottes wiederum zum Subjekt Gott führt und umgekehrt. Er ist derjenige, der mit sich selbst übereinstimmt – er erscheint sich selbst, genauso wie sich das cartesianische cogito denkt. Die Frage bleibt aber noch unbeantwortet, wie die Selbst-Apperzeption oder die Selbsterscheinung des Erscheinens als eine transzendentale Illusion des ontologischen Simulacrums zu verstehen ist.

Bevor wir diese Frage beantworten machen wir eine wichtige Anmerkung: bei dem Simulacrum haben wir es sicherlich mit dem ontologischen Argument zu tun, welches immer ein Sein voraussetzt oder legitimiert. Aber für Richir handelt es sich bei dem Phänomen nicht um das Sein, da dieses Letztere einfach mit Schein übersetzt werden kann. Das Phänomen hat im Gegensatz dazu sowohl mit einem Nichtgegebenen (inapparent) als auch mit einem Nichtsein (non-être) zu tun. Es ist also die Aufgabe der neuen Epoché im Sinne Richirs, die implizite Illusion im ontologischen Simulacrum und das darin implizierte ontologische Argument aufzudecken.

Um nun zurück auf die behandelte Frage zu kommen und sie zu beantworten, beziehen wir uns auf Richirs Méditations phénoménologiques. Richir unterscheidet zwischen Phänomenalität oder Phänomenalisierung – sie ist das, was das Phänomen erscheinen lässt – und Phänomenen. Die erste ist das, auf dessen Grundlage das Phänomen erscheint. Sie ermöglicht durch ihre vielseitige Schwingung und Reflexivität das Erscheinen der Phänomene als Erscheinen, da das Phänomen ohne sie nicht erscheinen kann. Mit Phänomen beschreibt das, was in einem Phänomen wirklich erscheint. Die transzendentale Illusion des ontologischen Simulacrum entsteht dadurch, dass die Phänomenalisierung im Phänomen selbst absorbiertFootnote 14 wird. Die Bewegung von einem zum anderen geschieht also heimlich. Die Selbsterscheinung des Erscheinens oder Scheins (apparence) wird zugleich als die Phänomenalisierung desselben verstanden. Beides wird in einen Topf geworfen. Dies ist der Grund, warum Gott das ontologische Simulacrum bezeugt, da jegliche prädikative Durchführung dieses Gottes wiederum zum Subjekt Gott führt und umgekehrt. Auch aus dem gleichen Grund wird der cartesianische ZweifelFootnote 15 als ein Beispiel des ontologischen Simulacrums verstanden, da das Selbst sich selbst als Phänomen im Cogito erscheint und phänomenalisiert. Die Phänomenalisierung wird selbst zum Erscheinen des Erscheinens in seiner Erscheinung umgewandelt. Genau dies fasst die Bedeutung von Simulacrum zusammen: Das Simulacrum präsentiert sich als Erscheinen der Erscheinung von sich selbst, wobei dasselbe Erscheinen der Ort der Phänomenalität aller Erscheinenden ist.Footnote 16 Wenn Richir also in der Vorbemerkung seiner Phénoménologie en Esquisse schreibt: „Die Phänomenalisierung ist weder mit dem Erscheinen noch mit der Erscheinung in dem Erscheinenden zu verwechseln“,Footnote 17 dann ist es eine Warnung vor dieser Übereinstimmung des Selbst mit sich selbst, wodurch sich das ontologische Simulacrum zeigt; eine Warnung vor der Absorbierung der Phänomenalität im Phänomen. Zwischen den beiden muss es einen originären Abstand geben. Wir wissen durch unsere Arbeit schon, dass dieser Abstand immer Hand in Hand mit der Schwingung, also der Reflexivität geht und somit den Überschuss der Erfahrung ermöglicht.

Ferner zeigt die hyperbolische phänomenologische Epoché also – wir haben das schon in Bezug auf das ontologische Simulacrum gesagt – dass das Selbst dann in der Erscheinung seiner Faktizität zum Ursprung aller Erscheinenden bzw. allen Scheins wird. Diese Erscheinung des Selbst als Erscheinen oder Schein wird zugleich zu dem, was alle anderen Phänomene (Erscheinen/Schein) legitimiert. Solch ein Schluss ist nur durch eine heimliche Zusammenstellung des Selbst und des Phänomens, durch das Werfen von Selbst und Phänomen in einen Topf möglich. Aus dem obigen Zusammenhang heraus verweist dies auf das Zusammenwerfen von Phänomenalisierung und Phänomen. Aber in Bezug auf Richirs Kritik der Immanentisierung des Erlebnisses erscheint das cogito als das Erscheinen in der Erscheinung seines Erscheinens: als Selbsterscheinung, die aber letztendlich vom ontologischen Simulacrum gefangen wird. Diese Immanentisierung der Erlebnisse in der Sphäre der Subjektivität ist wie eine transzendentale Illusion zu betrachten. Die Erlebnisse sind in der Schwankung oder in der Reflexivität des Leibes nicht gegeben (non donné). Vielmehr aber sind sie da anhand ihrer Nichtgegebenheit, d. h. Anonymität, ohne Ipse.

Da das Erscheinen in der Erscheinung des Erscheinens wie ein Phänomen erscheint, ist es schwierig, das im Simulacrum gegebene illusionäre Moment vom Phänomen zu lösen. So verstanden kann das ontologische Simulacrum auch mit einem Phänomen verwechselt werden, ohne dass wir wissen, dass es sich nur um eine Illusion handelt. Denn das Simulacrum ist jenes Phänomen – genau hierin besteht die Illusion –, das an seiner Geburt beteiligt ist. Das sogenannte Phänomen (Illusion) wird zum Absolutum und zur Quelle aller Phänomene. Die hyperbolische phänomenologische Epoché als Methode zur Aufdeckung dieser heimlichen Illusion im Simulacrum entdeckt zu haben, ist Richirs Verdienst. Sie deckt aber nicht nur die Illusion auf, die mit dem ontologischen Simulacrum zusammenhängt. Als Epoché soll sie auch das Simulacrum aussetzen, wobei Aussetzen nicht die Eliminierung desselben bedeutet. Denn das wäre laut Richir unmöglich. Wenn diese hyperbolische phänomenologische Epoché das Simulacrum aussetzen soll, dann hat sie nichts anderes zum Ziel, als dass die Grundlage der Phänomenologie (die Leiblichkeit) dem leiblichen, reflexiven, anonymen Selbst die Phänomene und nichts anderes als Phänomene erschließt.

Bevor wir auf die ursprüngliche Frage unserer Arbeit zurückkommen, die wir ganz am Anfang gestellt haben, – nämlich: Wenn die Leiblichkeit einen Zugang bzw. Bezug zur Welt ermöglicht und der Leib das phänomenale Erlebnis einzelner Leiber bezeugt, in welchem Zusammenhang können wir diesen „Zugang bzw. Bezug zur Welt“ dann verstehen? – wollen wir hierzu zwei wichtige Anmerkungen machen. Erstens fällt auf, dass Richirs Neugründung der phänomenologischen Methode in einer Metaphysik zu wurzeln scheint. Wir haben gerade gesehen, wie diese Metaphysik bei Descartes („Denken“ oder „der Geist und das Sein“ oder „die Essenz der Materie“) und Platons Parmenides (der Gründer der Ontologie) ihren Ursprung nimmt. Die Ideenlehre bei Parmenides und der Platonische „Augenblick“ zwischen Sein und Nichtsein, Bewegung und Ruhe, der cartesianische „Augenblick“, welchen Richir durch die Eigenschaften proto-temporal, nach Ewigkeit strebend, virtuell qualifiziert, belegen unsere Behauptung einer Metaphysik bei Richir. Dazu kommt eine andere Qualifikation für die hyperbolische Epoché. Wenn man sich fragt, wie solch eine hyperbolische Epoché durchzuführen ist, so entsteht der Eindruck, dass die Durchführung durch die Selbstüberlistung des Bewusstseins (des Geistes) geschieht. Es ist als ob nichts was in dieser Epoché passiert, dem Sein oder Nichtsein entsprechen würde. Es ist eher wie eine Fiktion, wodurch das leibliche Selbst in einer Täuschung gefangen wird. Die Fiktion ähnelt dem Verhältnis des hyperbolischen Zweifels zwischen dem denkenden Selbst und der Intrige des Genii magni bei Descartes. Kann man Richirs ganzes Werk auf dieser Basis verstehen? Wie ist solch eine Fiktion zu verstehen? Das ist die erste der angekündigten zwei Anmerkungen. Die zweite ist: Zeitgleich mit dieser metaphysischen Fiktion entsteht die Frage der Aussetzung der Intentionalität. Das heißt, dass es so aussieht, als wäre eine Aussetzung der Intentionalität nur unter der Idee einer metaphysischen Fiktion möglich. Denn wie können wir uns wirklich eine Beziehung zur Welt vorstellen, in der die Intentionalität als „irreführend“ erscheint? Irreführend, weil sie uns zum Sein führt. Richir hat gezeigt, dass das Eingreifen der intentionalen Struktur in die Phantasia das Phänomen verformt und überformt, sei es durch die Imagination oder in der Wahrnehmung (symbolischen Institution). Ist es nicht vielleicht möglich, eine Situation zu haben, in der die Phänomene nur über intentionale Objekte gegeben werden können, ohne diese zu verformen? Ist Richirs Forderung nach einer aktiven, nicht spiegelähnlichen und nicht passiven Mimesis von innen nicht eine zu große Forderung für den Modus des Erlebnisses mancher Phänomene? Hat die Aussetzung der Intentionalität also eine allgemeine Gültigkeit? Hat die hyperbolische phänomenologische Epoché auch eine allgemeine Gültigkeit? Gilt sie dann als eine allgemeine Haltung eines Denkers oder muss sie auch beim Erlebnis mancher Phänomene oder im Alltag geleistet werden? Hierbei denken wir in Bezug auf Erlebnisse einzig und allein an die Praxis des Interpretierens der Musik oder der Aufführungen davon, wobei das Werk eines Komponisten interpretiert wird, damit die Seele der Musik weiterleben kann, wie der Komponist sie anhand seines Leibes im System der Kodifizierung zum Ausdruck gebracht hat. Wir werden zu dieser Frage im letzten Abschnitt dieser Arbeit kommen.

9.3 Welterschließung anhand des Leibes und der Leiblichkeit als Sinneröffnung: Überschuss des Leibes und der Leiblichkeit im Überschuss des Sprachlichen

Nun wollen wir auf die Frage zurückkommen, die wir am Anfang unserer Arbeit gestellt haben: Wenn die Leiblichkeit einen Zugang bzw. Bezug zur Welt ermöglicht und der Leib das phänomenale Erlebnis einzelner Leiber bezeugt, in welchem Zusammenhang können wir diesen „Zugang bzw. Bezug zur Welt“ dann verstehen? Der Bezug zur Welt geschieht, um es noch einmal zu wiederholen, nicht nur zwischen Sein und Haben – man kann auch von einem Subjekt (Immanenz) und der Welt (physisch-kosmische Transzendenz) sprechen –, sondern geht darüber hinaus (absolute Transzendenz). Dieser Bezug geschieht im Hinblick auf einen Leib (le corps vivant), also ein leibhaftiges Erleben (vivre incarné) und wir haben in unserer Arbeit bereits „die unterschiedlichen klassischen Bestimmungen des leibhaftigen Erlebens“Footnote 18, um es mit Richir auszudrücken, behandelt. Einige dieser unterschiedlichen Bestimmungen des Leibes, also des leibhaftigen Erlebens, sind: die Affektivität, die Affektionen, das Denken, die Phantasia, die Imagination, die „Perzeption“, Mimesis usw. Wir haben auch durchgehend versucht, all dies im Kontext von Richirs Neugründung der Phänomenologie herauszuarbeiten. Dadurch vermochten wir es, die unterschiedliche Art und Weise des Zugangs zur Welt im Projekt Richirs zu erforschen. Unsere Untersuchung konnte dies aufdecken: sowohl der Zugang zur Welt anhand der Leiblichkeit als auch die Erlebnisse einzelner Leiber sind nichts anderes, als „Sinneröffnung“, der aber nicht unbedingt ein theologisches MomentFootnote 19 zugrunde liegt. Um den Gehalt dieses Satzes zu präzisieren – denn dies ist die Hypothese, die wir bereits zu Beginn unserer Arbeit gemacht haben – gehen wir systematischer vor.

So lässt sich die Frage stellen, auf welchem Boden der Bezeugung diese schon angekündigte Hypothese nun als unsere These begründet werden könnte. Die angesagte Hypothese stützt sich auf zwei, im von Richir und Schnell übernommene, Gesichtspunkte: Erstens entwarf Richir selbst in Le Corps (auch, wenn dieses Büchlein keine große phänomenologische Bedeutung hat) die Phänomenologie der Sprache im engsten Zusammenhang mit der Phänomenologie des Leibes und der der Leiblichkeit. So wird der Leib als ein „sprachliches Phänomen“Footnote 20 dargestellt. Wie jedes phänomenologisch Erlebte „ist der erlebte Leib sowohl in seiner Gesamtheit, als auch in der Artikulierung seines Teils ein und die Wesen des Sinns und des Phänomens (sprachliches Phänomen), in werdender Einheit mit dem Erleben sowohl des Bewusstseins als auch des Unbewusstseins.Footnote 21 Bevor wir zum Kommentieren dieses Zitats übergehen, vermerken wir zunächst, dass wir bei der Analyse der phänomenologischen Erlebnisse eine Herausforderung für die Phänomenologie sehen: wie ist es möglich, Zugang zu Erlebnissen mit der Sprache zu verwirklichen, ohne das Wesen der Erlebnisse mit derselben (also mit der Sprache) zu verderben? Wissen wir überhaupt wovon wir reden, wenn wir dann über Erlebnisse sprechen? Denn Richir besteht darauf, dass eine phänomenologische Analyse – diese Analyse geht natürlich nicht ohne die Sprache – gelingen kann, sofern sie in einem Erlebnis den unbestimmten Überschuss des Erlebens (vivre im Gegensatz zu Tod: mort) im Hinblick auf ein Erlebnis (vécu) bewahrt. Damit ist die Unbestimmtheit des Phänomens des Sprachlichen gemeint. Wie kann der erlebte Leib (le corps vecu) dann in einem Erlebnis – sprich in einem Phänomen – diesen Überschuss des Erlebens bezeugen, welches ein Erleben der Sprache ist? Mit anderen Worten, was sagen uns der Leib und die Leiblichkeit über das Erleben des Erlebnisses? Und worum geht es beim Erleben vom Erlebnis? Was erschließt dieses Erleben vom Erlebnis für uns?

Wir sehen, diese letzten Fragen benötigen noch eine Abklärung dessen, was Richir mit Erlebnis meint; wir werden zunächst auf diese Frage eingehen, bevor wir uns den oben gennanten zwei Grundeinsichten widmen, die von Richir und Schnell stammen. Wenn Richir vom Erlebnis (vécu) spricht, so spricht er vom Phänomen. Wir haben oben darauf hingewiesen, dass das Phänomen und nichts anderes als das Phänomen das Ergebnis der phänomenologischen hyperbolischen Epoché ist. Nun stellt Richir jedes Phänomen mit Sinn gleich und fasst es als Phänomen des Sprachlichen auf. Diese Gleichstellung ist überall in allen seinen Werken verbreitet. In Sens et paroles: pour une approche phénoménologique du langage versteht Richir das Phänomen als einen Rythmus, wo „etwas“ sich in die Richtung des Sinns erstreckt, der zu machen ist.Footnote 22 In Méditations phénoménologiques übersetzt er Heideggers Begriff von Faktizität mit Phänomen: „jede Faktizität ist ein Sprachphänomen.“Footnote 23 In Phénomènes, temps et êtres heißt es: „Das Sprachliche erscheint als ein spezifisches phänomenologisches Feld von Phänomenen – die Sprachphänomene.“Footnote 24 In Le corps schreibt er:

Auf diese Weise, wenn alles ein Sinn des Sprachlichen (Zeit die sich selbst macht) ist, bevor es zum ausgedrückten Sinn in der einen oder anderen bestimmten (gestifteten) Sprache – zum Beispiel Französisch oder Chinesisch – wird, so ist jedes Erlebnis vor allem ein Wesen des Sinns und damit des Sprachlichen, über seine Identifikation in dieser oder in jener Sprache hinausFootnote 25.

Die Gleichstellung vom Phänomen mit SinnFootnote 26 (sens) und mit Sprachphänomenen (phénomènes de langage) oder mit dem Sprachlichen (langage) – wir werden noch zu einer genaueren Erklärung kommen – kann so verstanden werden, dass für Richir der Sinn das Wesen, die Essenz jeglichen Erlebnisses ist. Sinn ist das, was mir beim Erleben eines Erlebnisses (Phänomen) erschlossen wird. So klingt es, als wäre damit alles erledigt. Aber so einfach ist es doch nicht, sobald wir merken, dass es dabei nicht nur den Sinn des Sprachlichen (langage), sondern auch einen ausgedrückten Sinn in dieser oder jener bestimmten gestifteten Sprache oder SprachsystemFootnote 27 (langue) gibt. Deshalb muss hier Rücksicht auf den Unterschied zwischen „Langage“ und „Langue“ genommen werden. Während „Langage“ auf eine Art von Phänomenalität verweist, beschränkt sich „langue“ auf ein Sprachsystem, wie die Stiftung des Seins in einer Sprache (z. B. Deutsch, Französisch, Igbo usw.).

Kommen wir nun auf das von Richir oben angeführte Zitat über den erlebten Leib zurück und damit auf den ersten der angekündigten grundlegenden Gesichtspunkte, so erweist sich der erlebte Leib als ein Wesen des Sinns und des Phänomens – ein Sinn (das Sprachliche als langage), der aber mit dem Sprachsystem als langue zusammenhängt. Jedoch berührt Richir eine dritte Dimension, die mit diesem hier gemeinten Sinn zusammenhängt. Diese bemerkt man da, wo Richir dem Wesen des Sinns und des Phänomens aus dem erlebten Leib ein bewusstes und ein unbewusstes Erleben zuschreibt. Mit anderen Worten artikuliert sich der Sinn im phänomenologischen Subjekt. Jedoch entgeht diesem Subjekt auch der Sinn. Wir können das so verstehen, dass sich der Sinn des erlebten Leibes zwischen dem Sprachlichen (le langage) und dem Jenseits des Sprachlichen – oder dem Nichtsprachlichen – (le hors langage) artikuliert. Wenn Richir von dem spricht, was diesem phänomenologischen Selbst (Leib) entgeht, so ist damit gemeint, dass das leibliche, phänomenologische Selbst selbst im Gegensatz zur Theorie der Transparenz des Bewusstseins in der Philosophie des Geistes nicht transparent ist. Wir werden später noch dazu kommen. Das heißt nicht, dass dieses Selbst kein Bewusstsein hat. Aber es wird nicht im Bewusstsein gefangen und bestimmt, da es sich selbst auch transzendiert. Der schon angekündigte Überschuss des Erlebnisses in dem Erlebnis wird in dieser Beschreibung des Selbst sichtbar. Es ist also ein Selbst, in dem der Sinn als ein Enigma erscheint, wobei das Enigma auch auf das Enigma des leibhaftigen Lebens (le vivre incarné) hinweist. Was ist also das Leben, wenn nicht ein Rätsel? Dies bedeutet, dass es beim leiblichen Selbst immer einen Überschuss gibt: „Es steckt immer mehr in ihm als das, was wir spontan an Worten und Sprachstrukturen erkennen.“Footnote 28 Es zeichnet sich ab, dass der erlebte Leib, das phänomenologische Selbst als leibhaftiges Leben den Überschuss des Erlebens eines Erlebnisses im Hinblick auf das Rätsel des Sinns bezeugen kann.

Zusammenfassend bewegt sich der Sinn in diesen drei Dimensionen („das Sprachliche“, „das Sprachsystem“, „das Jenseits des Sprachlichen“: le langage, la langue, le hors langage), wozu wir noch kommen werden. Genau diese Dimensionen zeichnen das Enigma nicht nur des leiblichen Selbst sondern auch das Enigma des Sinns aus.

Den zweiten grundlegenden Gesichtspunkt verschafft uns Schnell, wenn er schreibt: „Dieser ‚sich machende Sinn‘ […] vollzieht sich nicht in einer abgründigen Leere, sondern in einer absoluten Urform jeglicher Räumlichkeit […] die Richir mit der platonischen ‚Chora‘ gleichsetzt.“Footnote 29 Während das oben diskutierte Zitat Richirs vom Sinn des erlebten Leibes, also dem Sinn des leibhaftigen Lebens spricht, geht das zweite vom Sinn der Chora, also der Leiblichkeit (im Sinne der Welteröffnung) aus, sodass man hier ab sofort von Leib und Leiblichkeit in Bezug auf Sinn ausgehen kann. Diese zwei Gesichtspunkte, einerseits im Blick auf ein „sprachliches Phänomen“ und andererseits im Blick auf „einen sich machenden Sinn“ erlauben uns, breitere Dimensionen des Sinns zu untersuchen, welche Husserls genetische Phänomenologie über die Stiftung hinaustreibt oder besser gesagt sie radikalisiert. Ist die Leiblichkeit als eine welteröffnende Instanz oder eine theoretische Intuition für die Erschließung der Welt zu verstehen, so können wir auf die Frage eingehen: „Was für einen Sinn eröffnet uns die Leiblichkeit?" Wie wir gesehen haben, wird uns keine direkte Antwort gegeben, da dieser Sinn sich in unterschiedlichen Schichten bewegt: zwischen der gesättigten und bestimmten Dimension der Kultur (la langue), der unbestimmten Dimension des unbestimmten Gehalts der Leiblichkeit (langage) und der bewusstseinstranszendierenden Dimension des Jenseits des Sprachlichen (hors langage), die mit dem Sprachlichen Hand in Hand geht. Die Bewegung findet primär 1) zwischen dem Sprachlichen oder Phänomenologischen (langage) und dem Symbolischen (langue) und 2) zwischen dem Sprachlichen (le langage) und dem Jenseits des Sprachlichen (hors langage) statt. Wenn Richir schon in Phénomènes, temps et êtres ankündigt, dass das Sprachphänomen „seinen eigenen Zusammenhalt“Footnote 30 hat, so könnten wir sagen, dass der Sinn, welchen uns die Leiblichkeit erschließt, als Sprachphänomen diesen Zusammenhalt in den oben erwähnten Schichten findet. Wie soll man aber diese Sinnschichten verstehen?

Um auf die oben gestellte Frage einzugehen, muss gesagt werden, dass die sogenannten Schichten keine Hierarchie bilden, sodass man von einer zur anderen springen könnte. Das wäre eine metaphysische Bewegung von einem Sein zu einem anderen Sein. In der Einleitung von Fragments phénoménologiques sur le temps et l’espace kündigt Richir sogar an, dass alle Hierarchien der Hypostasen,Footnote 31 wie dies zum Beispiel bei Plotin der Fall war, ausgeschaltet werden sollen. Wir bewegen uns auch nicht in diesen Schichten, wie man sich die von einer Ursache zu einer Wirkung bewegt. Die Schichten sind auch nicht wie eine archäologische Struktur zu erklären. Die Schichten des Sprachlichen bestehen aus unerschöpflichen Bewegungen von den vorintentionalen und nicht objektbezogenen phänomenologischen Schichten der Phantasia zu den objektbezogenen Schichten, die Vollständigkeit erfordern, wobei diese durch eine architektonische Umsetzung erreicht wird. Die Bewegung von…zu wird durch den originären Abstand ermöglicht. Dies ist eine Taktik von Richir, um Metaphysik in Architektonik umzuwandeln.Footnote 32 Richir versteht seine Phänomenologie als „Kehrseite der Metaphysik“ und versucht ein philosophisches System aufzubauen, das niemals geschlossen werden kann. Vielmehr eröffnet es immer ein unerschöpfliches Feld der Fragestellungen, der Untersuchung und der Arbeit. Die gerade eben erwähnte Kehrseite, die als unbestimmt gilt – diese ist die Phänomenologie – kann zu Recht nicht ohne Abhängigkeit auskommen. Mit Abhängigkeit ist gemeint, dass das phänomenologische Feld vom symbolischen Feld der Metaphysik unterstütztFootnote 33 wird. Ohne das Metaphysische (dieses ist wie gesagt symbolisch) wäre das Phänomenologische nicht möglich. In diesem Zusammenhang kommentieren Hans-Dieter Gondek und László Tengelyi diese Idee und deuten darauf hin, dass das Wort „Kehrseite“ auf das „Unbestimmt-Unbegrenzte (Apeiron)“ verweist. Das Unbestimmt-Unbegrenzte sei „bei Platon in seiner […] Unselbstständigkeit wesenhaft auf die Bestimmung und die Grenze (Peras) angewiesen“Footnote 34. Bei Plotin sei das Unbestimmt-Unbegrenzte eine Dimension des Einen, dem es untergeordnet bleibe. Im Gegensatz zu Plotin wird dieses Unbestimmt-Unbegrenzte (Apeiron) bei Richir zum phänomenologischen Feld, aus dem alles Bestimmte, Begrenzte abgeleitetFootnote 35 werden kann. Deshalb stehen beide Felder (der Phänomenologie und der Metaphysik) in einem lebendigen Verhältnis des originären Abstands zueinander. Die phänomenologische und unbestimmte Schicht kann dann als Boden fungieren, aus dem das Symbolische und Bestimmte architektonisch umgesetzt werden kann. Wir können aber auch Zugang zum Symbolischen haben, weil das Phänomenologische, das das Vorige in sich trägt, eine Lücke der Unbestimmtheit impliziert. Dabei brauchen wir nur eine Epoché zu leisten. Das heißt, damit Zugang zum Sprachlichen (langage) in einem Sprachsystem (langue) gewonnen werden kann, muss die symbolische Struktur des Sprachsystems durch eine hyperbolische phänomenologische Epoché ausgesetzt werden. Wir wiederholen, dass die Bewegung von einer Schicht zur anderen nicht wie ein Sprung ist. Jede Schicht ist in ständiger Schwingung, sozusagen durch eine tiefere Schicht geschüttelt, wodurch alle Schichten auf eine dynamischere Art und Weise schwingen. Auf diese Weise bleibt ein lebendiges Verhältnis zwischen den Schichten (das Phänomenologische und das Symbolische) des Sinns erhalten, in denen die genetische Phänomenologie von Richir entworfen wird. Es ist damit noch nicht abgeklärt, welche Konsequenz diese architektonischen Schichten (das Phänomenologische und das Symbolische) des Sprachlichen für Richirs Phänomenologie in Bezug auf andere philosophische Lehren über das Sprachliche haben. Sicherlich hat die strukturalistische Haltung hier einen epistemischen Vorteil. Sie ist gut geeignet, um das zu analysieren, was die symbolische Institution ausmacht. Sie kann uns auch einen Hinweis auf die allgegenwärtige Macht der symbolischen Institution der Sprache auf die menschliche Erfahrung geben. Aber ist es nicht wahr, dass diese allgegenwärtige Macht (Autonomisierung der Sprache im Gestell) das Wesentliche der menschlichen Erfahrung deformiert?

9.3.1 Die Schwierigkeiten der logisch-eidetischen Stiftung des Sprachlichen

Die Schilderung oben scheint uns stark darauf hinzudeuten, dass Richir sich – anhand der Art vielschichtiger aber auch lebendiger architektonischer Schichten, die durch ihre Schwingung und Offenheit zueinander gekennzeichnet ist – nicht nur von der Herangehensweise (was den Sinn angeht) des Strukturalismus, sondern auch vom Idealismus Platons und der Neuplatoniker und sicherlich später auch von Husserl usw. distanzieren konnte. All diese Ansätze haben laut Richir eines gemeinsam: die logisch-eidetische Stiftung des SprachlichenFootnote 36 (langage). Aber das immer schwingende architektonische Bauwerk Richirs (über den Sinn) in seinen unterschiedlichen Dimensionen (als das Sprachsystem, das Sprachliche, und das Jenseits des Sprachlichen) erlaubt es ihm, sich von diesen oben erwähnten Strömungen zu distanzieren und seine eigene originelle Phänomenologie des Sprachlichen zu entwickeln. Dies geschieht also in einem polemischen Kontext, der sich bemüht auf solche oder ähnliche Fragen einzugehen, als etwa: Wie ist dies genau zu verstehen? Wie artikulieren sich Sinn, Denken, Gefühle, Ideen usw. in der Sprache? Was ist der Zusammenhang zwischen einem Sprachsystem und einer Idee eines Denkens? Die Idee will sich ausdrücken; aber hat nur eine einzige Möglichkeit: die Sprache? Was sind die Verhältnisse zwischen den beiden Dimensionen? Oder wie bildet sich überhaupt die Idee dieses Denkens? Am Ende werden wir zeigen, dass es eine besondere Art von Verhältnis zwischen dem Sprachsystem und dem Sprachlichen (Zickzack) und zwischen dem Sprachlichen und dem Jenseits des Sprachlichens eine andere Art von Beziehung gibt (die Reflexivität).

Um die oben gestellten Fragen zu beantworten, wollen wir systematisch bei der logisch-eidetischen Stiftung des Sprachlichen in einem Sprachsystem (langue) anfangen, dessen allgegenwärtige Kraft das Wesentliche der menschlichen Erfahrung deformiert. Die logisch-eidetische Stiftung betrifft zuerst den Strukturalismus. Wie kommt es, dass ich in dieser Person eine „Mutter“ sehe, die ihr Kind stillt, eine „Rose“ in dieser Pflanze mit Stacheln und gefiederten Blättern, „Freude“ oder „fröhliche Heiterkeit“ in einer Einweihungsparty, „Trauer“ in einer Beerdigungsfeier, eine „Katze“ in diesem verspielt, anhänglichen, unerschrocken, verschmusten, freiheitsliebenden, anpassungsfähigen Tier? Anhand der Evidenz dieser unterschiedlichen Zeichen – sie sind zugleich die Zeichen der Sprache in einem bestimmten System, in diesem Zusammenhang: dem Sprachsystem Deutsch – habe ich Zugang zu unterschiedlichen Dingen in der Welt. So ist meine Erfahrung der Welt in solchen Evidenzen eines Zeichensystems der Sprache eingebettet. In diesem Zusammenhang erscheint denn die Sprache (la langue) als ein Zeichensystem, das über die „referenziellen Mächte“ (pouvoir référenciels) verfügt, die der Sprache eine performativeFootnote 37 Funktion verleihen. Wir haben schon gesagt, dass das Bezeichnende (der Signifikant, auf Französisch signifiant) und das BezeichneteFootnote 38 (das Signifikat, auf Franzsösich signifié) in einem linguistischen Zeichen symbolisch evoziert werden, was die referenzielle Macht eines Zeichensystems genannt werden kann. Diese Macht der Sprache, aus sich selbst allein, aus eigener Macht – Richir nennt dies „Verselbstständigung der Sprache im GestellFootnote 39 (autonomisation de la langue en Gestell) – zu bestimmten Anlässen performativ zu wirken, bezeugt ihre symbolische Funktion. Dies erweckt den Eindruck des mechanischen und blinden Gebrauchs einer symbolischen Sprache (dies ist Richirs Übersetzung von Heideggers „Gestell“). Würde diese dann Sinn, Erfindungsgeist und Innovationskraft (im Sinne eines Vermögens zur Erarbeitung eines schon symbolischen Systems der Sprache) nicht ausblenden, da alles bereits in jener Sprache gesagt wurde? Sicherlich hat die strukturalistische Haltung hier einen epistemischen Vorteil. Sie ist gut geeignet, um das zu analysieren, was die symbolische Institution ausmacht. Sie gibt uns auch eine Einsicht in die durchdringende Macht der symbolischen Institution der Sprache auf die menschliche Erfahrung. Aber ist es nicht wahr, dass diese durchdringende Macht (Autonomisierung der Sprache im Gestell) das Wesentliche – z. B. den Überschuss – der menschlichen Erfahrung verpasst? Die Antwort auf diese Frage wird im Laufe dieses Kapitels deutlich werden.

Was nun den Idealismus der griechischen Denker seit Platon und Aristoteles angeht, so haben diese „die Unveränderlichkeit von Ordnungen, die von uns unabhängig sind“ (l’immutabilité d’ordres indépendants de nous) entdeckt. Für Richir hat dieser Vorgang zur Folge, dass sich die klassische Philosophie seitdem symbolisch aus einer gemeinsamen (logisch-eidetischen) Sprache heraus gestiftet hat. Diese Stiftung einer logisch-eidetischen Sprache geschah im Hinblick auf die möglichst eindeutige Identifikation der Wesen oder des Seins (êtres), die für jene Philosophie äußere Wesen sind.Footnote 40 Die logisch-eidetische Stiftung der Sprache impliziert, dass jede logische Proposition oder jedes ausgedrückte Wesen des Sprachlichen (langage) wahr oder falsch sein kann, je nachdem, ob es dem unveränderlichen Wesen (auf Französisch êtres, auf Griechisch εἶδος) entspricht oder nicht. Nach dieser Idee ist das Sprachliche „schon eine ideale Identität, schon reflektiert, zeitlos, eine bestimmte Illumination“.Footnote 41 Man merkt auch diese logisch-eidetische Macht der symbolischen Sprache bei Husserl,Footnote 42 womit wir nun auf eine formelle Definition von Sprachsystem (langue) kommen: es ist eine Einheit der Sprache, die sich in ihren linguistischen Zeichen und ihrer Fähigkeit zeigt, uns zu einem Sachverhalt, einer gewissen Bestimmung von Dingen, von intentionalen Objekten zu führen. Es sagt uns, dass dieser Sinn daher bereits in einem solchen System der linguistischen Einheit symbolisch erfasst (kodiert) ist. In dieser symbolischen Stiftung der Sprache wird das Sprachliche (le langage) auf seine apophantische Dimension reduziert, wo die „Anordnung des Wesens“ (être, εἶδος) „der Anordnung von Wörtern“Footnote 43 oder des Denkens entspricht.

Wie Husserl in den logischen UntersuchungenFootnote 44 entdeckt hat, wird die Dimension des Sinns des Denkens mit der Dimension des Sinns des Seins identifiziert. Das Wesen des Sprachlichen, das am besten geeignet ist, nicht nur die Einheit des Denkens, sondern auch die Eindeutigkeit seines äußeren Bezugs auszudrücken, sei laut Husserl ein Nomen oder eine Bezeichnung (le nom). Das Nomen sei ein logischer Begriff, der am besten geeignet ist, eidos eindeutig zu bezeichnen.Footnote 45 Dies ist der Grund warum die Eigenschaft der Apophantizität mit dem Vermögen zur Nominalisierung als einem universellen logisch-eidetischen Paradigma zusammenhängt. Denn was bedeutet etwas mit einem Namen zu versehen (etwas zu benennen), wenn nicht sein Wesen (eidos) zu identifizieren. Seit Parmenides bedeutet zu denken nichts anderes, als das Sein zu identifizieren.Footnote 46 Mit der symbolischen Stiftung der Nominalisierung wird dann also der referenzielle Zugang zur Welt etabliert, da die Nominalisierung zum unvermeidlichen durchdringenden Punkt zwischen dem Denken, oder sagen wir, dem Sprachlichen und der Welt wird. Wenn ich die Idee eines verspielten, anhänglichen, unerschrockenen, anpassungsfähigen Tieres, oder die Idee einer Beerdigungsfeier mit Leichenzug habe, dann sind das nichts anderes als jeweils „Katze“ oder „Trauer“. Was wäre dann die Idee, wenn nicht ein Nomen? All das wäre laut Richir ohne die logisch-eidetische Stiftung des Sprachlichen unmöglich.

Die Entdeckung der Unveränderlichkeit bzw. einer unveränderlichen Ordnung der Idee, von eidos, in der logisch-eidetischen Stiftung bei den Griechen, scheint den Fortbestand des Denkens zu sichern, da die Idee in der Macht ihrer Allgemeingültigkeit und Wiederholbarkeit in unendlich vielen verschiedenen Zusammenhängen in Gebrauch genommen werden können. Richir vergleicht diese hier Idealisierung mit dem, was er als zeitgenössische „hypostatische Idealisierung der Sprache“Footnote 47 (l’idéalisation hypostasiante de langue) bezeichnet. Dennoch bleibt etwas unklar; und dies ist eine Frage, mit der sich Richir beschäftigte: Wie können wir Zugang zu Sinn erhalten, wenn er durch die hypostatische Idealisierung der Sprache – als eines System der Einheit von abstrakten und allgemeinen Bedeutungen, die von einer eigenen Bewegung des Sprechens, des Wortes, des Denkens, des Schreibens (parole) entkörpertFootnote 48 sind – versperrt zu sein scheint? Wie können wir dann Zugang zu demjenigen Sinn, dem Sprachlichen haben, das dem erlebten Leib entspricht, wenn aber dieses Sprachliche auf einen einfachen „kommunikativen Ausdruck eines eidetischen Sachverhalts“Footnote 49 reduziert ist? Auch wenn diese Reduktion eine Übermittlung des theoretischen Wissens über die gestiftete Exteriorität ermöglicht – denn dies ist ihr praktischer Vorteil, dass diese Exteriorität immer symbolisch identifizierbar bleibt –, so geht eine solche Reduktion in vielerlei Hinsicht fehlt: sie scheint das Wesentliche des Erlebnisses, das Wesen des Sinns, nicht zu erfassen, welches die menschliche Erfahrung in ihren inchoativen Formen ausmacht; sie scheitert auch an der richtigen Ausübung des Sprechens, des Denkens, des Schreibens (parole), wo immer es einen Überschuss des Leibes und der Leiblichkeit gibt, da dieses leibliche Sprechen (parole) sich nicht auf die Formel reduziert: X ist P, wobei X etwa für das Nomen „Katze“ und P für die „Idee“ von Katze steht: eine Katze ist verspielt, anhänglich, unerschrocken. Die Katze ist in diesem Zusammenhang nichts Sprachliches sondern eine symbolische Kodierung des Wesens des Sprachlichen.Footnote 50 Die Reduktion verdirbt das leibliche Sprechen, das leibliche Denken, indem sie die Idee, das was ich zu sagen habe, anhand des Sprechens (parole) sichert; sie gibt dadurch den Anschein, dass diese leibliche Idee unveränderlich ist. Die Idee der Katze scheint deshalb im Sprachsystem ewig (immer das Gleiche) zu sein, wenn wir dem impliziten Idealismus des Platonismus und des Neuplatonismus folgen. Diese ewige, unveränderliche Idee von etwas, was ich zu sagen habe, würde verschwinden, wenn mein Denken in seiner Leiblickeit sie nicht als dieses oder jenes in einem Augenblick erahnen, erkennen oder erfassen und sie mit Sprechen (parole) sichern würde. Die Leistung des Sprechens in der symbolischen Stiftung besteht darin, die leibliche, lebendige Idee – die Richir im Platonismus als die Sternschnuppe im „Himmel des Denkens“ bezeichnet – in der Stasis der Gegenwart (auf Französisch stase: Stillstand) zu festigen. Jedes Sprechen soll uns deshalb auf den Augenblick der Idee zurückführen. Aber ist das nicht ein Fehler solch einer Idealisierung und solch einer logisch-eidetischen symbolischen Stiftung des Sprachlichens, zu behaupten, dass die Idee nominalisierbar ist – also, dass sie eine festgelegte Bestimmung in einem Sprachsystem (langue) hat?

Richir hat eine originelle Antwort auf diese Frage. Aber bevor wir diese behandeln, wollen wir zunächst die Schwierigkeiten der logisch-eidetischen Stiftung des Sprachlichen zusammenfassen: 1) Die logisch-eidetische Stiftung behauptet, es gäbe letztendlich nur eine Sache zu sagen, jedes Mal, wenn man eine Idee von etwas hat oder wenn man auf ein Zeichensystem zugreift und damit das Bezeichnete und Bezeichnende symbolisch identifiziert. Der Grund ist nämlich der, dass die Idee auf der einen Seite ewig und unveränderlich (Idealismus) bleibt. Auf der anderen Seite verfügt ein Zeichensystem über „referenzielle Mächte“ (Strukturalismus). Dies ist ein Ideal. Im Gegensatz zu dieser Behauptung wissen wir aber, dass wir täglich auf die Schwierigkeit des Sprechens, des Schreibens, des Sagens, des Denkens (parole) – denken wir an den Überschuss des Leibes – stoßen, jedes Mal wenn wir eine Idee von etwas haben oder wenn wir zum Beispiel versuchen, etwas zu schreiben oder zu sagen. 2) In der logisch-eidetischen Stiftung des Sprechens gibt es keinen Platz für das, was Richir „Abenteuer des Sinns“ nennt. Unter Abenteuer des Sinns versteht Richir, dass der Sinn jeglichem Versuch zur Festigung und Bestimmung entgeht. Der Sinn kann mehrfach scheitern; selten gelingt es, trotz seiner Bemühungen zu Tage zu treten. 3) Die logisch-eidetische Stiftung verpasst (und verliert) etwas über die eigentliche Bewegung und die Temporalisierung des leiblichen Sprechens, des Denken, des Schreibens (parole) als Überschuss, das sie nur im Hinblick auf ihre eigene Institution erklärt.

9.3.2 Die Schwingung der leiblichen Idee und die Bezeugung des Überschusses des Sprachlichen

Die oben genannten Schwierigkeiten könnte man auf eine einzige Schwierigkeit reduzieren: die Temporalisierung der Idee, welche besagt, dass die Idee zeitlos (intemporel) in ihrem Augenblick ist. Richir bezweifelt nicht die Temporalisierung der Idee, die jedes Mal auftritt, wenn man etwas zu sagen hat, denn die Idee von dem, was man beim Sprechen zum Ausdruck zu bringen versucht, hat tatsächlich ihre Temporalisierung. Richir bezweifelt nur die Zeitlosigkeit – ihre ewige, starre Unveränderlickeit – der Idee als in einem Augenblick gegegbenes Urbild, also einen starken Idealismus, wie er im Platonismus und im Neuplatonismus dargelegt wird. Der hier gemeinte Augenblick grenzt sich von dem Augenblick des Umschwungs ab, der Richirs Ansatz ausmacht. Noch mal zur Erinnerung, der Augenblick des Umschwungs ist weder in der Zeit noch außerhalb der Zeit. Die Idee, die in diesem Augenblick des Umschwungs leiblich tätig ist, öffnet die Zeit zu sich selbst und bezeugt den leiblichen Überschuss der Erfahrung. Die Idee trägt deshalb die Zukunft des Sprechens (parole), die zu sagen ist und, die als Versprechen (promesse) fungiert, welches aber auf eine Vergangenheit zurückführt. Die Idee ist deshalb auch auf die Vergangenheit von dem zurückzuführen, was es als ein Erfordernis (exigence) noch zu sagen gibt. Deshalb ist die Idee reflexivFootnote 51 (bei Richir bezeichnet Reflexivität die leibliche Schwingung) und scheitert bei jeglicher idealen Fixierung, wie es im platonischen Idealismus der Fall ist. Vielmehr schwingt die Idee zwischen der Zukunft und der Vergangenheit des Sprechens und des Denkens (parole) in ihrer Leiblichkeit. Sie verschwindet in dem Moment, wo sie zu erscheinen anfängt und erscheint in dem Moment, in dem sie anfängt zu verschwinden. Das Versprechen ihrer Vergangenheit ist noch nicht von dem belastet, was sich schon in der Vergangenheit des Erfordernisses artikuliert hat und ihre Vergangenheit bleibt immer noch lebendig und offen für das Versprechen der Zukunft, ohne aber dass die eine mit der anderen übereinstimmt oder dass die eine die andere reflektierenFootnote 52 würde. Denn genau das würde zu einer logisch-eidetischen symbolischen Identität führen. Was wir hier schildern ist nichts anderes als den Überschuss des Leibes beim Sprechen, beim Schreiben, beim Denken usw. und wir sehen, dass auch die Idee, die darin tätig ist, leiblich ist, sofern auch sie einen Überschuss durch die Schwingung bezeugt.

Auch mit dieser Reflexivität der Idee kann Richir die Privilegierung des Jetzt als Gegenwart in Frage stellen, in der der intentionale Gehalt (Husserl) erscheint. Wir haben dies schon an vielen Stellen in unserer Arbeit verdeutlicht. Die Gegenwart bei Husserl befindet sich ständig in einem Zeitablauf.Footnote 53 In der lebendigen Gegenwart ist aber der intentionale Gehalt immer gegenwärtig (présent). Das würde suggerieren, dass wir von einem Gegenwärtigen zu einem anderen Gegenwärtigen springen würden, das die Sprachzeichen uns in einem kontinuierlichen Zeitablauf vermittelt, wenn wir zum Beispiel das zum Ausdruck zu bringen versuchen, das uns gerade in den Sinn gekommen ist. Wir haben (in einem früheren Kapitel) gezeigt, dass bei Richirs Auffassung von Temporalisierung die Zukunft und die Vergangenheit in einem originären Abstand liegen. Die Idee von dem, was mir gerade in den Sinn gekommen ist, wird von einer Schieflage (porte-à-faux) durchdrungen. Das heißt, dass diese Idee sich durch einen Abstand auf sich bezieht, indem sich sowohl Anforderung oder Erfordernis als auch Versprechung verflechten, sodass die anonyme „Idee“ (keine Identität und keine Intentionalität), deren Entstehung darin angefangen hat, nie zur Erfüllung kommt. All dies zeigt uns, dass die Idee kein intentionales Objekt der Wahrnehmung oder der Imagination ist; sie ist weder in einer intentionalen Gegenwart noch ein GegenwärtigesFootnote 54 (présent). Anhand der hier gemeinten Reflexivität der Idee in ihrer Leiblichkeit wird kein intentionales Objekt (Husserl), keine Bestimmung der Welt – sei es ein Reales als dieses oder jenes Ding der Welt oder sei es ein dargestelltes Objekt der Imagination – vermittelt, wenn ich versuche etwas auszudrücken, das mir gerade in den Sinn gekommen ist. Damit wird auch der mechanische und blinde Gebrauch einer symbolischen Sprache in Frage gestellt, wo jedes Sprachzeichen als Bezeichnendes sein Bezeichnetes (Strukturalismus) im Sinne von Sein, Handlungen oder Dingen in der Welt hätte.

All das zeigt, dass die Idee nicht nominalisierbarFootnote 55 ist – insofern sie leiblich ist –, wie die Idealisierung der logisch-eidetischen Stiftung des Sprachlichen zu verstehen gibt. Aus genau dem gleichen Grund bezeugt die Reflexivität der Idee die Unmöglichkeit des leiblichen Selbst. Wenn die Reflexivität der Idee es Richir ermöglicht, sich von der Hypostasierung der Sprache (langue) in der logisch-eidetischen Stiftung des Sprachlichen – sprich von der Möglichkeit der Körperlichkeit – zu distanzieren, ist es trotzdem noch nicht ohne weiteres verständlich, worum es bei dieser reflexiven Idee geht und wie sie den bevorstehenden Überschuss im Sprachlichen (langage) entschlüsseln könnte. Wir haben also schon verstanden, was ein Sprachsystem (langue) ausmacht. Aber wie könnte für uns nun die reflexive, leibliche Idee das Wesen des Sinns im Sprechen, im Schreiben, im Denken (parole) enthüllen, das das Sprachliche ausmacht? Eine reflexive Idee zeigt sich da, wo ich zum Beispiel beim Schreiben oder Sprechen oder Denken nach den passenden Worten suche: auf der einen Seite erlebe ich, spüre ich unmittelbar das (Idee), was ich zu sagen habe; aber auf der anderen Seite scheint mir der Gedanke zu entgleiten. Auch fehlen mir die Worte, die vielleicht diese erlebte, leibliche Idee zum Ausdruck bringen könnten. Das heißt, dass die Idee irgendwie da ist, ich es aber nicht vermag, sie wie ein theoretisches WissenFootnote 56 zu besitzen. Sie entgeht mir teilweise. Man könnte auch sagen, dass ich diese Idee nur bedingt besitze, wohingegen die Idee mich komplett beherrscht oder besitzt. Die Schwierigkeit, die Idee vollständigen zu „bewältigen“, zeigt, dass sie und nicht das Wort oder das Zeichensystem (zum Beispiel „Katze“, „Freude“, „Trauer“), womit ich sie artikulieren möchte, prekär und unsicher ist. Die Prekarität der Idee bezeugt die Unmöglichkeit des leiblichen Selbst, die wir im vierten Kapitel verteidigt haben. Ein Zeichensystem ist immer da. Ich kann jedes Mal darauf zugreifen. Aber man kann es nicht mit der Idee vergleichen, die mir nicht grenzenlos zur Verfügung steht. Darin wird deutlich, dass diese reflexive Idee gar nichts mit dem Zeichensystem einer Sprache, mit der Bedeutung (signification), zu tun hat. Wenn sie also nicht dem Sprachsystem (langue) entspricht, dann weil sie mehr und passender der Unbestimmtheit des SinnesFootnote 57 (sens) entspricht. Die reflexive Idee ist deshalb der Sinn (als unbestimmtem), der nicht nominalisierbar ist, wie es in der logisch-eidetischen Stiftung des Sprachlichen der Fall ist. Mit der Einführung in die Reflexivität der leiblichen Idee, der Unbestimmtheit des Sinns, der nicht als intentionales Objekt zur Verfügung steht, sondern in unendlicher, unbestimmter, flüchtiger Schieflage eines inhärenten und originären Abstands schwebt, sind wir beim Phänomen des Sprachlichen (langage) angelangt. Das Phänomen des Sprachlichen bezeugt auch in seiner Unbestimmtheit den Überschuss des Leibes.

9.3.2.1 Die Reflexivität des Sprachlichen mit einem Ipse, die Reflexivität des Jenseits des Sprachlichen ohne ein Ipse und die Artikulierung des Überschusses des leiblichen Selbst und der Leiblichkeit

Bevor wir mit der Behandlung des Sprachlichen (langage) forfahren, wollen wir denselben Begriff noch einmal definieren, wie wir es oben in einer Fußnote bereits getan haben: das Sprachliche wird von Richir als Phänomen im Plural verstanden. Mit Phänomenen des Sprachlichen bezieht sich Richir auf jene Phänomene, die nur in Bezug auf das Regime des Sinnes verstanden werden können, der sich bereits geöffnet hat und auch versucht, sich durch eine Stasis niederzulassen oder zu stabilisieren. Die Phänomene des Sprachlichen können sprachliche Ausdrücke enthalten oder nicht. So wird der Sinn im Phänomen des Sprachlichen artikuliert. Oder um es besser auszudrücken: das Sprachliche bezieht sich auf jene Phänomene, durch die der Sinn sich selbst sucht, um sich auszudrücken. Deshalb verweist das Sprachliche auf das, was hinter einem Ausdruck steckt, was den Sinn dahinter vermittelt und sicherstellt, dass man denselben Sinn erlebt. Aber da der Sinn nicht immer Sinn von sich selbst ist, sondern auch von etwas Anderem, wird das Sprachliche bei Richir nur in Bezug auf das Nichtsprachliche oder auf das Jenseits des Sprachlichen (le hors langage) artikuliert, das Richir mit dem Horizont der Transzendenz beschreibt, die er als physisch-kosmische Transzendenz bezeichnet. Deshalb ist beides in einer Reflexivität verwickelt, wobei diese Reflexivität wiederum wie bei der Reflexivität der Idee in ihrer Leiblichkeit den Überschuss und a fortiori die Unmöglichkeit des leiblichen Selbst bezeugt. Auf der einen Seite gibt es eine Reflexivität des Sprachlichen mit einem Ipse,Footnote 58 aber auf der anderen Seite gibt es auch eine andere Reflexivität des Jenseits des Sprachlichen ohne ein Ipse.

Damit sind wir nun bereit, unsere These für den nächsten Abschnitt zu formulieren: Diese beiden Reflexivitäten artikulieren ineinander, aber aus einem Abstand; dies hat für die Sinnbildung wichtige Gründe, die ich nachher erläutern werde. Außerdem sind wir der Meinung – wie wir gleich zeigen werden –, dass Richirs Konzeption eines Jenseits des Sprachlichen eine Herausforderung für die Theorie der Transparenz des Bewusstseins in der analytischen Philosophie darstellt, da das Jenseits des Sprachlichen das artikuliert, was dem Bewusstsein entgeht, auch wenn es im Abstand in das Bewusstsein eintritt. Wenn das Jenseits des Sprachlichen eine Herausforderung und Schwierigkeit für die Theorie der Transparenz des Bewusstseins in der analytischen Philosophie des Geistes darstellt, dann ist es so, weil 1) diese Theorie nicht in der Lage ist, Leiblichkeit in der menschlichen Erfahrung zu artikulieren und sie 2) den Leib nicht als einen Ort des Abstandes und des Überschusses versteht. All dies gehört zu unserer These.

Aber zunächst muss die folgende Frage geklärt werden: wie kann man diese beiden Reflexivitäten – Reflexivität des Sprachlichen mit einem Ipse und Reflexivität des Jenseits des Sprachliche ohne ein Ipse konret verstehen (während die erste die Kontinuität der Sinnbildung artikuliert, markiert die zweite die Unberechenbarkeit, das Abenteuer, die Flüchtigkeit der Sinnbildung, sodass beide den Abstand und den Überschuss des leiblichen Sinnss artikulieren)? Wir fangen zunächst mit der Reflexivität des Sprachlichen mit einem Ipse an, um später zur Reflexivität des Jenseits des Sprachlichen ohne ein Ipse überzugehen.

Wir haben bereits gesehen, dass die Temporalisierung der Idee (des Sinns) nicht wie bei Husserl eine kontinuierliche Temporalisierung eines Gegenwärtigen (présent) ist. Ein ursprünglicher Abstand des Versprechens und des Erfordernisses wohnt dem Sinn inne. Dieser Abstand markiert den Überschuss des Sinns in seiner Leiblichkeit. Während die transzendentale Vergangenheit die transzendentale Zukunft in sich trägt und umgekehrt, gleitet der Sinn in diese gegenseitige Öffnung. Aber die transzendentale Vergangenheit wird nicht in der transzendentalen Zukunft erschöpft und umgekehrt: die transzendentale Zukunft wird auch nicht mit der transzendentalen Vergangenheit identifiziert. Da kein Aspekt dieser Bewegung in den anderen bestimmend aufgenommen werden kann, kann man sich fragen, was dann am Ende übrig bleibt. Die hier gemeinte Bewegung (die Reflexivität) selbst ist die Kontinuität des Sinns. Die Kontinuität bedeutet zunächst, dass der Sinn teleologisch ohne BegriffFootnote 59 ist, wie Richir es in Anlehnung an Kants Kritik der Urteilskraft beschreibt. Jedoch bedeutet die Kontinuität nicht einen kontinuierlichen Ablauf eines Gegenwärtigen (présent). Kontinuität bezieht sich auf das, was den Sinn sicherstellt. Die Reflexivität ist das, was den Sinn sicherstellt. Damit der Sinn sichergestellt wird, braucht er deshalb eine Reflexivität mit einem Ipse, im Sinne eines reflexiven und phänomenologischen Leibs. Der Leib garantiert, dass der Sinn nicht in die Identität eines Sprachsystem verfällt, welches den Sinn idealisieren würde. Ohne die Leistung der Reflexivität, die der Leib hier erbringt, würde der hier gemeinte Sinn gesättigt und in die Bedeutung oder in die Bedeutsamkeit gleiten, wo die Temporalisierung in der Gegenwart ohne etwas GegenwärtigesFootnote 60 (temporalisation en présence sans présent assignable) ausgeschaltet und durch die Temporalisierung mit einem Gegenwärtigen ersetzt würde. Denn was bedeutet denn Sinnbildung, wenn nicht die Ipseität des leiblichen Selbst zu bewohnen, das diese Bildung leistet? Die Ipseität des Selbst in der Ipseität des leiblichen Sinns – das Ipse ist nicht nur für das leibliche Selbst, sondern auch für den Sinn selbst, wie Sacha Carlson meisterhaft gezeigt hatFootnote 61 – und umgekehrt bedeutet, dass es für den (in jedem) Leib einen Sinn gibt und, dass es in jedem Sinn einen Leib gibt. Damit Sinn überhaupt möglich ist, muss er für ein Selbst (Ipse) sein; der Sinn muss irgendwie dem Bewusstsein zugänglich werden – oder besser gesagt muss dieser Sinn seinen Boden auch im Bewusstsein haben können –, aber ohne, dass das Bewusstsein ihn bestimmt oder besitzt. Deshalb bringt Richir die Sinnbildung mit dem Bewusstsein eines Ipse in Verbindung, wie dies in der kantischen transzendentalen Apperzeption der Fall ist: Er schreibt, Sinnbildung bedeute „begleiten, ohne die Reflexivität zu erreichen, die dem Sinn in seiner Ipseitität eigen ist […] und diese Begleitung ist die der unmittelbaren transzendentalen Apperzeption des kantischen ‚ich denke‘.“Footnote 62 Wir wissen, dass diese reine oder ursprüngliche Apperzeption im Sinne Kants es ermöglicht, dass die mannigfaltigen Vorstellungen von einer Anschauung zu eigenen einheitlichen Vorstellungen werden können und zwar so, dass alle Vorstellungen vom „Ich denke“ begleitet werden können. Sie ist laut Kant deshalb das Selbstbewusstsein, dass das „Ich denke“ hervorbringt.Footnote 63 All das zeigt im Hinblick auf Richir, dass die Sinnbildung in einem Bewusstsein für ein Ipse geleistet wird, auch wenn der Sinn sich zugleich dem Bewusstsein entzieht. Hierzu werden wir noch kommen. Wird die Sinnbildung aus „Sicht“ einer Ipseität (Ipse) betrachtet, so wird aber die Sinnstiftung für ein Ego gedacht, für das der Sinn eine Identität der Bedeutung oder Bedeutsamkeit in einem Sprachsystem hat. Die Herausforderung der Reflexivität mit Ipse liegt darin, dass der Sinn dabei in sich implodieren könnte, wenn er nur von sich selbst handelt. Dies könnte auch zu einem ontologischen Simulacrum führen, das den Anschein erweckt, dass es sich beim Sinn immer um ein und denselben handelt. Was muss deshalb getan werden, damit die Implosion vermieden wird?

Diese Frage führt uns dazu, die Reflexivität ohne ein Ipse im Jenseits des Sprachlichen zu behandeln. Da der Sinn nicht für sich selbst allein sein kann – er spricht nicht nur über sich, sondern über etwas anderes außerhalb von sich –, so kann der Sinn seinen Anfang nicht in sich, sondern nur oberhalb von sich selbstFootnote 64 (en amont de lui) enthalten. Die Reflexivität ohne ein Ipse (dies wird in Bezug auf das Jenseits des Sprachlichen verstanden) bezeichnet eine anonyme Schwingung des Sinns zwischen seiner Erscheinung und seinem Verschwinden. Die Reflexivität geht nicht auf eine Protention oder Retention einer Sinnbildung, sondern auf eine Proto-Temporalisierung (der transzendentalen und schematischen Vergangenheit und Zukunft) und eine Proto-Spatialisierung (der transzendentalen und schematischen Vergangenheit und Zukunft) ohne Arche und Telos zurück. Das heißt, die Reflexivität steht nicht für einen bestimmten Sinn, der sich schon gebildet hat, noch ist sie für einen bestimmten Sinn, der sich noch bilden wird. Die Reflexivität deutet weder auf eine „Welt“, die ist, noch auf eine „Welt“, die sein wird, sondern auf eine „Welt“, die rein virtuell ist. Diese Welt ist nichts anderes als der Sinn in seiner Virtualität. Dadurch wird nicht dieser oder jener Sinn artikuliert sondern jeglich möglicher Sinn erscheint und verschwindet, teils zu früh, teils zu spät, als ein Überschuss oder als ein Mangel. Die Sinnbildung verweist deshalb auf die Vielfalt a priori des Sinns, der sich der Kluft von unbestimmten, anfänglichen Massen des Sprachlichen (langage) öffnet. Der Sinn bewohnt also das Sprachliche nicht als eine Möglichkeit, sondern als eine Unmöglichkeit. Er bewohnt es als eine TranspossibilitätFootnote 65 (Maldiney), über jegliche Möglichkeit hinaus, wobei nur einer der vielfältigen transpossiblen Sinne in der vielseitigen Sinnbildung zur Möglichkeit in der Retention oder der Protention wird. Die Retention und die Protention bleiben ihrerseits für die vielfältigen Sinnbildungen des Sprachlichen transpassibel.Footnote 66 Dadurch merken wir, dass diese zweite Reflexivität ohne ein Ipse die Unschuld, die Unberechenbarkeit, die Unbestimmtheit, das Abenteuer des Sprachlichen in Bezug auf den Sinn erfasst.

Diese Reflexivität ohne ein Ipse kann sich leiblich in Affektionen bezeugen. Es gibt also Affektionen, die einen in eine Welt bringen können, die über das hinausgeht, was vielleicht unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung des Begriffes oder des Seins nachvollziehbar ist. Dies geschieht zum Beispiel, wenn man stark aufgeregt ist und in eine rasende Situation freudiger Erheiterung gerät, die die eigene Zugangsfähigkeit übertrifft: Sicher erlebt man etwas Affektives, aber was man erlebt, geht über den eigenen Griff hinaus. Wir geben ein Beispiel: Während ich ein Wort auswähle, um auszudrücken, worüber ich nachdenke, kann ich mich unmittelbar mit einem Wort zufrieden geben. Das gleiche kann mir auch passieren, wenn ich versuche, meine Gefühle in Worte zu fassen. Ich könnte das Gefühl, etwa „freudig“ zu sein, in erster Linie als das passende spüren. Dann tauchen plötzlich nach einer Weile andere Gefühle in meinem Kopf auf und ich habe das Gefühl, dass „fröhlich“ besser erfasst, worüber ich nachdenke. Oder ich werde sofort sprachlos, da meine Gefühle plötzlich etwas anderes spüren. Dieser Prozess geht ohne Ende weiter. Aber ich könnte mich dann auch für eine von diesen vielen Varianten entscheiden, weil wir uns bei der Suche nach Wörtern, die unsere Gedanken ausdrücken, nur mit einer vorläufigen Alternative zufrieden geben. Dies zeigt, dass es nicht der Ausdruck ist, sondern der Sinn, der in seiner Leiblichkeit unbestimmt, unvollständig und unmöglich bleibt. Der Sinn ist in seinem Wesen radikal unmöglich, weil das leibliche Selbst gerade da seine Ohnmacht erfährt. Darüber hinaus bezeugt dieses Beispiel das Abenteuer und die Unschuld des leiblichen Sinns vor jeglicher Kontamination durch die Bedeutung. Die Reflexivität ohne ein Ipse bezeugt im Gegensatz zur Behauptung der logisch-eidetischen Stiftung (wir haben dies in Bezug auf Idealismus, Strukturalismus und Husserl oben schon erklärt), dass es nicht nur eine Sache, sondern eine Polysemie von Sachen zu sagen gibt, jedes Mal wenn man eine Idee (Sinn) von etwas hat, was man zum Ausdruck bringen will.

Mit der Reflexivität ohne ein Ipse sind wir schon beim Begriff des Jenseits des Sprachlichen (le hors langage). Die beiden Reflexivitäten sind ineinander eingeschrieben. Aber sie tun dies in Abstand zueinander. Das impliziert auch, dass die Reflexivität ohne ein Ipse innerhalb der Reflexivität mit einem Ipse liegt, genauso wie das Jenseits des Sprachlichen im Sprachlichen ist, wenn auch über einen Abstand. Wir merken, dass das Verhältnis zwischen beiden in der Schieflage (porte-à-faux) gedeiht, die jedes Schreiben oder Sprechen (parole) trägt. Dieses Verhältnis zeigt, dass etwas, das nichts mit dem Jenseits des Sprachlichen zu tun hat, nun aber direkt mit dem Jenseits des Sprachlichen verbunden ist, wenn auch durch einen Abstand. Hier begegnen wir der Schwierigkeit der Philosophie Richirs: Wir dürfen das Sprachliche nicht so sehen, als wäre es eine Reflexion des Jenseits des Sprachlichen. Dies ist eine enorme Schwierigkeit für Richir. Wie können wir vom Jenseits des Sprachlichen sprechen, ohne das Sprachliche zu verwenden und ohne das Vorige als Doppelgänger oder Reflexion des Letzteren zu denken? Es ist fast unmöglich; fast, weil es zwar doch, aber nur durch eine Abstraktion möglich ist. Das heißt, dass es notwendig ist, beide Reflexivitäten mit und ohne ein Ipse für die Sinnbildung zu konzipieren. Diese Notwendigkeit zeichnet die metaphysische Seite von Richirs Phänomenologie aus. Richir versteht das Jenseits des Sprachlichen als das, was aus der unergründlichen Tiefe der Äußerlichkeit, der Transzendenz entsteht, die er als „physisch-kosmisch“ bezeichnete. Es ist diese Transzendenz, die den Sinn dazu bringt, nicht nur Sinn von sich selbst zu sein, sondern Sinn von etwas anderem als sich selbst, wobei Sinn im Plural gedacht werden sollte. Die Transzendenz der Welt, die durch einen Abstand im Sprachlichen liegt und auf die hin das Sprachliche irgendwie sich zu sagen versucht und zu ihr hinstrebt – wobei die Transzendenz selbst ohne Arche und ohne Telos ist–, bezeichnet Richir als die Welt(en). Diese Welten (Transzendenz) verweisen durch ihre Proto-Temporalisierung bzw. Proto-Spatialisierung auf die Weltphänomene,Footnote 67 die das Bewusstsein und die Erfassung in der Zeit oder im Raum transzendieren. Diese Weltphänomene, um die es bei dieser Transzendenz geht, grenzen sich jedoch von jeglicher Art von Gegebenheiten in Raum und Zeit (Heidegger) ab. Da diese Weltphänomene die Phänomenalität der physisch-kosmischen Transzendenz bezeugen, liegen sie in Bezug auf dieselbe Transzendenz außerhalb des Sprachlichen. Deshalb werden sie als Weltphänomene im Jenseits des Sprachlichen bezeichnet. Nur insofern kann man von der Referenz des Sprachlichen sprechen, indem man diese Weltphänomene im Jenseits des Sprachlichen als die Referenz des Sprachlichen versteht.Footnote 68 Der Sinn hat sich selbst nicht ex nihilo geschaffen. Er ist Sinn nicht nur von sich selbst, sondern auch Sinn von etwas Anderem außerhalb von sich. Der Sinn erfasst die leibliche Dimension zwischen der Immanenz und der Transzendenz. Als leiblicher Sinn liegt er in einem Abstand zwischen dem Bewusstsen und dem Unbewussten. Er ist unmöglich. Somit berührt das Sprachliche das, was jenseits des Sprachlichen liegt, auch wenn dies durch einen Abstand geschieht.

9.3.2.1.1 Die Notwendigkeit der Reflexivität (mit einem Ipse und ohne ein Ipse) für die Sinnbildung zwischen dem Sprachlichen und dem Jenseits des Sprachlichen

Wir haben dafür argumentiert, dass die beiden Reflexivitäten (mit einem und ohne ein Ipse) für die Sinnbildung in Richirs Phänomenologie notwendig sind. So könnte man sich fragen, warum die beiden Formen der Reflexivität für Richir so wichtig sind; warum ist es notwendig – wir haben dies als die metaphysische Dimension von Richirs Phänomenologie bezeichnet –, die zweite Form der Reflexivität ohne ein Ipse hinzuzufügen? Warum ist das Jenseits des Sprachlichen wichtig für das Sprachliche? Die Leiblichkeit (im Sinne von Affektivität, die Mimesis, das Denken, die Wahrnehmung usw.) des Leibes (im Sinne eines reflexiven Selbst im engeren Sinne) könnte auch Zugang zu einer Sinnbildung geben, die gar nichts mit Richirs physisch-kosmischer Welt zu tun hat, so ein möglicher Einwand. Wir haben bereits eine Antwort angedeutet.Footnote 69 Aber versuchen wir nun andere Gründe zu nennen, warum wir der Meinung sind, dass die beiden Formen der Reflexivität (mit einem und ohne ein Ipse) in Bezug auf die Sinnbildung zwischen dem Sprachlichen und dem Jenseits des Sprachlichen wichtig sind.

Anhand der ersten Reflexivität erweist sich der Sinn erstens als das, was auf der Suche nach sich selbst ist; er ist sozusagen unterwegs zu sich. Aber nichts überzeugt einen davon, dass dieser Sinn keine transzendentale IllusionFootnote 70 des ontologischen Simulacrum trägt. Das heißt, es kann durchaus auch sein, dass dieser Sinn einfach nur ein Simulacrum ist, er jedoch den Anschein erweckt, dass er ein Phänomen wäre. Wir haben oben bereits zur Kenntnis genommen, dass das ontologische Simulacrum genauso wie ein Phänomen erscheint, dass es sich wie ein Schein oder Erscheinen (apparence) in dem Erscheinenden (lapparaissant) zeigt. Man merkt, wir übersetzen „apparence“ sowohl mit „Schein“ als auch mit „Erscheinen“ eines Phänomens, um zu zeigen, dass das Phänomen und das Simulacrum bei Richir irgendwie zusammenwohnen. Es gibt also kein Phänomen (erscheinende Erlebnisse), das nicht ständig vom Simulacrum (Schein) verfolgt und bedroht wird. Dies wird da offensichtlich, wo eine Instanz der Phänomenalisierung (des Prozesses, durch den das Phänomen artikuliert wird) idealisiert wird, als genügte sie sich selbst, als wäre sie auch zugleich ein Phänomen. Das war der Fehler des cartesianischen Zweifels, durch den das denkende Selbst sich selbst als Phänomen erscheint und gleichzeitig sich selbst phänomenalisiert. Das ist auch der Grund, warum das Phänomen „Gott“ ein gutes Beispiel für dieses ontologische Simulacrum ist, da jegliche prädikative Durchführung dieses Gottes wiederum zum Subjekt Gott führt und umgekehrt. Er ist derjenige, der mit sich selbst übereinstimmt – er erscheint sich selbst, genauso wie sich das cartesianische cogito sich selbst denkt. Wenn dies geschieht, ist das Phänomen auf dem Weg zu seiner Selbstvernichtung, da es dort am meisten durch das Simulacrum bedroht ist, wo es selbstbestimmt zu sein scheint. Damit die Phänomenalisierung der Sinnbildung nicht in die transzendentale Illusion eines ontologischen Simulacrums gleitet, muss sie von einer anonymen Reflexivität ständig mobilisiert werden. Dieser Vorgang zur Bewahrung des Phänomens des Sprachlichen vor jeglicher Verführung durch die transzendentale Illusion des Simulacrums dient Richirs transzendentaler Phänomenologie, wie wir ab dem ersten Kapitel angedeutet haben. Diese transzendentale Phänomenologie wiederum dient der Phänomenologie als Phänomenologie und nichts anderem als Phänomenologie und deshalb auch dem Phänomen und nichts anderem als dem Phänomen. Damit es der Sinnbildung gelingt, damit sie vor der Verführung des ontologischen Simulacrums bewahrt wird, damit sie die Bedingungen der transzendentalen Phänomenologie erfüllt, wird die zweite Reflexivität ohne ein Ipse konzipiert. Wir sind der Meinung, dass es Richirs Verdienst ist, das Phänomen parallel mit dem Simulacrum gedacht zu haben, was bei anderen Phänomenologen wie Husserl, Heidegger usw. gar nicht thematisiert wird und bei anderen nicht so stark wie bei ihm vorkommt; es ist uns allerdings bewusst, dass das Simulacrum in der Sache von den zeitgenössischen Phänomenologen behandelt wird.

Zweitens ist es auch nicht selbstverständlich, dass die Sinnbildung (das Unterwegssein des Sinns) gelingt. Oft verliert sie das Vermögen der Transpassibilität – wir haben dies schon erklärt – und verfällt in die Möglichkeit einer Idealisierung in einem Sprachsystem. Dort könnte der Sinn von der Wahrnehmung oder der Imagination verführt werden, wo er zum intentionalen Objekt wird (real oder anvisiert in einer Darstellung eines Bildes, wie wir schon in einem früheren Kapitel erklärt haben) – Richir nennt dies architektonische Transposition. Aber die anonyme Reflexivität ohne ein Ipse bewahrt anhand ihrer ständigen Schwingung die Sinnbildung vor jeglicher Setzung in der Objektivität oder vor der Gefangennahme eines intentionalen Objekts entweder durch Wahrnehmung oder durch die Imagination. Richir selbst spricht von einer „vorzeitigen Implosion des Sinns in der Identität der Bedeutsamkeit“Footnote 71 („Implosion prématurée du sens en identité de significativité“). In diesem Fall wird nicht mehr von Sinn im Sprachlichen, sondern von einem Begriff oder einer Bedeutung gesprochen.

Drittens gibt es eine labile Dimension der Sinnbildung, die die Unvorhersehbarkeit, Zufälligkeit und Spontaneität des Sinns zum Ausdruck bringt. Damit diese äußerst abenteuerliche Lebendigkeit und Leiblichkeit der Sinnbildung aufrechterhalten wird, muss sie von der blinden und anonymen Reflexivität ständig begleitet werden. Verfällt die Sinnbildung nicht in die Möglichkeit eines Sprachsystems, so heißt dies noch nicht, dass die Sinnbildung gelingen wird. Die Sinnbildung kann auch abgebrochen werden, sogar wenn keine Reflexivität mehr besteht.

Viertens könnte die Sinnbildung in sich selbst verkapselt sein, wenn die Reflexivität des Jenseits des Sprachlichen in der Reflexivität des Sprachlichen nicht vibriert. Im Kapitel über das Erhabene haben wir das Jenseits des Sprachlichen mit der Virtualität verbunden. In Bezug auf diese Virtualität der Referenz (die absolute Transzendenz) schreibt Richir: „Ohne die ‚Aktion‘ ihrer Virtualität wird das Sprachliche (langage), das trivial in der Sprache (langue) ausgedrückt wird, zu Geschwätz oder ideologischer Haarspalterei.“Footnote 72 Mit anderen Worten, wenn keine Virtualität der Transzendenz gegeben wäre, als das, was die Sicherstellung des Sinns leistet, so würde jedes Sprachliche einfach ein Herumreden sein, das keinen Sinn ergibt. Dies zeigt, dass man nur von Sinn sprechen kann, wenn es eine Interaktivität gibt. Der Sinn eines Lebens ist unmöglich ohne eine Interaktivität, genauso wie ein Leben unmöglich ist, ohne eine Interaktivität. Ein in sich geschlossenes Leben ist kein Leben mehr, das dem Selbst entsprechen kann. Die Reflexivität ist diese Interaktivität, die sowohl dem Selbst, dem Leben und dem Sinn innewohnt. Ferner wäre der Sinn in seiner Immanenz (Selbst) verkapselt, da er sich nicht verlassen könnte, um sich auf sich zu beziehen. Er wäre also blind, was bedeuten würde, dass das „nichts“ im Phänomen als nichts anderem als Phänomen sich nicht realisieren könnte. Die absolute Transzendenz ist diese Zusicherung der Virtualität für das Sprachliche (für den Sinn). Dies hat zur Folge, dass die Virtualität der absoluten Transzendenz die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ist, sodass wir sagen können, dass die Virtualität die lebendige Kraft des Realen (Sinns) ist.

Virtuell (Richir) ist das, was uns von dort drüben zu sich aufruft, auch wenn es hier nicht ist. Es grenzt sich von dem ab, was zwar noch nicht hier ist, aber hier sein könnte (im Sinne von Deleuze, wie im Kapitel über das Erhabene behandelt wurde): Das Virtuelle ist deshalb keine Potenzialität, etwas, das in manchen Welten existiert, aber nicht in jeder möglichen Welten existieren könnte. Jedoch bleibt das Virtuelle nicht weniger erlebt. Es ist das, wonach das Phänomen strebt, das was das Phänomen zur Freiheit ruft. Diese Freiheit besteht in der ständigen Reflexivität (die Ständigkeit dieser Bewegung markiert die Unendlichkeit) des Phänomens. Dadurch vermag es der Erfassung durch die Intuition im Bewusstsein zu entgehen und kann infolgedessen sein eigenes Leben führen. Der Sinn der sich im Herzen des Phänomens macht, beweist nicht nur den Aufruf von Seiten der Transzendenz, sondern artikuliert auch das Streben in die Unendlichkeit. Da der Terminus ad quem vom Sinn in der Unendlichkeit liegt, ist sein Wesen logischerweise in der Unmöglichkeit.

Nun kommen wir zum Ende der Begründung der Notwendigkeit der Reflexivität ohne ein Ipse (des Jenseits des Sprachlichen). Aber wir machen noch eine Anmerkung, bevor wir zum nächsten Punkt kommen: Wir haben gesehen, dass die Reflexivität zwischen dem Sprachlichen und dem Jenseits des Sprachlichen für die Sinnbildung notwendig ist. Diesbezüglich stellt sich die Frage, welche Folge ein Mangel an solch einer Reflexivität dann für Lebewesen oder auch Menschen haben würde, bei denen der Zugang zur Welt (Transzendenz) geschwächt ist. Möglicherweise haben wir bei Richir einige Ressourcen, um das Phänomen des Sinnes bei Tieren oder für Menschen in Zuständen von Autismus, Zwangsstörung, Schizophrenie usw. zu untersuchen. Unser Ziel besteht nicht darin, auf die oben gestellte rhetorische Frage einzugehen. Tatsächlich geht sie über den Rahmen unserer Arbeit hinaus. Aber wir sind der Meinung, dass wir bei Richir wichtige Ressourcen zur möglichen phänomenologischen AnalyseFootnote 73 dieser Phänomene finden können, denn es geht bei ihnen um den Zugang zur Welt innerhalb der Sinnbildung.

9.3.2.1.2 Die Herausforderung des Richirschen Nichtsprachlichen für die Theorie der Transparenz des Bewusstseins in der analytischen Philosophie des Geistes

Nun ist die Zeit gekommen, dass wir uns auf eine frühere Behauptung konzentrieren, nämlich, dass Richirs Begriff des Jenseits des Sprachlichen eine Herausforderung für die Theorie der Transparenz des Bewusstseins in der analytischen Philosophie des Geistes darstellt. Diese Behauptung soll als unsere These verteidigt werden. Wenn Richirs Jenseits des Sprachlichen eine Herausforderung und Schwierigkeit für die Theorie der Transparenz des Bewusstseins in der analytischen Philosophie des Geistes darstellt, dann ist dies so, weil 1) diese Theorie nicht in der Lage ist, Leiblichkeit in der menschlichen Erfahrung zu artikulieren und 2) weil sie den Leib nicht als einen Ort des Abstandes und des Überschusses versteht. Wir haben schon an mehreren Stellen verdeutlicht, dass das leibliche Selbst einen Überschuss des Erlebens eines Erlebnisses im Hinblick auf das Enigma des Sinns bezeugen kann. Anhand des Verhältnisses der Reflexivität (mit einem und ohne ein Ipse) zwischen dem Sprachlichen (langage) und dem Jenseits des Sprachlichen (hors langage) ist der Überschuss des Erlebnisses klarer geworden. Dies hat zur Folge, dass auch dem leiblichen Selbst Erlebnisse entgehen – was wir als Unmöglichkeit des Selbst ausgewiesen haben – genauso wie dem Bewusstsein manche Erlebnisse entgehen. Der Vergleich des leiblichen Selbst mit dem Bewusstsein basiert darauf, dass dieses Selbst das erlebende Selbst ist, dem die Welt auf gewisse Weise im Erlebnis erscheint. Das alles führt uns dazu, die Meinung zu vertreten, dass die Reflexivität (mit einem und ohne ein Ipse) zwischen dem Sprachlichen und dem Jenseits des Sprachlichen eine Herausforderung für die Theorie der Transparenz des Bewusstseins in der Philosophie des Geistes darstellt, da das Jenseits des Sprachlichen das artikuliert, was dem Bewusstsein entgeht, auch wenn es in das Bewusstsein im Abstand eintritt. Wie ist das aufzufassen?

Zunächst müssen wir verstehen, was die Theorie der Transparenz des Bewusstseins behauptet und sodann die Konsequenzen die zu dieser Behauptung gehören. Erst dann können wir sehen, inwiefern Richirs Theorie der Sinnbildung eine Herausforderung für dieselbe Theorie in der analytischen Philosophie ist. Es gibt unterschiedliche Varianten dieser Theorien. Oft geht diese Theorie auf Moore zurück, der das Bewusstsein als transparent oder „diaphanous“Footnote 74 bezeichnete:

The term „blue“ is easy enough to distinguish, but the other element which I have called „consciousness“ – that which sensation of blue has in common with sensation of green – is green – is extremely difficult to fix […].Footnote 75

Und:

The moment we try to fix our attention upon consciousness and to see what, distinctly, it seems to vanish: it seems as if we had before us a mere emptiness. When we try to introspect the sensation of blue, all we can see is blue: the other element is as if it were diaphanous.Footnote 76

Was heißt also die Transparenz des Bewusstseins (als diaphanous“), also dass das Bewusstsein durchsichtig ist? Wir haben es gerade gelesen: Transparenz bedeutet, dass das Bewusstsein schwer fassbar ist. Das Bewusstsein entzog sich für Moore so sehr, dass er es fast negiert hat. Was bleibt also für ihn von der Erfahrung übrig? Nur das Objekt, das blaue Ding. Mehr kann man nicht wissen. So vermittelt die Erfahrung einem Subjekt nichts Anderes als das, worum es bei der Erfahrung geht, nämlich das Objekt. Dies hat zur Folge, dass die Erfahrung von Blau sich von der Erfahrung von Grün allein anhand des Objekts und nicht des erkennenden Subjekts unterscheidet. Das Bewusstsein spielt dabei keine Rolle, da es in jeder Erfahrung das gleiche ist. Ungeachtet davon, ob ich Blau oder Grün empfinde, bleibt das Bewusstsein das gleiche. Es ist das, was die Empfindung von Blau und die Empfindung von Rot gemeinsam haben: es verändert sich nicht in von Fall zu Fall. Die Qualität des Bewusstseins bleibt die Gleiche. Die Empfindung von Blau oder Grün liegt in den intentionalen Eigenschaften des Objekts.

In der zeitgenössischen Philosophie des Geistes gibt es eine andere Variante dieser Theorie. Die meisten gehen davon aus, dass die Erfahrung durchsichtig (transparent) ist, was bedeutet, dass das Mittel der Darstellung der Wirklichkeit in der sinnlichen Erfahrung nicht erfasst wird. Wir zitieren Gilbert Hermann zu diesem Zweck:

When Eloise sees a tree before her, the colours she experiences are all experienced as features of the tree and its surroundings. None of them are experienced as intrinsic features of her experience. Nor does she experience any features of anything as intrinsic features of her experiences… When you see a tree, you do not experience any features as intrinsic features of your experience. Look at that tree and try to turn your attention to intrinsic features of your visual experience. I predict you will find that the only features there to turn your attention to will be features of the presented tree.Footnote 77

Dem Zitat entnehmen wir, dass wir das Medium, durch das die Erfahrung konstituiert wird, gar nicht selbst erleben. Mit anderen Worten, uns sind die inhärenten Eigenschaften der Erfahrung nicht gegeben. Sie bleiben uns unzugänglich. Transparenz des Bewusstseins besagt deshalb, dass die Erfahrung transparent ist. Dies ist eine andere Art und Weise zu meinen, dass Transparenz eigentlich DunkelheitFootnote 78 bedeutet, wie Thomas Metzinger erklärt hat. Die Erfahrung ist transparent, denn „you are not directly aware of any qualities of your experience“.Footnote 79 Laut Harman ist Eloise ihre „mental paint“ nicht bewusst, wodurch ihre Erfahrung eines Baumes konstituiert wird. Was bleibt Eloise dann bewusst zugänglich? Harman schreibt: „she is aware only of the intentional or relational features of her experience, not of its intrinsic non-intentional features.“Footnote 80 Dazu eine Randbemerkung: wir merken schon, wie stark die Annahme der Intentionalität im Sinne Husserls in der analytischen Philosophie des Geistes ist. Wenn uns die intrinsischen Merkmale der Erfahrung nicht bewusst sind, so sind uns nur die Gegebenheiten durch die Objekte bewusst. Was bei der Prüfung der Erfahrung übrig bleibt, sind nur die „intentionalen“ oder „relationalen“ Merkmale der Erfahrung. Wir bemerken sofort, dass Harman anders als Moore die intrinsischen Merkmale der Erfahrung nicht leugnet. Was Moore bestreitet, ist lediglich, dass sich das Subjekt der intrinsischen Merkmale der Erfahrung, der „mentalen Farbe“, bewusst ist. In diesem Sinne ist Harman weniger radikal als Moore, der die intrinsischen Merkmale neutralisiert.

Es gibt natürlich viele verschiedene Varianten dieser Theorie, die wir jedoch nicht alle hier behandeln können. Wir wollen uns aber zumindest fragen, was die Motivationen dieser Theorien sind. Was sind die unterschiedlichen Ziele der verschiedenen Variationen dieser Theorie? James Van Cleve gibt uns hierauf eine synthetische Antwort: 1) die Theorie macht die direkten realistischen Wahrnehmungstheorien möglich. Dies bedeutet, dass wir uns äußerer Dinge bewusst sind und nicht der Dinge, die in unserem Kopf vorgehen. Wir bekräftigen diese Idee noch mal mit einem Zitat von Harman: „In the same way, what Eloise sees before her is a tree, whether or not it is a hallucination. That is to say, the content of her visual experience is that she is presented with a tree, not with an idea of a tree.“Footnote 81 Ungeachtet dessen, ob Eloise ein mentales Bild der Umwelt hat oder nicht, – es kann ja sein, dass sich Eloise einer Darstellung von dem, was das mentale Bild vermittelt, bewusst ist: dies zeigt wiederum, dass Harmann diese intrischen Merkmale der Erfahrung nicht leugnetFootnote 82 – ist klar, dass das mentale Bild „something in the world, not something in the mind“ darstellt. 2) Die Theorie der Transparenz des Bewusstseins macht die Welt begrifflich sicher für den Materialismus. 3) Manchmal besteht das Motiv darin, eine Sichtweise der „representationalist or intentionalist view of experience“Footnote 83 vorzustellen. Nach dieser Auffassung ist der Charakter der Erfahrung durch ihren „representational or propositional content“Footnote 84 erschöpfend beschrieben.

Warum denken wir aber, dass Richirs Phänomenologie der Sinnbildung für diese Theorie der Transparenz des Bewusstseins eine Herausforderung ist? Zunächst stellen wir fest, dass diese Theorie eine reduktionistische Darstellung der Erfahrung ist. Die Erfahrung ist komplizierter als sie zu verstehen gibt; sie hat eine umfassendere Dimension. In der Theorie werden zudem bestimmte Formen der Erfahrung ausgeblendet. Beispiele sind: einem Gespräch zu folgen, andere Leiber zu verstehen, einen Artikel zu lesen, Musik zu hören, an Kunstwerken teilzuhaben oder sogar Emotionen wie Liebe oder Verliebtheit zu erleben, eine Geschichte zu erzählen, eine Dissertation oder einen Artikel zu schreiben, in der Tätigkeit des Denkens zu sein usw. Unsere erste Bemerkung ist also, dass die Theorie der Transparenz des Bewusstseins die Erfahrung stark verarmt. Zweitens wird diese Theorie am Beispiel der Wahrnehmung modelliert. Das Beispiel der Wahrnehmnung verteidigt somit eine Form des naiven Realismus. Alles, was wir wissen, sind nur die beabsichtigten Merkmale der Erfahrung, die Körperlichkeit der Welt. Mehr wissen wir nicht. Diese Theorie ist sich jedoch nicht bewusst, dass die Objekte der Wahrnehmung unbestimmt sind – wir wollen hier nicht auf diese Problematik eingehen, da wir sie schon in einem früheren Kapitel behandelt haben; es genügt, hier darauf aufmerksam zu machen, dass das Objekt der Wahrnehmung auch eine Kehrseite, eine versteckte SeiteFootnote 85 hat, sodass die Wahrnehmung der Oberfläche für die Bestimmung eines Objekts nicht ausreicht. In besagtem Kapitel wurde auch festgestellt, dass die Unbestimmtheit der Wahrnehmungsobjekt nicht im Objekt selbst, sondern in der Phantasia (a fortiori) der Leiblichkeit liegt. Außerdem kann diese Theorie der Transparenz des Bewusstseins nicht erklären, warum ich nun Grün und nicht Blau empfinde, oder warum zwei unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen würden. Sie würde sagen, es komme einfach auf das Verhältnis zum Objekt an – mehr wissen wir nicht. Aber Van Cleve hat argumentiert: „It seems to me that a change in what I perceive is ipso facto a change in me – that I am different in some intrinsic way when I stop seeing red and start seeing green.“Footnote 86 Mit anderen Worten geschieht die Veränderung des Erlebnisses auf der Seite des Subjekts und nicht der des Objekts. Die Veränderung im Subjekt erklärt, warum er nun Grün empfindet und nicht mehr Rot. Laut Van Cleve ist diese Veränderung eine Veränderung des Geistes, des Bewusstseins. Unser Ziel aber ist es wie gesagt nicht, auf dieser Ebene der Wahrnehmung zu argumentieren. Verlassen dieses und stellen uns eine umfassendere Dimension der Erfahrung vor, so wird klar, dass die intentionale Dimension des Inhalts der Erfahrung problematisch wird.

Nehmen wir das Beispiel des Lesens eines Romans oder eines Artikels. Was ist mir bewusst, wenn ich einen Artikel oder einen Roman lese? Wenn wir der Theorie des transparenten Bewusstseins folgen würden, würden uns nur die Buchstaben oder die Wortdarstellungen bewusst. In Schwarz und Weiß kann mir also nur der propositionale Gehalt der Formel vermittelt werden: X ist P. Dementsprechend erkenne ich nur die semantischen Zeichen, die mir bestimmte Objekte durch den Leibkörper (zum Beispiel meine Augen oder die Ohren im Falle des Zuhörens) vermitteln: „Anne Linda Berger ist eine Frau“, „Philosophie ist interessant“ und so weiter. Wenn also eine andere Person denselben Roman lesen würde, so könnte sie oder er das gleiche Ergebnis erzielen, den Satzinhalt: „Anne Linda Berger ist eine Frau“, „Philsophie ist interessant“. Aber so funktioniert das Lesen nicht. Wir hypostasieren die geschriebenen Buchstaben eines Buches nicht als wären sie das, worauf alles ankommt. Gemeint ist, dass wir sie beim Lesen nicht zum Zweck machen. Beim Lesen werden sie vielmehr oft ausgeblendet. Ich habe keinen Zugang zu einem Roman allein durch die Struktur eines propositionalen Gehalts, durch die Buchstaben, die bestimmte Objekte vermitteln. Noch habe ich Zugang zur erzählten Geschichte in einem Roman allein anhand der Wortlaute, die mir bestimmte Objekte in der Welt vermitteln. Ich kann nur durch den Sinn hinter den Buchstaben des Buches oder hinter den Wortlauten Zugang zum Roman oder zum Artikel, bzw. Zugang zur erzählten Geschichte durch den Roman oder den Artikel haben. Deshalb schreibt Thomas Reid: „we do not attend to the sound, but to the sense.“Footnote 87 Auch Reid war es bestimmt nicht bewusst, dass dieser Sinn mir nicht zur freien Verfügung steht. Er ist unbestimmt, wie Richir gezeigt hat. In diesem Sinne sind mir die Merkmale der Welt (im Sinne eines naiven Realismus) nicht einmal bewusst, genauso wie ich kein Blau oder Grün (bestimmt) sehe – was nicht heißt, dass die Leistung der Leibkörpers dabei gar nicht zählt –, sondern nur, dass ich etwas Bläuliches, etwas Grünliches (unbestimmt, überschüssig) erlebe. Ich bin mir dabei aber des Sinnes des Romans nur zum Teil bewusst. Das bedeutet, dass mir der Sinn hinter den Buchstaben des Buches – der einzige, dessen Erfahrung ich mir sicher sein kann – entgeht. Einerseits sieht es so aus, als würde ich den Sinn des Romans im Griff haben, andererseits aber, dass ich den Sinn in gewisser Weise nicht besitze. Ich weiß, dass, wenn ich anfange, die Geschichte über den Inhalt des Buches zu erzählen, oder wenn ich darüber nachdenke, dass mir die passenden Worte entgehen. Wenn also zwei Personen denselben Roman von Chinua Achebe „Things Fall Apart“ lesen würden, so würden sie möglicherweise zwei unterschiedliche Eindrücke, oder zwei unterschiedliche Vorstellungen von der Hauptfigur des Romans, Okonkwo, erhalten. Und sollten sie die Geschichte von Okonkwo einer anderen Person erzählen, so würden sie ständig nach den passenden Worten suchen. Nichts stellt sicher, dass die Erzählungen gelingen würden.

Wir sehen, dass es problematisch ist, die phänomenalen Erlebnisse auf intentionale Objekte der Welt zu reduzieren. Die qualitativen Eigenschaften der bewussten Erfahrung gehen über das hinaus, was dem Bewusstsein intentional erscheint, oder was dem Subjekt als intentionale Eigenschaften gegeben wird. Die qualitativen Eigenschaften (Sinn z. B. in seiner Lebendigkeit und Leiblichkeit) sind dem Bewusstsein gegeben; aber sie entgehen dem Bewusstsein zugleich auch. Man könnte sagen, dass sie ein Bein im Bewusstsein und ein anderes Bein außerhalb des Bewusstseins haben. Sie sind da und nicht da. Sie sind durch eine Negativität und eine Positivität gekennzeichnet: vielleicht könnten wir sie mit Pseudo-Dionysius als überhelle Finsternis der StilleFootnote 88 und Unwissenheit beschreiben. Dies ist eine negative Weise qualitative Eigenschaften zu beschreiben. Aber hier impliziert die Negativität (Finsternis und Unwissenheit) keinen Mangel an Erkenntnis, denn man weiß durchaus, dass etwas im Leib erlebt wird. Die hier gemeinte Negativität ist positiv. Wir sind der Meinung, dass diese Negativität vielleicht der höchste Punkt dessen ist, was dem Leib je zugänglich sein kann. Der leibliche Sinn, der in den qualitativen Eigenschaften vermittelt wird, ist in seiner Dunkelheit, sprich in seiner Unmöglichkeit, die Grenze oder der höchste Punkt der Welterschließung. Das heißt, dass wir in ihm in ein phänomenologisches Licht gelangen. Jedoch ist dies nicht ohne Epoché möglich, da wir eine Art von Blindheit einüben müssen, um Zugang zum Licht des leiblichen Sinns, des Phänomens zu bekommen. Die Wirklichkeit, die durch das Sehen verhüllt wird, muss deshalb negiert werden, damit dieses verhüllte Licht im Erlebnis zugänglich gemacht wird. Die Augen eines erkennenden, sehenden Begreifens (mit anderen Worten alles, was sich der intentionalen Gegebenheit eines Objekts bedient) müssen geschlossen werden, damit das unsichtbare Licht erscheinen kann. Noch einmal zur Sache: der Sinn ist dadurch da, dass er nicht da ist. Er ist kurz gesagt unbestimmt. Er ist ein sich machender Sinn (Sinnbildung), der nicht aufhört, sich zu bilden und deshalb kommt er nicht zur Ruhe einer Positionierung (im Sinne von doxa). Er beweist, dass die qualitativen Eigenschaften dem Bewusstsein gegeben zugleich entzogen sind. Solch eine Konzipierung des phänomenalen Erlebnisses ist für die analytische Philosophie des Geistes eine Herausforderung. Ned Block bestätigt diese Problematik, wenn er schreibt, sie sei „the greatest chasm in the philosophy of mind“.Footnote 89 Es ist aber Richirs Verdienst, solch einen Überschuss des Leibes konzipiert zu haben, indem er schreib:

Korrelativ hat das Bewusstsein im phänomenologischen Sinne nichts von einer für sich selbst absolut transparenten Selbstpräsenz, von einer reinen Intuition des Selbst in der Zeitlosigkeit des Augenblicks – einer Art metaphysischer Fiktion, die klassisch Gott vorbehalten ist –, aber alle Präsenz, die von Abwesenheiten durchdrungen wird, von einem Sinn im Plural, der auf mehreren Ebenen gleichzeitig gemacht wird, indem er reift und sich zeitlich bildet, oder besser, indem er die Zeit auf diese Weise klärt, und dies, in und auf einer Masse, in unaufhörlicher Bildung, von mehrfachen Sinn, unbewusst, weil er verfinstert ist, sobald er beginnt, umgekehrt und meistens umgekehrt zu dem, was bewusst als Sinn gebildet wird.Footnote 90

Wir werden es nicht schaffen, jedes Wort dieses zentralen Zitats zu kommentieren. Beschränken wir uns daher nur auf die wichtigsten Aspekte, die alles zusammenfassen, was wir bisher zu vermitteln versucht haben. Das erste, was zu bemerken ist, ist, dass es um das Rätsel des Bewusstseins geht, in dem der Sinn teils gebildet wird. Richir betont, dass das Bewusstsein sich selbst nicht transparent ist. Mit anderen Worten ist die Erfahrung sich nicht selbst transparent, als wenn die qualitativen Eigenschaften durch die intentionalen Merkmale erschöpft wären. Richir erklärt, dass Bewusstsein eine Präsenz ist, die aber von Abwesenheit durchdrungen ist. Die Präsenz ist die des Sinnes. Der Sinn, wir haben es oben gezeigt, artikuliert wiederum die leibliche Dimension zwischen der Immanenz des Bewusstseins und der Transzendenz des Unbewussten (des Virtuellen). Deshalb ist dieser Sinn als etwas, das ich erfassen kann, nicht vollständig vorhanden. Er fehlt immer auch, er ist in ständiger Bildung, er erscheint und verschwindet – er ist uns bewusst und gleichzeitig unbewusst. Dies geschieht in Schwankung und Wechselwirkung. Diese verschwindenden und unbewussten Aspekte werden von den von uns rekonstruierten Theorien der Transparenz des Bewusstseins nicht deutlich erfasst. Wir sehen damit, dass Richirs Phänomenologie für die Theorie der Transparenz des Bewusstseins eine Herausforderung ist.

9.3.2.1.3 Der Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit zur Artikulation des Überschusses der Erfahrung und dem Mangel an der Artikulation des Überschusses des Leibes und der Leiblichkeit in der analytischen Philosophie des Geistes

Wenn es, wie wir gesehen haben, wahr ist, dass die Theorie der Transparenz des Bewusstseins in der analytischen Philosophie des Geistes die Unbestimmtheit der Erfahrung nicht artikulieren kann, so könnte man fragen, woher diese Schwierigkeit kommt. Wir sind der Meinung, dass zwei Gründe dafür angeführt werden können: Der erste kann auf einen Mangel an Leiblichkeit bei der Artikulation von Erfahrung zurückgeführt werden. Wir haben gezeigt, dass Richir das Bewusstsein der Erfahrungen thematisieren konnte, deshalb, weil die Phänomenologie selbst die Erfahrung im Kontext des Leibes thematisiert. Dies ist aber in der analytischen TraditionFootnote 91 nicht der Fall. Zwar gab es in jüngster Zeit neue Entwicklungen in dieser Richtung (wie Prinz’ „embodied appraisal theory“Footnote 92), um dem Mangel an Leiblichkeit in analytischen Theorien der Erfahrung oder affektiven Zuständen zu überwinden; aber solchen Beschreibungen über den Leib fehlt immer noch der wesentliche Aspekt der Artikulation von Erfahrung (zum Beispiel eine emotionale Episode eines erlebenden Subjekts). Sie verpassen daher einen wichtigen Aspekt, der für die Erfahrung notwendig ist: den persönlichen und subjektiven Aspekt der Emotion. Der persönliche Standpunkt (Peter GoldieFootnote 93) beschreibt die Erfahrung auf der Ebene eines subjektiven Erlebnisses. Vom Standpunkt des Erlebnisses eines Subjekts wird dann die Welt vermittelt. Deshalb ist der Begriff des Leibes, um es mit Ricoeur auszudrücken, für den Begriff der Person (des Menschen) von großer Bedeutung. Der Begriff eines Menschen ist laut Ricoeur nicht weniger grundlegend als der Begriff des Leibes.Footnote 94 Die Gleichursprünglichkeit der beiden Begriffe impliziert für uns, dass man nicht von der Erfahrung eines Menschen sprechen kann, ohne dass diese Erfahrung die eines Leibes ist. Das ist die Idee eines erlebten Leibes in Merleau-Pontys Phänomenologie: wie der Leib das Zentrum der Erfahrung der Welt ist, auch wenn Merleau-Ponty dabei keinen Dualismus – das Subjekt auf der einen und die Welt auf der anderen Seite – verteidigt. Zentral für die Unfähigkeit, die Unbestimmtheit und den Überschuss der Erfahrung zu artikulieren, ist der Mangel an Leiblichkeit in der Philosophie des Geistes.

Mit diesem Gedanken kommen wir zum zweiten Grund, warum die analytische Philosophie die Unbestimmtheit und den Überschuss der Erfahrung nicht artikuliert. Der Leib ist, wie wir in den vorhergehenden Kapiteln gesehen haben, ein Ort des Abstandes (écart); er ist also kein Ort der Übereinstimmung mit dem Selbst. Dies haben wir auf zwei Ebenen untersucht: Zum Einen im Kapitel über die χώρα, in dem gezeigt wurde, dass Richir einen unvermeidbaren Abstand zwischen dem Leib und dem Leibkörper verteidigt. Der Abstand wird durch die Leiblichkeit aufrechterhalten. Auf einer zweiten Ebene verteidigten wir im Kapitel über das leibliche Selbst eine lückenhafte Einheit zwischen dem Leib und dem Körper. In Anlehnung an Husserls These der Übertragung der Erscheinungen mit ihren Empfindungsdaten auf den Leib – die Verankerung des Leibes in den Körper – war diese Verankerung für Richir sehr lose,Footnote 95 nicht fest, sondern flüchtig. Für Richir sei der Leib laut Forestier nicht ganz Leibkörper und der Körper sei nicht ganz leiblich.Footnote 96 Die Folge all dieser Bewegungen ist, dass der Leib-KörperFootnote 97 – wir haben diese Schreibweise in demselben Kapitel vorgeschlagen, um den Abstand zwischen Leib und Körper zum Ausdruck zu bringen – ein Ort der Unbestimmtheit ist. Die Übertragung all meiner affektiven Erfahrung der Welt auf meinen Leib folgt also nicht der Formel X ist P, denn der Leib-Körper bezeichnet eine Unbestimmtheit. Die Unbestimmtheit hatten wir mit der Formel zum Ausdruck gebracht, dass der Leib-Körper ein unmögliche Möglichkeit ist, wobei der Leib die Dimension der UnmöglichkeitFootnote 98 in Bezug auf die Sinnbildung und die Körperlichkeit die Dimension der MöglichkeitFootnote 99 in Bezug auf die symbolische Stiftung des Sinns erfassen. So artikuliert die Leibthematik etwas Unbestimmtes in jeder subjektiven Erfahrung, entweder als Überschuss oder als Mangel. Solche Darstellung des Leibes als Ort der Unbestimmtheit und damit als Ort, an dem die Unbestimmtheit (die Intransparenz) der Erfahrung nachvollziehbar ist, sind der analytischen Philosophie des Geistes fremd und herausfordernd für sie. Ohne den unbestimmten Leib als Ort des menschlichen, leibhaftigen Seins, würde alle Theorie der Kognition einfach reine Abstraktion bleiben. Denn der Leib ist der Ort, an dem jegliche „metaphysische Frage einen konkreten, legitimen Sinn erlangt.“Footnote 100 Damit erlagen die unbestimmten Phänomene des Sprachlichen, welche Idee und Gedanken nicht ausschließen sondern implizieren, diesen „konkreten, legitimen Sinn“ nur in Hinblick auf den Leib. Das heißt, dass die Legitimation der Idee (die Lebendigkeit der Theorie) nur innerhalb des unbestimmten Leibes konzipiert werden kann. Sonst verfällt sie in reine Abstraktion.

9.3.2.2 Die Reflexivität zwischen dem Sprachlichen und dem Symbolischen als eine leibliche Sinneröffnung

Wir haben mit der Idee angefangen, dass der Sinn, welchen uns die Leiblichkeit erschließt, als Sprachphänomen seinen Zusammenhalt in den Bewegungen 1) zwischen dem Sprachlichen oder dem Phänomenologischen (langage) und dem Symbolischen (langue) und 2) zwischen dem Sprachlichen (le langage) und dem Jenseits des Sprachlichen (hors langage) findet. Darin liegt die Neuartigkeit von Richirs Phänomenologie des Sprachlichen, worin auch die Wurzel seines dualistischen Denkens zu sehen ist. Nachdem wir die Art von Bewegung oder Beziehung zwischen dem Sprachlichen und dem Jenseits des Sprachlichen entwickelt haben, ist es nun Zeit, die andere Art von Beziehung oder Bewegung zwischen dem Sprachlichen und dem Symbolischen zu kommentieren. Damit werden wir auch den zweiten Teil dieses Kapitels beenden. Bevor wir zu dieser Bewegung kommen, wollen wir kurz die zwei genannten Dimensionen in den Blick nehmen: So sehen wir auf der einen Seite die Sinnbildung (le sens se faisant) – also der Sinn, der sich macht (bildet), und dem es nicht gelingt, komplett gemacht (gebildet) zu werden – was aber auch den Überschuss des Sinns bezeugt und, auf der anderen Seite eine Stiftung des Sinns in der symbolischen Institution und daher in allen Formen der Kultur.

Anhand dieser zwei Dimensionen ist es offensichtlich, dass die Erschließung der Welt anhand der Leiblichkeit, von der Richir gesprochen hat, 1) auf der einen Seite die Prekarität des Sinns ausdrückt jedes Mal, wenn wir versuchen, ein leibliches Erlebnis wie eine Emotion zur Sprache bringen zu wollen. Diese Prekarität des Sinns entspricht der Unbestimmbarkeit des Phänomens, das sich im LeibFootnote 101 vollzieht und gibt somit der erlebten affektiven Gemütsregung einen Charakter der Nichtpositionalität.Footnote 102 Hier liegt die Idee eines phänomenologischen Sinns. Wenn die Idee des phänomenologischen Sinns erhalten bleiben soll – es ist die Idee des Überschusses an phänomenologischer Erfahrung, die Husserl in Analysis zur passiven Synthesis anhand der zeitlichen Wahrnehmung der Welt (des Objekts) vielfach ans Licht gebracht hat – kann diese Art von Sinn laut Richir nicht durch die Dimension der PassivitätFootnote 103 erfasst werden. In dieser Abgrenzung von Passivität scheint sich Richirs genetische Phänomenologie von der genetischen Phänomenologie Husserls zu unterscheiden, oder sogar in einer tieferen Schicht der Phantasia zu wurzeln. Denn die Passivität, wie sie in der Prä-Reflexivität des Leibes bei Merleau-Ponty ersichtlich und evident ist, hätte den Sinn im Voraus erschöpft und das Spontane und Unerwartete unzulässig und unmöglich gemacht. Anstelle der Passivität spricht Richir von der Transpassibilität zum Transpossiblen. Auch aus diesem Grund kann die Idee der Bildlichkeit die Idee der phänomenologischen Sinnbildung nicht umfassen, da eine solche Bildlichkeit durch ein Eingreifen der Intentionalität der Imagination auch die Sinnbildung erschöpft hätte. Die Sinnbildung wäre tot. Der einzige Weg, die phänomenologische Sinnbildung zu bewahren, die auch die ultimative Idee des Überschusses bewahrt, besteht nur in einem ständigen Fluss von Aktivität,Footnote 104 der die Sinnbildung unvorhersehbar macht, sie immer offen lässt und jedes Mal zu übertreffen ist. Denn die ursprüngliche und archetypische Motilität, die grundlegende Kinästhesie, wurzelt in keinem anderen architektonischen Register als dem der Phantasia (Leiblichkeit) – dies geschieht weder im Jenseits irgendeiner Form von Bildlichkeit, noch in der Intentionalität noch in irgendeiner Passivität. Aus diesem Grund wäre die Behauptung, dass der „lebendige Charakter“ eines Romans von einem Schauspieler – so talentiert er auch sein mag – anschaulich dargestellt werden könnte, enttäuschend und irreführend. Laut Richir ist dies irreführend,

denn niemals wird es diesem oder jenem Schauspieler, unabhängig von seinem Talent, gelingen, die Komplexität des Charakters wiederzugeben, wie sie dem Autor eines Romans im Verlauf seines Schreibens auferlegt wurde, und wie sie erneuert dem aufmerksamen Leser auferlegt wird, der sich nicht in die phantasmatischen Fallen der imaginären Identifikation verwickeln lässt.Footnote 105

Wenn der Schauspieler die Komplexität der lebendigen Figur (Hauptfiguren oder Nebenfiguren) im Roman nicht wiedergeben kann, dann deshalb, weil das Leben – dieses Leben ist nichts anderes als die Leiblichkeit des Leibes – in der Phantasia (Leiblichkeit) nicht erschöpft werden kann.

2) Auf der anderen Seite haben wir es mit der Stiftung des Sinns in der symbolischen Stiftung eines Sprachsystems zu tun. Dabei spielt das Sprachsystem eine soziale Rolle, das im Gegensatz zur Aktivität der Sinnbildung eine Passivität verkörpert. Deshalb kann wegen diesem sozialen, kulturellen Zusammenhang die Sprache (langue) nur eine symbolische Interaktion in einem bestimmten Sprachsystem vermitteln. Die Sprache ist demnach nichts anderes als die Vermittlung von sozialen, kulturellen Rollen, Normen oder Verhältnissen. Die soziale Rolle deutet auf ein typisches Muster hin und hat in der Regel eine Funktion für Menschen in jenen Gesellschaften. Zum Beispiel haben eine Professorin, ein Gutachter, eine Frau oder ein Mann, ein Kind usw. ihre bestimmte Funktion im jeweiligen sozialen System. Das Igbo-Wort (aus der Biafra Region im Südosten von Nigeria) „nwa nna“ (Wortwörtlich: „der Sohn von Papa“), das kein Äquivalent in der westlichen Welt hat, beschreibt eine Art von Affinität, die eine Person auch zu einer fremden Person aus der gleichen Sprachgruppe haben kann. Das Wort Amae drückt laut MorshbachFootnote 106 und Tyler ein erfreuliches Gefühl kindlicher Abhängigkeit von einer Person oder Situation aus, das nur für Menschen aus Japan verständlich ist. Daraus lässt sich schließen, dass Menschen, die das Symbolische in einer Sprachgruppe nicht erworben haben, von diesem Symbolischen ausgeschlossen bleiben. Demnach wäre der Sinn jedes Ausdrucks vollständig, bestimmt geschlossen, passiv usw.; man müsste ihn nur erwerben. Um diese Eigenschaften eines symbolischen Systems zu veranschaulichen, geben wir nun ein Beispiel mittels der gestifteten Emotionen in unterschiedlichen Sprachsystemen. Laut Averill ist eine Emotion „a transitory social role (a socially constituted syndrome) that includes an individual’s appraisal of the situation, and is interpreted as a passion rather than as an action.Footnote 107 Laut dieses Zitats erfüllt eine Person eine soziale Rolle, die eine Emotion wie amae (Japan), Eifersucht (Deutsch), „Akpiri ogologo (Igbo) erlebt. Averill bekräftigt die soziale Rolle von Emotionen dadurch, dass sie Leidenschaften (passions) und keine Handlungen (actions) seien. Das heißt, dass Emotionen passiv und bereits geschlossen sind, da sie die Bestimmung eines sozialen Zusammenhangs artikulieren, der schon fertig ist. Wenn ich also eifersüchtig bin oder in einem Zustand von amae, dann ist das nicht das, was ich mir ausgesucht habe, sondern einfach etwas, das von sich aus geschieht und einen sozialen Zusammenhang ausdrückt. Insofern vermitteln die Worte amae, Eifersucht, nwa nna bestimmte soziale Zusammenhänge, in denen Menschen sich befinden (passiv). Das Wort „Trauer“ bei einer Trauerfeier drückt den sozialen Zusammenhang eines Menschen aus, der um seine verstorbenen Liebsten trauert. Die „Freundlichkeit“, die „Höflichkeit“ von Verkäufern, Rezeptionisten usw. verkörpet eine soziale Funktion gegenüber dem Kunden. Wir sehen hier, dass sich die Emotionen (bestimmt) in einem bestimmten Sprachsystem von Gefühlen (unbestimmt) beim Phänomen des Sprachlichen stark unterscheiden. In einem Sprachsystem ist der Sinn deshalb symbolisch gestiftet, bestimmt und geschlossen.

Im Blick auf die Frage, die unsere Arbeit leitet, wird damit Folgendes klar: Der Sinn, welchen uns die Leiblichkeit eröffnet, lässt sich einerseits in einem leiblichen Erlebnis einer affektiven Gemütsregung (dies könnte geschehen, während einer Fremderfahrung durch die Einfühlung, des Verstehens eines sprachlichen Ausdrucks, des Verstehens der emotionalen Lage des anderen usw.), das man zur Sprache bringen will, als eine Pluralität von Welten (Sprachlichen) und andererseits in einer leiblich gestifteten Affektivität als eine Singularität von Welt (symbolisch) begreifen, wobei es aber eine Pluralität leiblich gestifteter Affektivität gibt – so viele, wie es Kulturen gibt. Das erste ist jeglicher Art empirischer Forschung nicht zugänglich, wohl aber der transzendentale Boden der Phänomenologie; das zweite könnte indes von den objektiven Wissenschaften untersucht werden. Das Problem aller empirisch motivierten Erfahrungsforschung besteht darin, den ersten phänomenologischen Aspekt zu übersehen, der die Unbestimmtheit der Erfahrung artikuliert, ihn überhaupt in ihrer Problemstellung nicht vor Augen zu haben.

Nun müssen wir auf die Frage eingehen, was für eine Bewegung oder Beziehung es überhaupt zwischen dem Sprachlichen und dem Symbolischen gibt. Einfach ausgedrückt ist es eine – und das ist unsere These, mindestens zur Zeit der Verfassung der Studie – Zickzack-Bewegung. Dass sich die phänomenologische Untersuchung im Zickzack bewegt, ist an eine Idee Husserls in den Logischen Untersuchungen angelehnt. Warum solch eine Bewegung, da es doch so aussieht, als gäbe es nur ein Parallelverhältnis zwischen dem Bereich der Phänomene und dem Bereich des Symbolischen? Erstens hatten wir in der logisch-eidetischen Stiftung des Sprachlichen gesehen – dies ist evident in Husserls Logische Untersuchungen –, wie die Dimension des Denkens der Dimension des Seins und die Dimension des Zeichensystems der Dimension eines Sachverhalts entsprechen muss. Für Richir impliziert dies eine symbolische Tautologie (eine Zirkularität). Wie könnte man diese Tautologie vermeiden? Wir hatten gesehen, dass das Erlebnis des Denkens (der Idee und des Sinns ihrer Leiblichkeit) unbestimmt ist. Das heißt, dass wir die Selbsttransparenz der symbolischen Stiftung anhand der Unbestimmtheit des Erlebnisses vermeiden können. Zweitens sind wir, da wir uns nicht an die Nichtgegebenheit im Voraus des Phänomens halten können, immer wieder dazu geführt, das Phänomen vorzubestimmen. Bisher haben wir zwei wichtige Punkte erwähnt: auf der einen Seite ist es so, dass die Sachen der Phänomenologie, die zu analysieren sind, eine bestimmte, bereits gegebene aber auch kontingente Seite haben. Aufgrund ihrer Kontingenz schreibt Richir dieser gestifteten Seite einen Mangel an Arche zu. Dies hat zur Folge, dass die Sache uns in der Obskurität ihres Sinns erscheint. Mit anderen Worten: in jedem symbolisch gestifteten System wie der Sprache gibt es auch einen unbestimmten, aber bestimmbaren, teleologischen Horizont. Das ist die Seite des symbolischen Systems, die sich zur Sinnbildung öffnet. Diese teleologische Seite eines Sprachsystems sorgt dafür, dass das symbolische System einer Sprache nicht mit sich selbst übereinstimmt; Tautologie, die implizit in der logisch-eidetischen Stiftung des Sprachlichen behoben werden muss. Genauso wie sich jedes Sprachsystem zum Horizont des Sinns öffnet, so kann die Dimension der Sinnbildung bestimmbar werden. Wo liegt dann das Phänomen, der Sinn? Laut Richir ist eine „reine Phänomenologie“ unmöglich. Was wir haben ist die Bewegung des Zickzacks von einer Dimension zur anderen. Dies hat die Stärke, dass wir mannigfaltige mögliche Zugänge nicht nur für die phänomenologische Analyse sondern auch für phänomenologische Sinnbildung haben.Footnote 108 Unserer Meinung nach kann die Phänomenologie dieser Art der Spannung und der Reflexivität zwischen den beiden Dimensionen nicht entkommen, denn darin liegt ihre Lebendigkeit.

Das Sprachphänomen hat insofern ein Bein auf der Erde (Husserl) als Leib oder Protoraum der Erfahrung (dem Phänomenologischen) und ein anderes im Himmel als unbestimmten Ort des symbolischen Stifters (absolute Transzendenz), wodurch das Symbolische (z. B. der Sprache) gesichert wird. So bewegt sich (Schwingung, „clignotement“) das Phänomen in alle Richtungen. Das ist ein anderer Grund, weshalb man Richir einen Dualismus zuschreiben könnte.

Damit diese Bewegungen (die Reflexivität oder die Schwingung und das Zickzack) nicht aus ihrem ZusammenhangFootnote 109 gerissen werden, möchten wir noch einmal betonen, dass bei jeder Schwingung der Leib beteiligt ist. Die Reflexivität ist die des Leibes anhand der Leiblichkeit. Es besteht zwischen platonischer Χώρα (Leiblichkeit) und aristotelischem Τόπος (Leib) ein unendlich spannungsgeladenes Übergangsfeld (unvermeidlicher Abstand). Zwar besteht auch ein unvermeidlicher Abstand zwischen dem aristotelischen Τόπος (Leib: er ist nicht im Raum situierbar und ist die unmittelbare und unbewegliche Grenze, die im Sinne Husserls als „absolutes Hier“ als Ausgangspunkt der Orientierung im Raum dient) und dem Ganzen (Leibkörper: er wird von der unmittelbaren und der unbeweglichen Grenze des Leibes umgegeben und ist teilbar), aber durch die Begleitung der Leiblichkeit (Affektionen, Phantasia, Mimesis, „Perzeption“, Einfühlung usw.) bewegt sich der Leib von sich zur Welt (Körperlichkeit als Exteriorität, Leib-Körper als Alterität) und bzw. oder umgekehrt, sodass die Problematik des unvermeidlichen Abstands zwischen Leib und Leibkörper gelöst wird. Diese Bewegung ist mannigfaltig und geschieht in vielerlei Richtungen. Innerhalb dieser Bewegungen werden die Sprachphänomene schematisiert.

Wir sehen, dass das leibliche Selbst durch den oben erwähnten Abstand nicht mit sich selbst übereinstimmt. Sonst wäre das leibliche Selbst ein Ego, so als würde es sich selbst bestimmen. Es wäre selbstgenügsam und würde dem eigenen Zweck dienen. Doch das leibliche Selbst könnte zu einem Ego anhand des Körpers symbolisch vereinzelt werden, wenn es in der Haltung einer Stellungnahme umgesetzt wird. Dies könnte sich ereignen, wenn zum Beispiel anstatt der lebendigen Schwingung einer leiblichen Idee im Denken das leibliche Selbst diese Bewegung erfasst und sich dieses Augenblicks bewusst wird. Demgegenüber gedeiht das leibliche Selbst aber durch die oben genannten Schwingungen in der Interaktivität mit der Welt (Körperlichkeit als Exteriorität, Leib-Körper als Alterität). Es gäbe also kein Selbst ohne eine Interaktivität mit anderen (also Intersubjektivität im Sinne Husserls – oder in Richirs Sinne Interfaktizität). Zugleich ist dieses Selbst in seiner Schwingung nicht als ein symbolisch gestiftetes Selbst (mit diesem oder jenem Körper, der als „weiß“ oder „schwarz“, „Frau“ oder „Mann“, usw. bezeichnet werden kann) zu verstehen, da es in keiner Position einer Stellungnahme (weder zu sich selbst oder zur Welt) steht. Es ist im Gegenteil 1) ein anonymes aber 2) auch ein schwingendes oder reflexives Selbst (nicht im Sinne des Nachdenkens über das eigene Sein und Tun sondern im Sinne der Möglichkeit zu Einfühlung in den anderen oder im Sinne davon, sich auf die Körperlichkeit der Welt und zugleich wieder auf sich selbst zu beziehen). Diese Anonymität bekräftigt Richirs Verständnis der Χώρα (Leiblichkeit) als eines Zwischen- oder Übergangsraums, der als transzendentaler Boden der Interfaktizität dient, und in dem sowohl Subjektivität als auch Objektivität mitgedacht werden, ohne aber dabei in die reine Objektivität (Realismus) oder in die reine Subjektivität (Idealismus) zu verfallen.Footnote 110 Dies ist ein weiterer Grund, Richirs Phänomenologie als dualistisch zu bezeichnen. Wenden wir uns nun der Idee der Mobilität und Interaktivität des Leibes in seinem anfangendem Minimalismus zu. Diese führt uns dann zur Schlussüberlegung.

9.4 Schlussüberlegung: Der Leib als minimales und interaktives Selbst

In diesem Kapitel haben wir gesehen, dass sich Richirs Phänomenologie des Leibes und dessen Überschuss im Sprachlichen als Gesprächspartner in viele Forschungsrichtungen bewegt. Nun wollen wir zum Schluss darauf hinweisen, dass Richirs Leibthematik in aktuellen Debatten der Neuroethik, Kognitionswissenschaft, sogar der Biologie usw. über den Status des Selbst auch starke Intuitionen einbringen kann. Eine dieser Debatten interessiert uns dabei besonders. Es geht dabei um den Streit, ob das leibliche Selbst wesentlich minimal ist, sodass die Interaktivität nur eine sekundäre Rolle spielt, oder ob es wesentlich interaktiv ist, ohne dass das Selbst nur auf einen sozialen Individualismus reduziert wird. Wir wollen zeigen, dass Richirs Phänomenologie des Leibes beides, also sowohl minimal als auch interaktiv sein kann, jedoch mit einigen Modifikationen.

Auf der einen Seite wird die Idee eines minimalen Selbst dieses besteht auch ohne soziale Verhältnisse – und auf der anderen Seite die eines enaktiven und phänomenologischen Selbst – dieses ist interaktiv und sozial – verteidigt. Diese Konzepte des Selbst haben eine Vielzahl von Implikationen nicht nur für die Phänomenologie, sondern auch für die Ethik der Gesundheit. Jedes Konzept, das wir vom Selbst haben, hat somit nicht nur Auswirkungen darauf, wie wir Menschen sehen, sondern auch darauf, wie wir Patienten behandeln. KyseloFootnote 111 hat meisterhaft einige dieser Implikationen des minimalistischen Selbst und des sozial interaktiven Selbst (aus Enaktivismus und Phänomenlogie) für Patienten mit dem „Locked-in-Syndrom“ (LIS) herausgearbeitet. Auch wenn wir nicht so weit wie Kyselo gehen werden, um die Implikationen darzulegen, die Richirs leibliches Selbst für die Neuroethik oder die medizinische Ethik usw. haben könnte, so kann man doch sagen, dass sein Konzept des leiblichen Selbst – mit einigen Modulationen und wir es in diesem Kapitel behandelt haben – die beiden genannten Formen des Selbst abdeckt.

Das von Schaun GalagherFootnote 112 und Dan ZahaviFootnote 113 vertretene Konzept eines minimalen Selbst bezeichnet – Zahavi folgend – logisch und ontogenetisch die primitivste Form der Selbstbewusstheit: Es bleibt bestehen, selbst wenn all die unwesentlichen Eigenschaften des Selbst abgetragen sind.Footnote 114 Die Theorie des minimalen Selbst sagt aus, dass Subjektivität grundsätzlich an Erfahrung und Bewusstsein gebunden ist. Jede phänomenologisch bewusste Episode findet nicht in einem, sondern für ein Subjekt statt. Die Washeit (Was-es-ist-Artigkeit) eines phänomenal bewussten psychischen Zustandes ist in Wirklichkeit eine Wie-es-für-mich-ist-Artigkeit.Footnote 115 Die Art wie Erfahrungen mir gegeben sind, unterscheidet sich von der Art, wie dies bei einer anderen Person der Fall ist. Das Subjekt dieser Erfahrungen ist, wie Kyselo erklärt, im Körper (in einem biologischen Sinne) einer Person verankert. Demzufolge ist die Idee, dass dieser KörperFootnote 116 mir gehört, für diese Theorie ausschlaggebend. In jedem Fall fällt das Selbst mit dem Körper zusammen.

Wir können daher zunächst feststellen, dass der Vorteil dieser Vorstellung des Selbst ist, dass sie die Idee der Abgrenzung von anderen bewahrt. Das Problem mit dieser Sichtweise ist jedoch, dass sie sich von der Interaktion zu isolieren scheint. Wenn Zahavi angibt, dass er die Rolle von Sozialität für eine normative Beschreibung des Selbst nicht in Frage stellt, da wir ohne soziale Beziehungen nicht die wären, die wir sind,Footnote 117 so ist es noch lange nicht klar, wo und in welchem Ausmaß soziale Beziehungen bei der Theorie des minimalen Selbst mit einbezogen werden könnten. Kyselo hat dieser Form des minimalen Selbst daher dem sozialen Individualismus zugeordnet. Wenn wir Zahavi richtig verstehen, dann scheint er zu behaupten, dass die minimale Beschreibung des Selbst gelten könne, ohne notwendigerweise eine soziale Beziehung zu beinhalten: Solange ich dazu in der Lage bin, phänomenologisches Bewusstsein zu durchleben, kann mir niemand die Subjektivität absprechen. Es scheint uns nicht so, als dass er die Möglichkeit einer Erfahrung vertritt, die konstitutiv von solchen Interaktionen abhängig ist. Er zitiert das Beispiel einer Nonne, die sich aus dem aktiven Sozialleben zurückgezogen hat und legt nahe, dass es vermutlich nicht angemessen sei zu denken, dass die Nonne Tenzin Palmo aufgehört habe, ein Selbst zu sein, weil sie ein Leben in Einsamkeit gelebt hat. Ohne näher auf weitere Details anderer Aspekte einzugehen, die dieses Konzept des minimalen Selbst uns eröffnet, soll doch ein Aspekt genannt werden, der entscheidend zu sein scheint: Könnten sich die Vertreter des minimalen Selbst minimale Aspekte des Selbst vorstellen, die mit sozialen Beziehungen kompatibel sein könnten, ohne notwendigerweise einen physikalischen (körperlichen) oder tatsächlichen sozialen Kontakt zu beinhalten? Wir sind der Meinung, dass eine minimale Darstellung des Selbst nicht nur möglich und grundsätzlich koexistent mit Interaktionen ist, sondern dass die Vorstellung des Selbst, selbst in dessen minimaler Form, gleichzeitig mit der Vorstellung der Interaktion einhergeht. Es gibt daher kein erfahrendes Selbst, das nicht interagiert – und sei es auch noch so schwach. Bei solch einer Interaktion muss jedoch die Epoché ausgeübt werden, d. h. die Interaktion muss von den intentionalen Strukturen der Doxa befreit werden, die sie in der weiter entwickelten Form sozialer Interaktion innehat.

Zahavi setzt sich nun mit Kyselo auseinander, die das minimale Selbst für problematisch hält:

If we are prevented from interacting with the world and with others, we cannot enact our self, we cannot partake in the very dynamics that is required in order to bring about our sense of self as a separate subject. This is why Kyselo insists that selves are essentially social (…) and why she argues that patients by losing connection to the social sphere risk losing parts of the mechanisms and conditions that bring about their self.Footnote 118

Sie behauptet, dass „the constitutive dependency in question doesn’t only hold true in early development, but rather extends to all later stages in life, such that a ‚constitutive social dynamics‘ […] for the maintenance of the sense of self“Footnote 119 vorausgesetzt wird. An diesem Punkt fragt Zahavi, was andauernde soziale Interaktion abdeckt. Dies ist eine entscheidende Frage für ihn. Beinhaltet dies eine Echtzeit-Interaktion? Wenn das der Fall ist, dann könnte man fragen: Warum war die Nonne Tenzin Palmo dazu in der Lage, außerhalb sozialer Interaktionen Selbsterfahrung aufrecht zu erhalten?Footnote 120 An diesem Punkt können wir lediglich noch hinzufügen, dass sich sowohl die Vertreter des minimalen phänomenalen Bewusstseins des Selbst (unabhängig von der Interaktion) als auch die Vertreter der Notwendigkeit sozialer Interaktion für die Selbsterfahrung, nicht die Möglichkeit eines minimalen Selbst bedenken, das nicht von einer sozialen Interaktion auf einer physischen Ebene – jene, die bei der Nonne Tenzin Palmo fehlte –, sondern von einer minimaleren Interaktivität auf einer anderen Ebene abhängt.

Kyselo scheint eine solche minimale Form des Selbst erfasst und verteidigt zu haben: prä-reflexive verkörperte Sozialität. Sie schlägt – über die Individuierung der Menschen durch ihre Körper allein hinaus – eine sozial interaktive Vorstellung des menschlichen Selbst oder beziehungsmäßige Prozesse zwischen Organismen vor. Dies findet ihr zufolge in einem prä-reflexiven, verkörperten Selbst statt. Die Individualität des Selbst entstammt einer übergreifenden, prä-reflexiven Interaktion und nicht dem isolierten Körper. Der Vorteil von Kyselos Darstellung, die das enaktive Paradigma des Selbst als soziales autonomes Netzwerk heranzieht ist, dass sie 1) das Selbst davor bewahrt, sich in der Welt aufzulösen.Footnote 121 Das Selbst ist dazu in der Lage, seine Individualität oder Unterschiedlichkeit von der Welt oder anderen (genau wie das minimale Selbst) aufrechtzuerhalten. Und 2) das Selbst kann auch an der Welt teilhaben. Dies bedeutet, dass die Grenzen flexibel sind. Das Selbst ist dazu in der Lage, sich auf der Grundlage der Interaktivität mit der Welt selbst zu erschaffen; und trotzdem bewahrt es seine Unterscheidung von der Welt und von anderen. In diesem Sinne erfasst es einerseits den Leib-KörperFootnote 122 als eines eigenständigen ganzen Selbst; aber es ist – mit dem Leib seiner LeiblichkeitFootnote 123 – auch an einer interaktiven Beziehung mit der Welt beteiligt. Das einzige Problem dieser Sichtweise ist, dass sie eine physische soziale Interaktion erfordert und daher also nicht minimal genug ist. In der durch Richir entwickelten Phänomenologie des Leibes kann die Interaktion auch auf einer anderen, nicht-physischen Ebene stattfinden. Ein weiterer erwähnenswerter Unterschied der obigen Sichtweise im Vergleich zu der von Richir ist, dass Selbstorganisation der (körperlichen) Selbstheit auf sensomotorischen Interaktionen mit der Umwelt basiert. Richir reduziert seinerseits das erfahrende Selbst nicht nur auf eine Körperlichkeit (sensomotorisch), sondern versteht es als Leib.

Richirs Phänomenologie hat daher das Potential, einige Einsichten in das Problem der hier geschilderten Debatte zu ermöglichen. Von seiner Phänomenologie inspiriert können wir versuchen, den Begriff eines minimalen Selbst zu verteidigen, das mit einer minimalen sozialen Interaktion Hand in Hand geht. Anhand der Idee des „leiblichen Selbst“ haben wir versucht, diese Vorstellung eines minimalen Selbst zu beschreiben. Dies ist das Selbst, das nach einer hyperbolischen phänomenologischen Epoché, nachdem all die intentionalen Strukturen der Doxa in Klammern gesetzt, d. h. ausgesetzt worden sind, bestehen bleibt. Doch wie ist es solch einer Darstellung des Selbst möglich, an sozialer Interaktion teilzuhaben? Es findet hier keine soziale Interaktion in dem Sinne statt, dass es eine Ansammlung von Menschen oder eine Art von Kommunikation gibt, die in einem sozialen Umfeld stattfindet. Bei der Interaktion handelt es sich um das, was mit Reflexivität oder Schwingung beschrieben werden kann. Reflexivität des Selbst findet wie wir gezeigt haben zwischen symbolischen und phänomenologischen Strukturen, zwischen dem Jenseits des Sprachlichen (hors langage) und dem Sprachlichen (de langage), zwischen Transzendenz und dem Phänomenologischen statt, zwischen der Welt und dem Selbst usw. In dieser Bewegung der Schwingung oder der Reflexivität, die einen Schematismus umfasst, ist die grundlegendste Form des Denkens vorstellbar. Diese grundlegendste Form des Denkens ist kontemporär mit der grundlegendsten Form des Selbst. Die Art der Schwingung oder der Reflexivität des Selbst, die wir hier verteidigt haben, ähnelt – egal wie inchoativ und vorläufig sie auch sein mag – der Aktivität des Denkens; wir sind daher der Meinung, dass in der schematischen Schwingung des Selbst bereits eine Interaktion vorhanden ist. Solange eine Person dazu in der Lage ist, zu schematisieren (die Nonne braucht keinen sozialen Kontakt, um interagieren zu können), können wir dieser Person weder Selbstheit noch Interaktion absprechen. Doch dieser Schematismus hat verschiedene Ausprägungen. Autistische Menschen beispielsweise haben einen schwachen Schematismus. Bei Kindern, die an starkem Autismus leiden, gibt es eine Beeinträchtigung des Schematismus.Footnote 124 Dieses Beispiel kann auf andere klinische Fälle der Beeinträchtigung des Bewusstseins ausgeweitet werden. Können wir Patienten, die an Alzheimer, Demenz, Blindheit, Locked-in Syndrom etc. auf Grundlage der Tatsache, dass es ihnen an sozialer Interaktion mangeln könnte, die Selbstheit absprechen? Sicherlich nicht. Um sich als Selbst zu qualifizieren, genügt es, wenn sie in der Lage sind, reflexiv zu schematisieren, also mit der Struktur des Nichtsprachlichen und des Sprachlichen zu interagieren, wenn sie dadurch in der Lage sind, der Welt Sinn zuzuschreiben. Sinn zuschreiben impliziert nicht, die Welt mithilfe von Sprache zu verstehen, indem man auf Bedeutung zugreift. Es bedeutet, dass uns sogar die Worte fehlen könnten, um unsere Erlebnisse zu beschreiben; dass wir manchmal daran scheitern, wenn wir dies zu tun versuchen. Wir verteidigen den Leib als diese minimale Dimension des Selbst in seinem phänomenalen Kontext. Wir sind der Meinung, dass dieses grundlegende Selbst, welches auf der Idee der Interaktion – also der Reflexivität oder Schwingung – gegründet ist, dazu beitragen kann, die Schwierigkeiten zu überwinden, die in aktuellen Debatten über das Kriterium der Zuschreibung von Selbstheit auftauchen. Das phänomenologische, leibliche, schwingende Selbst ist dieses grundlegende Selbst, für das die Erschließung der „Welt“ anhand der Leiblichkeit Sinnerschließung impliziert. Es ist ein leibliches minimales Selbst, für das die Welt Sinn hat.

In diesem leiblichen Selbst haben wir bereits das Vermögen a priori zur Interaktivität, das eine unabdingbare Voraussetzung für alle Formen der symbolischen Sozialität und Kooperationen ist – und wie wir schon am Anfang der Arbeit (Kapitel 1: Einstieg in die Thematik) erwähnt haben, hat der Gründer der Soziobiologie (Edward Osborne Wilson) für größere Kooperation und Überlebenschancen für jene Gruppen mit genetischen Diversität und Interaktivität als für jene mit genetischer Nähe argumentiert. Das minimale, interaktives Selbst in seiner Leiblichkeit (Weltbezüglichkeit) ist diese unabdingbare Vorassetzung für soziale Kommunikation und Kooperation.

Was eine offene Frage bleibt, sind die ausführlichen ethischen Implikationen solch eines phänomenologischen Selbst für die konkrete medizinische Praxis. Die Klärung dieser Fragen muss künftiger Forschung vorbehalten bleiben, denn diese Implikationen sprengen den Rahmen unserer Arbeit.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Zuschreibung des archaischen Selbstregisters an den Leib. In diesem archaischen Register erfasst der Leib ein „prä-personales“, „asubjektives“ Selbst. Eine ernste Sorge erwächst aus dieser Bestimmung des Leibes bei Richir. Die Dimension, die den Leib aus einer persönlichen Perspektive versteht, meiner intimen „Ich“-Perspektive, die ontologisch in der Welt verortet ist, wurde nicht ausreichend artikuliert. Während also Richirs Leib-Konzept die ontische Dimension der subjektiven Erfahrung umfasst, beschränkt sich diese ontische Dimension auf jene Aspekte der Erfahrung, die primär anonym, a-subjektiv etc. sind. Dies ist problematisch. Denn ein Zugang zu solchen subjektiven Erfahrungs- und Seinsebenen kann nicht ohne eine belastbaren Begriff der Einbezogenheit von Subjektivität erfolgen, in der Erfahrungen von einem ursprünglich persönlichen jemeinigen Leib angeeignet werden. Obwohl Richirs Ziel, die Bestimmung der subjektiven Erfahrungen als doxa, als Objekte zu vermeiden, erreicht wird, vernachlässigt er dabei jedoch die innere Dimension der Subjektivität, die spezifische und ontologische Bedingungen der Person in ihrem Sein und Erleben in der Welt artikuliert. Dies ist offensichtlich. Während Richir der ontischen Dimension der Subjektivität ernsthafte Aufmerksamkeit widmet, widmet er der ontologischen Dimension der Subjektivität weniger Aufmerksamkeit, obwohl er sie nicht völlig außer Acht lässt. Tatsächlich deckt diese letzte Dimension seinen größeren Begriff des Symbolischen ab und ist für ihn nicht die Bestimmung der phänomenologischen Perspektive. Dadurch wird die Welt dem Subjekt in der Erfahrung immer vorpersönlich gegeben: die Welt ist unpersönlich im Subjekt. Eine mögliche Begründung dafür ist unser Verdacht, dass für Richir der Leib ein phänomenologisches Subjekt zu artikulieren scheint, das die Epoché praktiziert. Denn nur in diesem Fall ist eine solche Bestimmung des Leibes bei Richir durchgängig sinnvoll. Wir könnten dann fragen, was einem solchen Subjekt übrig bleibt, das sich aller doxatischen Elemente der Welt entledigt hat, sogar seiner selbst. Die Welt bleibt für es nichts als eine Vielzahl unbestimmter Sinne, zu denen es keinen konkreten Zugang hat, da es diese nicht zum Ausdruck bringen kann. Außerdem ist das Subjekt weniger präsent in der Welt, als in einer konkreten Art und Weise, wie das Dasein bei Heidegger zu sein vermag.