Zusammenfassung
Das Asymmetrieargument lässt sich jedoch in einer Weise verteidigen, die mit der im vorhergehenden Kapitel formulierten Kritik vereinbar ist. Aus der Ex-ante-Perspektive derer, die vor einer Reproduktionsentscheidung stehen – sich also fragen, ob sie sich fortpflanzen sollen oder nicht – gilt: Wenn im Falle einer positiven Reproduktionsentscheidung ein glückliches Leben entstehen kann, wird der potentiellen Person, die in die Existenz kommen könnte, dadurch, dass sie nicht auf die Welt gebracht wird, Gutes vorenthalten. Aus der Ex-post-Perspektive bereits existierender Personen, die auf die Reproduktionsentscheidung, in deren Folge sie geboren wurden, zurückblicken, aber gilt: Keiner existierenden Person wären Freuden vorenthalten worden, wenn sie nicht in die Existenz gebracht worden wäre, und keine existierende Person wäre dadurch geschädigt worden, dass sie nicht in die Existenz gebracht worden wäre. Aber jeder existierenden Person wären die schlechten Dinge des Daseins erspart geblieben, wenn sie nicht in die Existenz gebracht worden wäre, und das wäre gut für sie gewesen. Die axiologische Asymmetrie zwischen der Abwesenheit von Gutem und der Abwesenheit von Schlechtem, die Benatar im Blick hat, besteht also tatsächlich. Sie kann allerdings nicht aus der Ex-ante-Perspektive der Personen, die vor einer Reproduktionsentscheidung stehen, beschrieben werden, sondern muss aus der Ex-post-Perspektive existierender Personen beschrieben werden.
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Notes
- 1.
Vgl. hierzu Quine 1956.
- 2.
Vgl. Quine 1980, 142.
- 3.
Zur näheren Erörterung dieser Unterscheidung zwischen Schädigen de re und Schädigen de dicto vgl. Caspar Hare 2007, 514–523.
- 4.
Die Unterscheidung zwischen de-re-Schädigungen und de-dicto-Schädigungen lässt auch erkennen, dass die zunächst gegensätzlich erscheinenden Positionen Hares und Benatars durchaus miteinander vereinbar sind. Dies wird deutlich, wenn man klärt, von welcher Art von Schädigungen beide sprechen. „Können wir jemanden schädigen, indem wir ihn nicht in die Existenz bringen?“, fragen Hare und Benatar. „Ja“, antwortet Hare, „Nein“, antwortet Benatar. Beide haben recht. Hare hat recht, wenn wir „jemanden“ in dieser Frage so auffassen, dass der Ausdruck steht für: „die potentielle Person, die im Falle einer positiven Reproduktionsentscheidung in die Existenz kommen könnte“. Benatar hat – wie im Folgenden noch gezeigt werden soll – recht, wenn wir „jemanden“ so auffassen, dass der Ausdruck steht für: „die existierende Person, die im Falle einer positiven Reproduktionsentscheidung in die Existenz kommen könnte“. Ergänzt man Hares These durch die Erläuterung, dass es sich bei der Schädigung einer potentiellen Person durch Nicht-Hervorbringung um eine Schädigung de dicto handelt, ist sie mit der Behauptung vereinbar, dass niemand, der existiert – auch nicht jemand, der ein einschränkungslos glückliches Leben führt –, dadurch geschädigt worden wäre, dass er nicht in die Existenz gebracht worden wäre. Nur diese letztgenannte Aussage muss von Benatar in Anspruch genommen werden, um seine negative Antwort auf die Frage „Können wir jemanden schädigen, indem wir ihn nicht in die Existenz bringen?“ zu begründen.
- 5.
Vgl. Feinberg 1992, 6–8.
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Hallich, O. (2022). IV Das Asymmetrieargument – eine Verteidigung. In: Besser, nicht geboren zu sein?. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65621-1_4
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