Im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit sollen pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz durch die Anwendung der Tagebuch-Methode für die Wahrnehmung schöner Momente im Alltag sensibilisiert werden. Dabei tritt durch individuelle Aufzeichnungen der Schreibenden die Sichtweise des Individuums („subjektiver Sinn“) als primärer Bezugspunkt in den Vordergrund der Betrachtung (Mey & Ruppel, 2018) und ermöglicht so die Betrachtung des inneren „Seelenlebens“ sowie die Abbildung der „Einzigartigkeit dieser Lebensphase“ (Mey, 2000, S. 4).

Die Übernahme der Pflege und Begleitung eines nahen Angehörigen ist ein emotionales und in Teilen stark belastendes Lebensereignis, welches bislang nur selten mit der Nutzung der Tagebuchmethode in Verbindung gebracht wurde (Wilz & Brähler, 1997). Ausgehend von der Entwicklung der Tagebuchmethode in der Wissenschaft wird der Einsatz von Tagebüchern insbesondere in der Verhaltenstherapie und Bewältigungsforschung vorgestellt. Darüber hinaus werden Schreibinterventionen und deren Wirkung diskutiert, mit besonderem Blick auf positiven Schreibinterventionen – also dem Aufschreiben positiver Emotionen. Damit soll begründet werden warum sich die Methode des Tagebuch-Schreibens insbesondere zur Betrachtung der Lebenssituation pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz eignet bzw. diese in der Bewältigung vorherrschender Herausforderungen und Belastungen aber auch in der Förderung einer ressourcenorientierten Haltung auf die Pflegesituation unterstützen kann.

3.1 Entstehung und Geschichte der Tagebuch-Methode

Mit der Tagebuch-Methode wird in der Psychologie das regelmäßige bzw. tägliche Aufschreiben wesentlicher erlebter und wahrgenommener Aspekte und Verhaltensbereiche bezeichnet (Stangl, 2023). Sie dient dabei als Erhebungsstrategie „bei der vorher festgelegte Ereignisse, Verhaltensweisen und Urteile nach bestimmten Richtlinien zum gegebenen Zeitpunkt von Probanden selbst protokolliert werden müssen“ (Laireiter & Thiele, 1995, S. 132).

Ursprünglich ist die Methode mit der Entwicklungspsychologie verbunden und wird mit deren Frühphase im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert assoziiert, die insbesondere durch „detaillierte Beobachtungs- und Tagebuchstudien“ (Mey, 2000, S. 3) gekennzeichnet ist. Im weiteren Entwicklungsverlauf findet sich die Tagebuch-Methode auch in anderen psychologischen Disziplinen wie der Klinischen und Pädagogischen Psychologie als Methode zur Selbstkontrolle und Selbstreflexion und wird zudem als therapeutisch wirksames Instrument genutzt (Seemann, 1997; Wilz, 2002). In klinisch-medizinischen Studien findet sie bspw. in Form von Schmerztagebüchern, Migränetagebüchern und Ernährungstagebüchern Anwendung.

Tagebuchaufzeichnung haben einen weit zurückgehenden historischen Hintergrund. Bereits in der Antike wurden Notizen des römischen Kaisers und Philosophen Marc Aurel als Tagebucheinträge bezeichnet, in denen er seine Gedanken und Erlebnisse aus dem Feldlager verschriftlichte. Ebendiese schriftlichen Einträge bzw. „Selbstbetrachtungen“ von Marc Aurel weisen nach Sperl (2010) Elemente des heutigen Tagebuch-Konstrukts auf, werden aber mit autobiographischen Elementen und Belehrungen zur Emotionskontrolle kombiniert (Sperl, 2010).

Im Mittelalter mehrten sich Chroniken, in denen Berichte über den Alltag, Religions- und Moralvorstellungen sowie Beobachtungen aus Reisen und der Natur festgehalten wurden. Gugulski (2002) zufolge handelt es sich dabei jedoch weniger um Selbstreflexionen als vielmehr um sachliche Berichterstattungen, die Wuthenow (1990) z. B. als „chronikalische Teilnahmslosigkeit“ (S. 59) beschreibt.

Alles Beobachtete wurde aufgezählt, ohne Unterschiede hervorzuheben. Ohne Reflexion wurden persönliche Dinge neben Beobachtungen zur Arbeit oder zur Natur aneinandergereiht (Sperl, 2010, S. 21).

Insbesondere in der Renaissance (16. Jahrhundert) wurden Niederschriften „zu immer genaueren Spiegelungen der intimen, unteilbaren, souveränen Individualität“ (Hocke, 1978, S. 16), die in der französischen Literatur als journal intime beschrieben wurden (Gugulski, 2002). Nach Seemann (1997) beinhalten diese Aufzeichnungen immer häufiger Beobachtungen des eigenen Ichs im Rahmen von Aktivitäten und Gedanken sowie Gefühlen und Wohlergehen. Weiterhin sieht auch Sperl (2010) diese Epoche als Wendepunkt der Tagebuchaufzeichnungen an:

Eine Zunahme persönlicher Anteile markiert im 15. und 16. Jahrhundert die Weiterentwicklung der reinen Chronik hin zum Tagebuch. Mit dem Beginn der Renaissance wurde das einheitliche Weltbild mit einem fest gefügten christlichen Glauben und einer nach Ständen geordneten Gesellschaft mehr und mehr durch eine Sicht ersetzt, in deren Mittelpunkt ein selbstständiges Individuum steht, das sich selbst immer mehr zum Thema macht (Sperl, 2010, S. 21).

Mit der Veränderung des Menschenbildes im 18. Jahrhundert, welches den Wunsch nach Freiheit und Individualität immer stärker prägte (Boerner, 1969; Schönborn, 1999), entwickeln sich auch die Tagebucheinträge weiter: der Wunsch nach Selbstentfaltung und -verwirklichung wird immer größer (Bitzer-Gavornik, 2012).

Biographische Texte erlebten im 18. Jahrhundert (v. a. in der zweiten Hälfte) eine gewisse Konjunktur – entsprechend ist es auch als das »eigentliche Jahrhundert der Biographie« (Maurer 2004, 40) bezeichnet worden (Schnicke, 2009, S. 234).

Bereits zu diesem Zeitpunkt verwurzeln sich erste Ansatzpunkte zur wissenschaftlichen Tagebuchforschung. Im 20. Jahrhundert, mit der Entwicklung der humanistischen Psychologie, gewinnt das Tagebuch dann (sowohl privat als auch wissenschaftlich) an Beliebtheit, wobei insbesondere Ausnahme- und Krisensituationen (wie bspw. die Weltkriege) mit Hilfe dieses Mediums verarbeitet wurden. Vor allem Aspekte der Selbsterfahrung, Selbstanalyse, Selbstfindung und Selbstreflexion finden dabei Eingang in die Tagebuchpraxis (Fischer, 2022). Ein berühmtes und international verbreitetes Beispiel stellt das Tagebuch der Anne Frank dar. Tagebücher werden in unterschiedlichen Lebenssituationen als hilfreiche Methode der Selbstreflexion erlebt, der auch positive sowie therapeutische Effekte zugesprochen werden (Wilz, 2002).

Hinsichtlich dieser Aspekte werden klassische Tagebuchaufzeichnungen von wissenschaftlichen, zum Teil (hoch)standardisierten, Tagebüchern unterschieden. Gemeinsam ist ihnen dabei jedoch die Erfahrung der Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis (Seemann, 1997):

Das Selbstgespräch regt zu Selbstauslegung, Selbstplanung und Selbstaufmunterung an. … Die Selbstauslegung führt zur intimsten Ich-Analyse, die Selbstplanung zu Entwürfen aller Art, die Selbstermunterung zur Selbstdiskussion über Lebensaufgaben und Lebensziele, über Irrtümer und Vorbilder (Hocke, 1963, S. 24 f. zit. nach Seemann, 1997, S. 13).

Zentrale Kennzeichen von Tagebuchaufzeichnungen sind dabei ein ‚schreibendes Ich‘ (Gugulski, 2002) sowie die Regelmäßigkeit der Aufzeichnungen (Kochinka, 2008). Die Tatsache, dass Erlebnisse und Gefühle zeitnah und regelmäßig verschriftlicht werden und dabei „als sozial legitimierte Selbstreporte qualifiziert werden“ (Kunz, 2018, S. 36), dient also bei aller Diversifikation als verbindendes Moment. Moderne Tagebücher – die häufig auch als journals beschrieben werden – zeichnen sich vor allem durch ihre Individualität und thematische Vielfalt aus:

A journal is as individual as its writer and can be serious, purposeful, therapeutic, creative, spiritual or anything else. It can be initiated with a clear intention or a vague hope it will be helpful; and as the journal progresses it forms its own character (Wood, 2013, S. 16).

Dahingehend entstehen eine Vielzahl unterschiedlicher Typen von journals, die Wood (2013) in neun verschiedene Kategorien zusammenfasst: (1) the narrative journal, (2) the learning journal, (3) the self-reflective or working journal, (4) the positive achievement journal, (5) the art or creative journal, (6) the scrapbook journal or single page montage, (7) reflective frameworks and models, (8) visualisation, reflective worksheets and (9) the dream journal (Wood, 2013).

Im Kontext der vorliegenden Arbeit sind insbesondere narrative journals und positive achievement journals von Bedeutung. Narrative journals vereinen Aufzeichnungen persönlicher Gedanken, Beobachtungen und Ereignisse, welche einen selbstreflexiven Charakter aufweisen (Wood, 2013). Das Aufschreiben ebendieser Lebensgeschichten verspricht dabei in der individuellen Sinnfindung unterstützend zu wirken und einen Beitrag zur Selbstfindung zu leisten (Bluck & Alea, 2008; Bluck & Liao, 2013; McAdams, 1996; McLean et al., 2007). Eine Untersuchung von Steiner und Kollegen (2019) belegten, dass das Nachdenken und Schreiben über die eigene Lebensgeschichte das Selbstwertgefühl verbessert und zum Aufbau einer positiven Identität beiträgt. Holliday und Kollegen (2023) konnten zeigen, dass bei Fachkräften im Gesundheitswesen ein implementiertes Schreibprogramm auf einer Intensivstation während der Covid-19-Pandemie nicht nur eine niedrigschwellige Intervention ist, sondern das Potential aufweist, Stress und depressive Symptome zu verringern (Holliday et al., 2023).

Positive achievement journals setzen hingegen an den Konzepten der Positiven Psychologie an und thematisieren Aspekte der Achtsamkeit und Dankbarkeit. Dabei soll bei den Schreibenden vor allem Selbstliebe und Selbstfürsorge gestärkt werden (Fischer, 2022). Eine Untersuchung von Cunha und Kollegen (2019) kann belegen, dass das tägliche Führen von Dankbarkeitslisten positive Auswirkungen auf Affekt, subjektive Glücksgefühle und Lebenszufriedenheit hat und zudem depressive Symptome reduziert.

Setzt man sich wissenschaftlich mit Tagebüchern und deren Logik auseinander, sei hierbei insbesondere auf die deutsche entwicklungspsychologische Forschungstradition verwiesen, die vor allem die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen/Heranwachsenden in den Fokus der Betrachtung rückt. Bereits das Ehepaar Clara und William Stern (1907) sowie Wilhelm T. Preyer (1923) verschriftlichten Beobachtungen und Entwicklungsprozesse ihrer Kinder. Als Pionierin der Tagebuchanalysen gilt Charlotte Bühler, die Tagebucheinträge von Jugendlichen untersuchte und diese somit zum Forschungsgegenstand machte. Zur Analyse der Tagebucheinträge nutzte Bühler einen eigenen Zugang mit dem Ziel, innere Zustände der Jugendlichen sowie deren Verarbeitung zu erfassen, und entwickelte hierzu eine Kombination aus Hermeneutik und Inhaltsanalyse, die jedoch methodisch stark kritisiert wird (Mey, 2018). Auch Siegfried Bernfeld (1978) untersuchte „Tagebuchmaterialien via hermeneutischem Forschungsansatz, psychoanalytischer Methodik und unter Berücksichtigung einer sozialgeschichtlichen Perspektive“ (Mey, 2000, S. 3) und weist in diesem Zuge darauf hin, insbesondere die Beziehung zwischen dem Forschenden und dem Forschungsgegenstand zu reflektieren (Bernfeld, 2010; Mey, 2018).

Mit dem Aufkommen des Behaviorismus wurden Tagebuchstudien aufgrund der zunehmend kritisierten Subjektivität immer weniger als Forschungsmethode verwendet, und gelten als das „Stiefkind“ der qualitativen Forschung: „Diary method has arguably been the ‘poor relation’ of the methodological family in qualitative research, compared, for example, to interviews“ (Bartlett & Milligan, 2015, S. 1).

In den letzten Jahrzehnten nehmen Tagebuchstudien wieder zu – dies ist auf der einen Seite mit dem wissenschaftlich weitgehend akzeptierten epistemologischen Subjektmodell zu erklären, das dazu beiträgt, dass „der zunehmende Einsatz von Tagebüchern auch als Indiz für die ‚kognitive Wende‘ in den Sozialwissenschaften verstanden [wird]“ (Seemann, 1997, S. 14). Auf der anderen Seite ist auch die Entwicklung der Prozessforschung bzw. Verlaufsbeobachtung förderlich für die Renaissance der Tagebuch-Methode (Seemann, 1997) und hat insbesondere in den letzten fünf Jahren (Stand 2023) immer häufiger in unterschiedlichen psychologischen Disziplinen Anwendung gefunden, wie bspw. in der Wirtschafts-, Arbeits- und Verhaltenspsychologie. Thematisch liegt der Fokus dabei vor allem auf quantitativen Forschungsarbeiten, wohingegen qualitative, inhaltsanalytische Arbeiten seltener zu finden sind. In diesem Zuge ist anzumerken, dass populäre methodische Arbeiten zur qualitativen Forschung wenig Bezug auf Tagebuchmethoden nehmen (z. B. Bowling, 2014; Creswell & Creswell, 2017; Flick, 2014), wobei diese ein durchaus flexibles Instrument zur Erhebung umfangreicher Daten darstellen.

3.2 Die Nutzung der Tagebuch-Methode in der Forschung

Die Tagebuch-Methode kann als ein Instrument zur Untersuchung verschiedener menschlicher Phänomene (einschließlich Persönlichkeitsprozesse) genutzt werden, sich mit familiären Interaktionen und Beziehungen auseinandersetzen sowie körperliche und seelisch emotionale Aspekte abbilden (Bolger et al., 2003). Insofern ist sie vor allem mit Blick auf die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit geeignet, die Lebenssituation pflegender Angehöriger (von Menschen mit Demenz) in ihrer Unterschiedlichkeit und Individualität sowohl wahrzunehmen als auch wissenschaftlich zu betrachten. Die Tagebuch-Methode ermöglicht zudem die Betrachtung einer Person bzw. Dyade über einen längeren Zeitraum hinweg. So lassen sich einerseits individuelle Fallbeschreibungen erstellen und andererseits personale Prozesse und deren Veränderungen im zeitlichen Verlauf in den Blick nehmen.

In der wissenschaftlichen Forschung werden vor allem angeforderte von nicht-angeforderten Tagebüchern unterschieden, wobei angeforderte Tagebücher zumeist durch Wissenschaftler erbetene Tagebuch-Einträge zu bestimmten Themen (Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen) darstellen und die Schreibenden von den jeweiligen Forschenden begleitet werden. Ein zur Thematik dieser Arbeit passendes Beispiel stammt von Wilz (2002), die im Rahmen einer Tagebuchstudie pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz Tagebuch schreiben ließ und deren Belastungsverarbeitung analysierte. Darüber hinaus untersuchte die Commission on the Future of the Home Care Workforce (2014) ebenfalls angeforderte Tagebucheinträge von Pflegekräften aus der ambulanten pflegerischen Versorgung, um deren Herausforderungen und Bedarfe in der Pflege und Begleitung von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf zu eruieren. Die Einträge der Pflegenden verdeutlichen die Notwendigkeit, mehr in die Pflege und Begleitung zu investieren und zeigen darüber hinaus den Wert der Tagebuch-Methode auf, die es ermöglicht, einer Personengruppe eine Stimme zu geben, die in der Regel nicht gehört wird (Bartlett & Milligan, 2015).

Tagebücher bieten die Möglichkeit, soziale, psychologische und physiologische Prozesse in Alltagssituationen zu untersuchen. Gleichzeitig erkennen sie die Bedeutung der Kontexte an, in denen sich diese Prozesse entfalten (Bolger et al., 2003). Demnach sollen Tagebücher die kleinen Erlebnisse des Alltags festhalten, die den größten Teil unserer Zeit ausmachen und unsere bewusste Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen (Wheeler & Reis, 1991).

Grundlegender Vorteil der Tagebuchmethode ist die Möglichkeit der Untersuchung berichteter Ereignisse und Erfahrungen in ihrem natürlichen, spontanen Kontext und kann somit Informationen ergänzen, die mit traditionellen Methoden gewonnen werden (Reis et al., 1994) und dabei das Leben so erfassen, wie es gelebt wird: „capturing life as it is lived“ (Bolger et al., 2003, S. 579). Tagebücher ermöglichen es darüber hinaus, die Retrospektivität zu verringern indem der Abstand zwischen dem Erlebten und dem Bericht über das Erlebte selbst sehr gering gehalten werden kann (Bartlett & Milligan, 2015; Bolger et al., 2003).

3.3 Schreib-Therapie oder: Die heilende Kraft des Schreibens

Unter Schreib-Therapie versteht man den Prozess der Selbstreflexion, der durch das Schreiben als Mittel zum Ausdruck angestoßen wird. Schreiben fördert dabei auch die die Fähigkeit, diese Reflexionsfähigkeit schriftlich auszudrücken – und dies unabhängig davon, ob der Schreibende intrinsisch oder extrinsisch, durch die Anregung eines Therapeuten oder Wissenschaftlers, motiviert ist (Wright & Chung, 2001). Schreiben erscheint somit als Instrument der Heilung und des persönlichen Wachstums (Ruini & Mortara, 2022).

Schreiben und die Betrachtung der Wirkungsweise von Schreibinterventionen wurden bereits 1986 durch James Pennebaker als Forschungsparadigma eingeführt, der gemeinsam mit seinen Kollegen therapeutische Effekte durch Schreibinterventionen belegen konnte (Pennebaker & Beall, 1986). Die nachfolgenden Ausführungen zeichnen diese Wirkungsweisen und Effekte von Schreiben nach und fragen nach Anwendungsmöglichkeiten und Wirkung sowohl des expressiven als auch des positiven Schreibens. Die (positiven) Effekte von Schreibtechniken sind dabei grundsätzlich individuell unterschiedlich (Allen et al., 2020).

3.3.1 Expressives Schreiben

Die Erforschung der Wirksamkeit von Schreibinterventionen ist im wissenschaftlichen Diskurs eng mit Pennebaker verbunden, der mit der Entwicklung und Erforschung des expressiven Schreibens in den 80er Jahren ein mittlerweile weit verbreitetes und interdisziplinär angewandtes Forschungsfeld begründete (Horn & Mehl, 2004; Wilz et al., 2017). In ihren Arbeiten untersuchten Pennebaker und Kollegen (1986) die Auswirkungen des Niederschreibens (hoch) belastender Gedanken und Gefühle bei Studierenden zu autobiographischen Ereignissen und konnten damit langfristige, positive Wirkungen sowie einen gesundheitsfördernden Effekt bei den Schreibenden belegen. Die emotionsbezogene, schriftliche Auseinandersetzung mit einem belastenden Erlebnis zeigt Kröner-Herwig und Kollegen (2004) zufolge „ein[en] einfache[n] Weg zur Selbsthilfe für jeden Menschen“ (S. 184) auf und stellt ein hilfreiches Instrument zur Förderung der psychischen Gesundheit dar, ohne im regelmäßigen Kontakt zu einem Therapeuten stehen zu müssen (Gerger et al., 2021).

Die Ergebnisse von Pennebaker und Kollegen wurden in einer Reihe weiterer (konzeptueller) Studien bestätigt. In der Mehrheit der Studien wird zwar über ein kurzfristiges negatives Stimmungsbild sowie einer Zunahme an physischen Beschwerden nach der jeweiligen Schreibintervention berichtet, jedoch auch über eine langfristige Verbesserung der Faktoren und deren positive Auswirkungen auf individuelle Selbstöffnungsprozesse (Kröner-Herwig et al., 2004): „Zentral ist dabei die Annahme, dass es die natürliche menschliche Reaktion auf ein belastendes Erlebnis sei, seinen Gefühlen in der Kommunikation Ausdruck zu geben“ (Kröner-Herwig et al., 2004, S. 184). Nach Horn und Kollegen (2004) ist dabei insbesondere die individuelle und durch die Person selbst gesteuerte Selbstöffnung bzw. das jeweilige Maß dieser individuellen Selbstöffnung eine wesentliche Stärke des expressiven Schreibens. Das expressive Schreiben weißt demnach auch als therapeutische sowie präventiv-medizinische Technik positive Wirkungen auf (Horn & Mehl, 2004; Lepore & Smyth, 2002) und steht im Zusammenhang mit einem verbesserten Immunsystem (Booth et al., 1997; Esterling et al., 1999; Pennebaker et al., 1988; Petrie et al., 1995), verbessertem Blutdruck (Crow, 2000), einer verbesserten Leberfunktion (Francis & Pennebaker, 1992) sowie einer schnelleren Wundheilung (Weinman et al., 2008). Weiterhin belegen Studien ebenfalls geringere Symptome rheumatoider Arthritis und Asthma-Erkrankungen bzw. eine verbesserte Lungenfunktion aufgrund einer Schreibintervention (Smyth et al., 1999). Ganz allgemein konnte festgestellt werden, dass expressives Schreiben mit einem geringeren Auftreten von gesundheitlichen Beschwerden korreliert (Greenberg & Stone, 1992; Pennebaker & Beall, 1986). Durchaus belegte Wirkungen auf emotionale und psychische Prozesse sind dabei noch nicht ausreichend erforscht bzw. weniger repräsentativ: „However, the overall evidence for psychological health benefits of expressive writing is not as robust or consistent as for physical health“ (Baikie et al., 2012, S. 311). Zu weiteren positiven Wirkungen auf nicht gesundheitsbezogener Ebene gehören etwa ein verbesserter Notendurchschnitt bei Studierenden (Cameron & Nicholls, 1998; Pennebaker & Francis, 1996), weniger Fehlzeiten am Arbeitsplatz (Francis & Pennebaker, 1992), ein verbessertes Arbeitsgedächtnis (Klein & Boals, 2001) sowie sportliche Leistungen (Scott et al., 2003). Spätere Studien, u. a. von Pennebaker und Chung (2011) selbst sowie von Frattaroli (2006) weisen jedoch nur moderate bis kleine Effektstärken gegenüber den ursprünglich mittelgroßen Effekten expressiven Schreibens auf. Auch die Arbeit von Kröner-Herwig und Kollegen (2004) kann eine langfristige Wirkung expressiven Schreibens nicht bestätigen.

Schreibinterventionen bzw. die Wirkung des Schreibens wird insbesondere anhand von Interventionen untersucht, in denen die Teilnehmenden über negative emotionale Erfahrungen schreiben, wie aus einer Übersichtsarbeit von King (2001) hervorgeht: „It is notable that all of these studies have started with a particular bias – that benefiting from writing must involve encountering and co** with a traumatic event from the past“ (S. 799).

Burton und King (2004) zufolge gibt es jedoch keine Belege dafür, dass dieser Aspekt ein wesentliches Element des Schreibparadigmas ist, womit der „Wandel des Schreibparadigmas“ (Wilz et al., 2017) eingeleitet wird:

Though such a focus is in kee** with the assumptions of more psychoanalytically oriented notions of human functioning, there is no evidence that this aspect of the writing paradigm is an essential element of the so-called ‘healing power of writing’ (Pennebaker, 1990) (Burton & King, 2004, S. 151).

Hinsichtlich dessen, stellten bereits Pennebaker und Seagal (1999) in ihren Analysen fest, dass gesundheitsförderndes Schreiben insbesondere mit einer Vielzahl positiver Wörter bzw. positiver Emotionsworte verbunden ist statt mit negativen. Den Befund, dass im Laufe der Schreibintervention vermehrt Einsichts- und Kausalworte von den Schreibenden genutzt werden (Pennebaker & Seagal, 1999; Ruini & Mortara, 2022; Wilz et al., 2017) deutet für Wilz und Kollegen (2017) „darauf hin, dass die Sinnfindung hinsichtlich einer negativen Erfahrung durch die Konstruktion eines kohärenten Narrativs für die positiven Gesundheitseffekte des expressiven Schreibens verantwortlich sein könnte“ (S. 23). Ein Fokus auf negative Emotionen wäre demnach nicht ausschlaggebend für einen positiven Effekt des Schreibens (Wilz & Brähler, 1997). Diese Annahme bestätigt sich auch in Arbeiten von Greenberg und Kollegen (1996), die das Schreiben über ein imaginäres Trauma untersuchten sowie bei King und Miner (2000) über das Schreiben positiver Folgen traumatischer Erlebnisse. In beiden Arbeiten zeigen sich ähnliche Effekte wie beim expressiven Schreiben. Dabei wird von den Autoren angenommen, dass vor allem Aspekte einer verbesserten Selbstregulation und Selbstwirksamkeit für die positiven Effekte von Schreibinterventionen ausschlaggebend sind. Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, dass Schreiben im Allgemeinen eine positive Wirkung hat und förderliche Effekte auf Selbstwirksamkeit und -regulation sowie Co**strategien aufweist (Haertl & Ero-Phillips, 2019).

Mit dem Ziel „gain without pain“ (King, 2002, S. 119) will King Schreibende nicht mit emotional belastenden bzw. negativen Gefühlen während des Schreibprozesses konfrontieren, sondern vielmehr positive Effekte des Schreibens erzielen und so eine Verschlechterung des Stimmungsbildes und negative Gefühle bei den Schreibenden verhindern (Wilz et al., 2017).

3.3.2 Positives Schreiben

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit expressiven Schreibinterventionen, haben insbesondere Pennebaker und Kollegen (1986) eine Vielzahl an positiven Auswirkungen und Effekten auf die Schreibenden belegen können (nähere Ausführungen hierzu, siehe Abschnitt 3.3.1). Besonders die kurzfristige Verschlechterung des Stimmungsbildes bei der Niederschrift negativer, traumatischer Erlebnisse wurde dabei kritisch betrachtet und in darauf aufbauenden Studien durch andere Schreibinstruktionen modifiziert (Greenberg et al., 1996; King & Miner, 2000). Die Studien konnten dabei ähnliche Ergebnisse erzielen, ohne die Schreibenden negativ zu belasten. In ihren Analysen kamen King und Miner (2000) zu dem Schluss, dass jede Form des Schreibens Selbstregulation fördert und einen positiven Einfluss auf die körperliche Gesundheit bewirken kann. In ihren Untersuchungen analysierten die Autoren deshalb das Schreiben über die positiven Aspekte eines Traumas sowie das Co**verhalten der Schreibenden, um bei den Teilnehmenden eine effektive Selbstregulation durch die Schreibinstruktionen anzustoßen.

In einer weiteren Studie von King (2001) ließ die Autorin die Teilnehmenden über ihre Lebensziele bzw. ihr bestmögliches zukünftiges Selbst schreiben, um so den Selbstregulationsprozess anzustoßen, ohne negative Emotionen hervorrufen zu müssen. Ebendiese Lebensziele sieht King (2001) dabei in ihrer Arbeit als hilfreiches Mittel, um intrinsische Prozesse anzuregen: „The goals that individuals espouse for themselves have been seen as a window into self-regulatory processes“ (S. 800) und bezieht sich dabei auf die Arbeiten zu Zielkonstruktionen von Austin und Vancouver (1996). Die Autorin geht davon aus, dass auch das Aufschreiben von positiven Aspekten des Lebens als therapeutische Maßnahme betrachtet werden kann, den Schreibenden Lebensziele bewusstmacht und sie dazu bringt, ihre Prioritäten und Werte neu zu ordnen. Das Anstoßen der beschriebenen Prozesse sind dabei wesentliche Aspekte einer kognitiv-behavioralen Therapie (King, 2001) und eng mit dem Konstrukt der positiven Psychologie verbunden, welche zur gleichen Zeit durch Martin Seligman und Mihaly Csikszentmihalyi (2000) als neue psychologische Strömung an Aufmerksamkeit gewann. In ihren Analysen kommt King zur Feststellung, dass auch das Schreiben über positive Aspekte wirkungsvoll ist und somit eine weitere Möglichkeit darstellt Schreibinterventionen anzuwenden, ohne die Schreibenden emotional zu belasten: „Results indicate that writing about life goals is another way to enjoy the health benefits of writing without the emotional costs“ (King, 2001, S. 804). Ihren Ausführungen zufolge ist das positive Schreiben weniger belastend als das Niederschreiben traumatischer Erlebnisse und geht trotzdem mit einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität und des subjektiven Wohlbefindens einher (King, 2001) und trägt darüber hinaus dazu bei, dass bei den Schreibenden kognitive Prozesse angestoßen werden, die ohne positive Schreibinterventionen nicht verarbeitet werden (Burton & King, 2004).

Die Theorie von Fredrickson (1998) ist ein zentrales Modell und eine wichtige Grundlage der Positiven Psychologie. In ihrer „Broaden-and-build theory of positive emotions“ geht sie davon aus, dass „positive emotions appear to broaden peoples’ momentary thought–action repertoires and build their enduring personal resources“ (Fredrickson, 2004, S. 1369). Darunter ist zu verstehen, dass positive Emotionen wie Freude, Interesse, Zufriedenheit und Liebe die Aufmerksamkeit und Denkprozesse, also die menschliche Wahrnehmung des Einzelnen, erweitern („broaden“) und die Möglichkeit zum Aufbau von Fähigkeiten einräumen, wodurch positiv emotionale Erfahrungen langfristige Ressourcen sowie dauerhafte Vorteile („build“) auf das Individuum haben können und dahingehend Kreativität, Co**strategien, Problemlösungsfähigkeiten sowie Entscheidungsfindungen fördern und verbessern (Burton & King, 2004).

A key proposition is that these positive emotions broaden an individual’s momentary thought–action repertoire: joy sparks the urge to play, interest sparks the urge to explore, contentment sparks the urge to savour and integrate, and love sparks a recurring cycle of each of these urges within safe, close relationships (Fredrickson, 2004, S. 1367).

Diese Aussage kann dabei in den Zusammenhang der bereits aufgeführten positiven Aspekte der Übernahme einer Pflege- und Begleitungssituation gesetzt werden, welche ebenfalls in Verbindung mit den beschriebenen Kategorien stehen und positive (u. a. gesundheitliche) Effekte auf pflegende Angehörige haben.

Such a line of reasoning would suggest that experienced positive mood during writing might mediate the effects of writing topic on health. In addition, writing that reflects ‘‘broadening’’ processes such as global thinking, creativity, and the like, might be more likely to lead to health benefits (Burton & King, 2004, S. 153).

Auch Seligman und Kollegen (2005) konnten zeigen, dass das tägliche Schreiben über „[t]hree good things in life“ (S. 416) nachhaltig das Empfinden von Glücksgefühlen verbessert sowie das Aufkommen depressiver Symptome verringert. Sie kommen deshalb zu dem Schluss, dass „[p]ositive interventions can supplement traditional interventions that relieve suffering and may someday be the practical legacy of positive psychology“ (Seligman et al., 2005, S. 410). Risch und Wilz (2013) liefern in ihrer Pilotstudie zur Wirksamkeit positiver Schreibinterventionen in Form eines Ressourcentagebuchs bei Patienten nach stationärer Psychotherapie außerdem erste Hinweise auf die Verbesserung des Stimmungsbildes sowie eine Förderung der Emotionsregulation.

Aktuellere Forschungsarbeiten haben die Wirksamkeit des kommerziellen „6-Minuten Tagebuchs“ wissenschaftlich überprüft und kamen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Schreibenden ein geringer empfundenes Stresslevel und negativen Affekt aufweisen sowie ein höheres Maß an Resilienz und Selbstvertrauen zeigen (Lorenz et al., 2022). Die Autoren sehen das „6-Minuten Tagebuch“ dabei als hilfreiche Intervention und wirksamen Präventionsansatz an: „The 6-minute diary does not appear to make individuals fundamentally more positive. However, the intervention may have a protective function against negative influences on well-being“ (Lorenz et al., 2022, S. 1).