In Kapitel 5 wurde rekonstruiert, dass alle sechs Teams sich zu Beginn der Gruppendiskussion von sexueller Gewalt als Gewalttat distanzieren. Diese Figur wurde dort als Distanzierung gefasst und als Demonstration der Unschuld gedeutet. Die weiteren Verläufe der Gruppendiskussionen bestätigen, dass es sich hier in der Tat um eine rhetorische Figur handelt, die dazu dient, die Position der unschuldigen Expert*innen einnehmen zu können. Die explizite Aussage, dass es noch nie sexuelle Gewalt gegeben hat, wird in vier Gruppendiskussionen dadurch relativiert, dass von Fällen in der Einrichtung berichtet wird, in denen einzelne Mitarbeiter*innen sexuell übergriffig gegenüber Jugendlichen waren bzw. es einen konkreten Verdacht gegen sie selbst oder andere Mitarbeiter*innen gab.

Im Folgenden wird nun auf Tatverdächtigungen gegen pädagogische Fachkräfte (9.1) und Grenzverletzungen durch pädagogische Fachkräfte (9.2) eingegangen, um diese konkreten Vorfälle als Anlass für die Thematisierung von sexueller Gewalt näher zu beleuchten.

9.1 Pädagogische Fachkräfte unter Tatverdacht

In den Gruppendiskussionen wird mehrfach davon berichtet, dass ein*e oder mehrere Kolleg*innen unter Verdacht standen, sexuelle Gewalt gegenüber Kindern oder Jugendlichen verübt zu haben. Fast alle Beispiele thematisieren männliche Fachkräfte, nur ein Beispiel bezieht sich auf eine Frau. Neben einzelnen Fällen, bei denen sich der Verdacht bestätigte, wird wiederholt betont, dass auch ein später widerlegter Verdacht für Kollegen schwerwiegende Folgen hatte.

Verdächtigt durch die eigene Organisation

Ein Beispiel, das für die Darstellung des Phänomens genauer betrachtet werden soll, ist eine Erzählung von Herrn Braun, der in Einrichtung B arbeitet. Er vergleicht seine beruflichen Erfahrungen bei einem anderen Arbeitgeber mit den Erfahrungen in Organisation B. In beiden Organisationen wurde er mit der Unterstellung konfrontiert, übergriffig zu sein. Die Sequenz, in der er die beiden organisationalen Umgangsweisen gegenüberstellt, ist sehr lang und wird deshalb hier in Auszügen wiedergegeben.

Zunächst berichtet Herr Braun darüber, dass er sich seit seinem Arbeitsbeginn in der stationären Kinder- und Jugendhilfe Gedanken über das Thema sexuelle Gewalt gemacht hat. Als besonders herausfordernd benennt er Situationen, in denen er mit Kindern allein war. Von diesen allgemeinen Überlegungen kommt er auf eine konkrete Situation:

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In dieser Erzählung berichtet Herr Braun über Erfahrungen, die er bei einem vorherigen Arbeitgeber gemacht hat. Die Formulierung “mehr als nur Gedanken gemacht” zeigt, dass es in dieser Situation nicht nur um eine abstrakte, theoretische Reflexion über das Thema sexuelle Gewalt geht, sondern um konkretes Erleben und Handeln.

In der Erzählung werden Situationen der räumlichen Nähe problematisiert, hier konkret solche, in denen Erwachsene Kinder auf dem Schoß haben. In dieser Elaboration wird deutlich, dass die Situation an sich, also das Schoßhalten, für Herrn Braun nicht problematisch ist, sondern dass ihn die darauffolgende Reaktion der Heimleiterin die Situation als problematisch erleben lässt. Die verdeckte Überprüfung, ob er die körperliche Nähe zu Kindern übertreiben würde, bewertet Herr Braun als “total[] krasse situation”. Er problematisiert, dass es „keinen offenen umgang“ mit dem Verdacht gegen ihn gab. Auch als er die Vertrauensfrage stellt, wird ihm versichert, dass „alles gut“ sei. Das Misstrauen, das der Mitarbeiter hier empfand, war so groß, dass er sich eine neue Arbeitsstelle suchte. Dort, wie unter 6.2 ausführlich beschrieben, thematisiert er im Einstellungsgespräch seine Homosexualität und fragt offen, ob es aufgrund dessen Ressentiments gegen ihn geben würde.

Wie bereits mehrfach geschildert, wird von Herrn Braun besonders der offene Umgang der Einrichtung B mit dem Thema sexuelle Gewalt hervorgehoben. So steht dann auch der organisationale Umgang mit dem zweiten Tatverdacht, mit dem sich die pädagogische Fachkraft konfrontiert sieht, in maximalem Kontrast zum ersten:

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In dieser Erzählung berichtet Herr Braun sehr ausführlich von einem gegen ihn gerichteten Eintrag im digitalen Gästebuch der Einrichtung B. Der Eintrag wurde nicht veröffentlicht, da die Einrichtungsleitung die Beiträge freischalten muss. Der Inhalt des Eintrages beschuldigte ihn als „kinderficker“, der sein ehemaliges Bezugskind „schwul“ gemacht habe. Herr Braun geht schon aufgrund des Alters des Jungen davon aus, dass die formulierten Anschuldigungen gegen ihn nicht plausibel sind, da der Junge den Eintrag mit seinen sieben Jahren nicht verfasst haben kann. Weiter ordnet er die Beschuldigungen in eine Reihe von Beschimpfungen ein, die die Eltern des Jungen bereits zuvor mündlich auch gegenüber anderen Fachkräften formuliert haben. Nachdem Herr Braun zunächst den Sachverhalt geschildert hat, ordnet er den Vorfall für sich ein: Es handelt sich für ihn nicht um einen „konkreten vorwurf“, sondern um eine „beschimpfung“. In der Folge geht es, anders als im ersten Beispiel, hier nicht darum, ob Herr Braun Grenzen der Nähe tatsächlich überschritten hat. Die Titulierung als „kinderficker“ wird erst dadurch problematisch, dass sie in ein Gästebuch geschrieben und damit öffentlich gemacht wird. Dass dies nicht geschieht, liegt an den Administratorenrechten der Einrichtungsleitung. Für Herrn Braun selbst ergibt sich daraus keine wesentlich neue Situation. Dennoch kommt es dazu, dass die Einrichtungsleitung den Vorwurf anspricht. Frau Keller und Herr Schmidt scheinen den Fall zu prüfen. Diese Prüfung wird jedoch parasprachlich durch das Lachen als überflüssig markiert. Der Beschimpfung gegen den Mitarbeiter bzw. die Einrichtung soll nicht weiter nachgegangen werden. Herr Braun hebt im Vergleich dieser Situation mit der Situation an seiner alten Arbeitsstelle hervor, dass die Einrichtung B ihn offen auf diesen Vorfall anspricht und ihm auch die Grundlage des Verdachtes offenlegt. Gleichzeitig wird ihm zugesichert, dass die Einrichtung ihn stärken würde, wenn er selbst das Bedürfnis hätte, diesen Fall öffentlich zu machen und zur Polizei zu gehen. In dieser Fokussierungsmetapher werden zwei organisationale Umgangsweisen mit einem Tatverdacht gegenübergestellt. Beide Varianten sind Anlass dazu, dass sexuelle Gewalt zum Thema im beruflichen Alltag der pädagogischen Fachkraft wird. Besonders interessant ist hier die Orientierung: Nicht die Anschuldigung selbst ist es, wovor die Fachkraft Angst hat bzw. die bedrohlich ist, sondern der Umgang der Organisation ist für ihn entscheidend. Der Umstand, dass er durch andere von der Verdächtigung erfährt, ist „voll krass“ (GD3, 509 ff.) und ein offener Umgang ist „ehrlich“ (GD3, 581).

Von einem weiteren sehr eindrücklichen Bericht über einen Verdacht gegen sich selbst berichtet die innewohnende Fachkraft Jan des Teams 4. Zu Beginn des Prozesses, in dem er zur innewohnenden Fachkraft wurde, hat er sich extremem Misstrauen seitens der Organisation ausgesetzt gesehen. Allerdings begründet sich das Misstrauen nicht in seinem Handeln oder konkreten Situationen, sondern lediglich in der Tatsache, dass er ein Mann ist. Er berichtet mehrfach von psychologischen Screenings und verdeckten Überprüfungen seiner Person in der Anfangsphase seiner Tätigkeit, die er als sehr unangenehm empfunden hat. Der Bericht wurde teilweise sehr emotional vorgetragen und es schien, als ob das Handeln der Organisation die pädagogische Fachkraft auch nachträglich noch belastete:

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Die innewohnende Fachkraft Jan berichtet stockend von der Phase, in der er sich bei Einrichtung C als innewohnende Fachkraft beworben hat. Die Erzählung ist sehr verschachtelt. Ausgangspunkt ist Jans Beschreibung, dass er von der Einrichtung immer wieder „abgeklopft“ wurde, um herauszufinden, welche „sexuelle orientierung“ er habe. Jan irritiert hier vor allem, dass diese Untersuchung durch die Einrichtung „nicht explizit“, sondern implizit stattgefunden hat. In der Aussage „wo man merkte so da die drehen immer schon mal so drei runden so um mich rum“ wird deutlich, dass die Frage nach seiner sexuellen Orientierung sehr wohl im Raum und er sich stark geprüft gefühlt hat, ohne, dass dies ihm gegenüber transparent gemacht wurde. Hier sehen wir starke Analogien zu der Schilderung von Herrn Braun, der ebenfalls das verdeckte Agieren seiner alten Einrichtung als sehr belastend dargestellt hat. Es zeigt sich eine ähnliche Orientierung: Problematisch ist für Jan nicht unbedingt, dass die Frage im Raum steht, ob er homosexuell ist, sondern die fehlende Offenheit und damit einhergehend das Misstrauen, das ihm entgegengebracht wird. Zudem kommt es hier zu einer Verknüpfung von Homosexualität und Pädosexualität.

Sehr präsent wurde das Misstrauen für Jan bei einem Gespräch für ein psychologisches Gutachten. Das Einholen eines solchen Gutachtens ist für Einrichtung C ein standardisiertes Vorgehen, das alle Anwärter*innen auf die Position als innewohnende Fachkraft durchlaufen. Andere innewohnende Fachkräfte hatten ihm im Vorfeld über den Verlauf des Gespräches berichtet: „hoch ja ne, so da mal nett drüber sprechen,“, wie er gedenke, den Alltag in der Wohngruppe zu bewältigen. Für Jan war dieses Gespräch jedoch wider Erwarten nicht „nett“, sondern eine „keule“. Der Psychologe stellte sich als Forensiker vor. Für Jan scheint diese Selbstbeschreibung einherzugehen mit kriminalistischen Ermittlungen gegen ihn, die ihn nahezu k.o. schlagen. Schon die Situation selbst, sich einem Forensiker auszusetzen, macht ihn zum Tatverdächtigen. Auch die psychologischen Tests, die folgten, haben für ihn etwas „vorwurfhaftes“. Er kommt in dem Gespräch in die Position des Angeklagten. Obwohl es keine konkreten, für Jan präsenten Anhaltspunkte gibt, wird er alleine, weil er ein Mann und evtl. homosexuell ist, wie ein Straftäter einem psychologischen Screening unterzogen.

Anschließend an die Darstellung der Ereignisse stellt Jan seine Interpretation dessen dar, wie es zu dem Generalverdacht aufgrund seines Geschlechtes kommt: „es gibt diese, (.) sensibilisierung, die die so kippt, in dieses so so = n grundmisstrauen; ich glaub das ist auch so, erstmal n n nvorwurf an alle männer erstmal ist; die (Ruth: @ja@ ((husten)) in diesem bereich arbeiten,“. Diese Textstelle zeigt die in Kapitel 7 bereits herausgearbeitete Interdependenz zwischen der medialen Berichterstattung und der Sensibilisierung der Organisation. Auch hier wird darauf hingewiesen, dass die Sensibilisierung, die selbst zunächst positiv ist, „kippt“ und es zu einem „grundmisstrauen“ kommt. Die mediale Berichterstattung ist also Ausgangspunkt eines Generalverdachts gegen männliche pädagogische Fachkräfte. Im letzten Abschnitt der Sequenz wird dieser von Ruth als unzulässig markiert. Problematisiert wird, (1) dass Frauen als Täter*innen in Einrichtung C überhaupt nicht im Blick sind und (2), dass der Verdacht gegen Männer generalisiert ist. Ruth verschiebt mit ihrem Beitrag die Proposition hin zur Verantwortung der Organisation. Diese muss mit der potenziellen Möglichkeit umgehen, dass pädagogische Fachkräfte Täter*innen werden können. Die derzeitige Umgangsweise, die Männer alleine und pauschal fokussiert, wird kritisiert. Der Zusammenhang zwischen der organisationalen Umgangsweise mit Verdachtsfällen sexueller Gewalt und der medialen Thematisierung sind Gegenstand der direkt anschließenden Sequenz:

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In dieser Sequenz zeigt sich, dass die pädagogischen Fachkräfte einen sehr starken Zusammenhang zwischen der medialen Skandalisierung und der öffentlichen und organisationalen Reaktion herstellen. Hier ist zu beachten, dass nicht die Thematisierung sexueller Gewalt seitens der Organisation per se abgelehnt wird. Es ist viel mehr die Abhängigkeit der Reaktion von der medialen Skandalisierung, welche kritisiert wird.

Die Reaktionen der Organisation „wenn das plötzlich raus kommt“ scheinen kopflos und übereilt: „dann müssen alle reagieren, dann muss man irgendwie was tun“. In der Wahrnehmung der Fachkräfte scheint es hier so, dass die Organisation lediglich der Form gerecht wird und eine willkürliche Reaktion zeigt. Wie diese Reaktion aussieht, ist nebensächlich im Diskurs. Dieses Vorgehen steht im Kontrast zu den Bedürfnissen der pädagogischen Fachkräfte. Dass die Art und Weise der Reaktion der Organisation für die Mitarbeiter*innen aber überaus wichtig ist, bestätigt der folgende Abschnitt:

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In dieser stark interaktiven Sequenz sprechen Jan, Ruth und Sabine unisono. Die hier formulierten Aussagen werden von allen geteilt und das Sprechen verweist auf einen sehr starken gemeinsamen Erfahrungsraum und eine gemeinsame Orientierung. Gegenstand der Diskussion ist ein fehlendes Prozedere innerhalb der Organisation, das Thema sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte anzusprechen. Bislang geschieht dies eher verdeckt und stigmatisierend. Es wird markiert, dass die Adressierung einer pädagogischen Fachkraft als potenzielle*r Täter*in in zweifacher Weise unangenehm ist: (1) für die Mitarbeiter*in selbst und (2) für die leitende Person. An diese Stelle verzahnen sich die Schwierigkeiten, über sexuelle Gewalt zu sprechen und diese zu benennen mit der Angst vor dem Generalverdacht. Die Orientierung des Teams präzisiert sich noch in einer weiteren Fokussierungsmetapher, in welcher der organisationale Umgang mit einer fiktiven Beschuldigung eines Kollegen Gegenstand ist.

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Als Thema setzt Jan zu Beginn, dass ein Zweifel ausreicht und er diesen schwierig findet. Wozu genau ein Zweifel ausreicht, bleibt zunächst offen. Weiter soll es eigentlich nicht um den Selbstschutz gehen, gleichzeitig wird dieser aber durch einen Zwang präsent. Es folgt eine Exemplifizierung. Jan spricht für eine*n fiktiven Kolleg*in: „(du) der KÖNNTE übergriffig sein“. Bereits dieser im Konjunktiv formulierte Zweifel führt zum metaphorischen Tod. Ruth führt diese aufgeworfene Proposition weiter und unterstreicht sie mit dem Beispiel eines Mädchens, das eine Beschuldigung äußert. So eine Beschuldigung würde aus der Perspektive der pädagogischen Fachkräfte zu einem „riesen problem.“ führen. Nicht nur für denjenigen/diejenige, der*die unter Verdacht stünde, sondern für „alle“. Hier wiederholt Team 4 die Annahme, dass ihre Einrichtung C mit einem Verdacht überfordert wäre. Ihnen sind keine Verfahrenswege präsent, die pädagogische Fachkräfte schützen oder anleiten würden. Dadurch, dass die Organisation sie nicht schützt, wird ein Selbstschutz zwangsläufig nötig. Während Einrichtung C für die pädagogischen Fachkräfte von Team 4 kein standardisiertes Vorgehen kennt, ist für Team 6 eine radikale Standardisierung problematisch.

Ähnlich wie das Team 2 werden von Team 6 auch zwei differnte Umgangsweisen von Einrichtungen gegenübergestellt. Allerdings ist der Ausgangspunkt hier, dass die Leitungsebene der Einrichtung gewechselt hat und nicht der Arbeitsplatzwechsel einer pädagogischen Fachkraft. Bereits zu Beginn der Gruppendiskussion in der Vorstellung der eigenen Wohngruppe beschreiben die Diskutant*innen, dass sich Einrichtung D in den letzten Jahren stark verändert habe. Bis vor Kurzem wurde die Organisation von den Diskutant*innen als klein und familiär wahrgenommen, Einrichtungsleitung und weitere pädagogische Dienste als unterstützend, das Team fühlte sich zugehörig. Seitdem eine Fusion stattgefunden hat und die gesamte Leitungsebene wechselte, beschreiben die pädagogischen Fachkräfte eine starke Distanz zu den zentralen Diensten der Einrichtung. Es wird kein Mehrwert darin gesehen, diese zu Beratungen zu kontaktieren. In den Erzählungen des Teams werden Situationen aus der Vergangenheit als positive Gegenhorizonte angeführt. Team 6 beschreibt, vor dem Führungswechsel eng mit den pädagogisch unterstützenden Diensten zusammengearbeitet zu haben. Sie sahen hierin einen Gewinn für die eigene Arbeit. Deutlich wird dies in einer längeren Fokussierungsmetapher über die ehemalige Bewohnerin Nadine, die Thorsten Aman auf ihren nackten Körper aufmerksam macht:

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In dieser Sequenz berichten die pädagogischen Fachkräfte gemeinsam von einer ehemaligen Bewohnerin, die Herrn Aman ein „angebot“ gemacht hat, dass er sie nackt sehen könne. Herr Aman erklärt sich das Angebot aus einer pädagogischen Beziehung heraus, in der er Nadine über körperliche Nähe zeigen wollte, dass es auch Männer gibt, die „nicht an meine brust, oder an zwischen meine beine greifen“. Herr Aman ist in seiner pädagogischen Beziehung zu Nadine also bewusst auf ihre emotionalen Bedürfnisse nach Nähe eingegangen und wollte ihr durch sein Verhalten zeigen, dass sie körperliche Nähe bekommen kann, ohne dass sie eine sexuelle Gegenleistung erbringen muss. Die Situation, in der Nadine Herrn Aman körperliche, vermutlich sexuelle Nähe angeboten hat, wurde im Team aufgegriffen und gemeinsam mit dem einrichtungseigenen Psychologen analysiert. Die gemeinsame Analyse hat für Herrn Aman die Perspektive auf das Verhalten des Mädchens wesentlich geändert. Dem Team ist die Funktion des Angebots deutlich geworden und es wurden Handlungsalternativen für Herrn Aman erarbeitet, mit denen er dem Bedürfnis des Mädchens wertschätzend begegnen konnte. In dieser Erzählung zeigt sich, wie sehr der Psychologe der Einrichtung und der Raum zur Reflexion als Unterstützung wahrgenommen wurden. Die Reflexionssituation war für Herrn Aman so sicher, dass es möglich war, sein Verhalten kritisch zu betrachten und Fehler zu sehen: „war wirklich nicht so gut wat ich da gemacht hab“. Durch die Reflexion war dann ein besseres, pädagogisches Handeln möglich und emotionale Nähe konnte angemessen hergestellt werden.

Dieses Vertrauen in die Organisation liegt bei Team 6 nach der Fusion und der veränderten Struktur der Einrichtung nicht mehr vor. Dies zeigt sich in einer Fokussierungsmetapher, in der die Handlungsrichtlinien der Einrichtung bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt von den pädagogischen Fachkräften scharf kritisiert werden. Zur besseren Lesbarkeit ist die Sequenz in einzelne Sinneinheiten unterteilt worden:

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Herr Aman eröffnet hier den selbstläufigen Teil der Gruppendiskussion nach dem Stimulus. Er beginnt mit der Erläuterung von seinem „problem“. Es geht um eine – wie in anderen Textstellen deutlich wird – einrichtungsinterne Fortbildung zum Thema sexueller Missbrauch durch pädagogische Fachkräfte und das daraus resultierende Schutzkonzept der Einrichtung, welches als Datei auf dem Computer des Teams abgelegt ist. Herr Aman problematisiert, dass er laut den Verfahrensrichtlinien als „täter“ behandelt wird, sobald ein Verdacht gegen ihn aufkommt. Er würde „entfernt“ und die Kolleg*innen dürften keinen telefonischen Kontakt zu ihm haben, bis der Verdacht ausgeräumt wäre. In der Sequenz wird deutlich, dass das Team aus den Handlungsrichtlinien ableitet, dass das juristische Prinzip der „unschuldsvermutung“ gegen die pädagogischen Fachkräfte nicht zu gelten scheint. Sie sehen in dem Vorgehen vielmehr einen Generalverdacht. In dem „ach?“ drückt sich die Vermutung aus, dass die Feststellung der Unschuld als ein Ergebnis der internen Untersuchung die Leitung überraschen würde. Hier dokumentiert sich ihre Perspektive auf die Leitung, die sie ihnen gegenüber grundsätzlich als misstrauisch wahrnehmen. Die Sequenz geht weiter mit dem avisierten Vorgehen für den Fall, dass die Unschuld dennoch festgestellt werden sollte.

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Herr Aman fährt direkt fort mit der Darstellung des nächsten konzeptionellen Schrittes, sollte ein Verdacht entkräftet werden. Dieser sieht vor, dass die pädagogische Fachkraft rehabilitiert wird. Aufgrund seiner dreißigjährigen Berufserfahrung findet Herr Aman die Annahme, dass die Wiederherstellung des Rufs funktionieren würde, lächerlich und abwegig. Er nimmt stattdessen an, dass eine Beschuldigung und der daraus resultierende Verdacht weitreichende, dauerhafte Konsequenzen hätten. Diese Annahme stützt Herr Aman auf eine Erfahrung eines Kollegen, welche einige Jahre zurückliegt. Der Kollege wurde von Bewohner*innen beschuldigt, körperliche Gewalt ausgeübt zu haben und bei der Polizei angezeigt. Dies hatte seine Beurlaubung oder Suspendierung durch die Einrichtung zur Folge. Auch wenn sich der Verdacht hier nicht bewahrheitete und es vermutlich kein Fehlverhalten durch den Kollegen gab, hatte allein der Verdacht und die organisationale Reaktion darauf weitreichende Konsequenzen, die nicht wieder zurückgenommen werden konnten. Auch nach der Rücknahme der Anzeige und der Beschuldigung blieb die Degradierung des Kollegen „zum hans arsch“. Herr Aman fährt fort:

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Herr Aman zieht aus der Erfahrung des dauerhaft degradierten und beschädigten Kollegen den Schluss, dass eine Rehabilitation im Fall eines widerlegten Verdachtes auf sexuelle Gewalt nicht funktionieren würde. Die Erkenntnis, dass ein Verdacht gegen seine Person ihn bereits massiv beschädigen würde, führt dazu, dass er sich zweier Risiken seiner Arbeit vergegenwärtigt. Zum einen gibt es stark vorbelastete Bewohner*innen, die das Thema Sexualität und sexuelle Gewalt zu ihrem Vorteil nutzen können und, so seine Einschätzung, auch Fachkräfte beschuldigen würden. Und zum anderen bezweifelt er den Schutz durch die Teamkolleg*innen. Hier dachte er vor der Schulung, dass die Vertrauensbasis, auf der die Kolleg*innen für seinen „leumund“ sprechen könnten, eine Entlastung für ihn sein könnte. Dies scheint aber mit den Verfahrensrichtlinien gegen sexuellen Missbrauch nicht mehr zu gelten. Das macht Herrn Aman „angst und bange“. Das Team und der Austausch mit dem Team, welcher für sein professionelles Handeln wesentlich ist, wird ihm, so die hier dargestellten Richtlinien, entzogen. Damit wird er schutzlos. In seiner Orientierung wird das institutionelle Schutzkonzept der Einrichtung zu einer Bedrohung für ihn.

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Die Konklusion der Textstelle zeigt die Zustimmung der beiden anderen Fachkräfte zum Zweifel am Vorgehen der Einrichtung. Sie halten es für sehr unwahrscheinlich, dass tatsächlich eine immens kostspielige Personalvollversammlung einberufen würde, wie die Richtlinien es vorschreiben. In der Orientierung wird deutlich, dass sie sich von der Einrichtungsleitung in ihren Bedürfnissen nicht gesehen und wertgeschätzt fühlen. Die pädagogischen Fachkräfte nehmen an, dass die wirtschaftlichen Interessen der Institution über die Interessen der pädagogischen Fachkräfte gestellt würden. Damit bezweifeln sie die Vorgehensweise, die die Einrichtung D für ein Verfahren im Verdachtsfall festgelegt hat. Es herrscht hier nicht nur die Annahme, dass es von Seiten der Einrichtung ein großes Misstrauen gegenüber den Angestellten gibt, sondern ebenfalls ein großes Misstrauen von den Angestellten gegenüber der Einrichtung.

Abschließend kann hier konkludiert werden, dass die pädagogischen Fachkräfte über die Teams hinweg eine offene, ihnen zugewandte und verstehende Haltung durch die Organisation fordern. Das Thema sexuelle Gewalt und Nähesituationen, die in der Bewältigung schwierig sind, sollten offen angesprochen werden können, genauso wie Unsicherheiten im pädagogischen Handeln und Fehler, die gemacht wurden. Es zeigt sich als überaus wichtig, dass die pädagogischen Fachkräfte einen organisationalen Rückhalt haben, der den Generalverdacht nicht an sie weiterleitet, sondern der ein grundlegendes Vertrauen in sie ausdrückt.

Beschuldigt durch Kinder und Jugendliche

Aus allen Teams wird von Erfahrungen berichtet, in denen Kinder und Jugendliche Beschuldigungen gegen sie selbst oder gegen Kolleg*innen geäußert haben. Beschuldigungen können so als Teil der beruflichen Herausforderungen angesehen werden, auch wenn sie in den meisten Fällen nicht alltäglich sind. Es gilt in den Schilderungen zwei unterschiedliche Arten zu unterscheiden, wie pädagogische Fachkräfte unter ‚falschen‘ VerdachtFootnote 1 geraten. Zum einen kann es sich um Missverständnisse handeln, die von anderen als sexuelle Gewalt interpretiert werden. Zum anderen geht es um bewusste falsche Aussagen, die dazu eingesetzt werden, pädagogischen Fachkräften zu schaden. Die Beispiele, die in den Gruppendiskussionen angeführt werden, sind zahlreich und es dominieren Berichte über angenommene Falschbeschuldigungen. Erzählungen über Missverständnisse finden sich nur vereinzelt.

Im Folgenden wird eine Auswahl von Sequenzen bzw. Sequenzausschnitten dargestellt, welche die Rekonstruktion der Orientierungen deutlich nachvollziehen lassen. Der Anlass des Tatverdachts ist in dieser Rekonstruktion das Tertium Comparationis. Für alle Teams ist die Angst vor einer Falschbeschuldigung präsent. Es wird gezeigt, wie sich die Orientierungen der Fachkräfte jedoch im Hinblick auf ihren Umgang mit der Angst und hinsichtlich ihres Bildes vom Kind und Jugendlichen unterscheiden.

In einer Beschreibung nehmen die pädagogischen Fachkräfte des Teams 2 Bezug auf eine Situation aus einer anderen Wohngruppe des Trägers. Ein Mädchen hat einmal ihr Training beim Sportverein geschwänzt und danach in der Wohngruppe erzählt „ein fremder mann hätte sie sexuell angefasst“ (GD2, 573). Die Fachkräfte sind mit dem Mädchen zur Polizei gegangen und „es stellte sich nachher heraus, dass sie das frei erfunden hatte“ (GD2, 576), um sich „aus dieser situation [zu] retten“ (GD2, 578). Das Beispiel zeigt aus Sicht der pädagogischen Fachkräfte, dass die Kinder und Jugendlichen dazu fähig sind, Berichte über sexuelle Gewalt gegen sie bewusst zu erfinden und einzusetzenFootnote 2. Diese Perspektive auf die Kinder und Jugendlichen zeigt sich auch in folgender Sequenz.

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Auch in dieser Passage geht es wieder um ein Kind, das zur Polizei geht, um dort einen körperlichen Angriff anzuzeigen. Diese Anzeige hat weitere Kinder animiert, es ihm gleich zu tun. Frau Groß spricht hier von einer Welle. Metaphorisch bedeutet dies, dass die Reaktionen der Kinder nicht oder nur schwer durch pädagogisches Handeln hätten abgewendet werden können. Gleichzeitig verweist das Bild der Welle aber auch darauf, dass der Zustand auch wieder abebben würde. Frau Groß lacht bei der weiteren Beschreibung über die Kinder die „losgestiefelt“ sind. Im Interpretationsprozess kommt hier ein Bild aufständischer Kleinkinder oder Zwerge auf, die sich zwar bemühen sich aufzulehnen, aber aufgrund ihres mangelnden Einflusses nicht die Möglichkeit haben, mit ihrem Protest etwas zu erreichen. Auch wenn die Kinder so handeln und sogar die Strafverfolgung einschalten, kann das Team sich sicher sein, dass ihre Beschuldigungen folgenlos bleiben. Hier zeigt sich, dass in der Orientierung der Fachkräfte die Kinder wenig Macht haben und ihnen nicht gefährlich werden können – selbst wenn sie versuchen, sich scheinbar mächtige Hilfe zu holen. Die Orientierung der Fachkräfte bezüglich der Kinder wird im weiteren Teil der Sequenz noch deutlicher:

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Die ersten Sätze von Frau Groß beziehen sich auf eine Ombudsperson, die es in Einrichtung B gibt, auf welche die Fachkräfte des Teams 2 die Kinder und Jugendlichen jedoch nur eingeschränkt hinweisen, wie sie vorab geschildert haben. Es ist auf der einen Seite wichtig, dass es eine Stelle gibt an der sich Kinder beschweren können. Dennoch ist die Betonung der Möglichkeit, dass sie sich beschweren können, auch ein Risiko, eine „massenbewegung“ auszulösen. Hier wird die Unterstellung seitens der Fachkräfte deutlich, dass die Kinder die Beschwerdemöglichkeit ausnützen würden, was wiederum mit negativen Effekten für die Fachkräfte verbunden wäre. Herr Adam differenziert hier weiter. Er geht davon aus, dass die Schutzbefohlenen der Einrichtung „kriminelle energie“ und falsche Beschuldigungen nutzen, um ihre Ziele zu erreichen. Damit macht er die Kinder und Jugendlichen potenziell zu Täter*innen, auch wenn die von ihnen ausgehende Gefahr nicht groß ist und er über die Szene lachen muss. Solche Situationen, in denen Kinder Falschbeschuldigungen machen, gehören zum Alltag des Teams 2.

Die Orientierungen der anderen Teams sind kontrastiv zu denen von Team 2. Auch wenn sich ebenfalls Homologien finden, so zeigen sich im Kontrast doch weitreichende Unterschiede. Team 6 berichtet von mehreren Situationen, in denen pädagogische Fachkräfte fälschlicherweise der sexuellen Gewalt beschuldigt wurden. Gemein ist diesen Erzählungen, dass sie weitreichende Konsequenzen für die pädagogischen Fachkräfte hatten. Dies steht im starken Kontrast zu Team 2, das eher belustigt über die Anschuldigungen der Kinder berichtet und gar keine Konsequenzen für die pädagogischen Fachkräfte beschreibt. Das Team 6 benennt einen Zeitungsbericht über einen Erzieher, der aufgrund eines Missverständnisses der sexuellen Gewalt bezichtigt wurde und in der Folge seine Anstellung verloren hat (GD6 1356). Weiter wird in der folgenden Sequenz von einem Vorfall in der eigenen Einrichtung berichtet (GD6 1018–1035):

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Herr Aman berichtet von einem konkreten Fall der Beschuldigung eines Mädchens gegen einen Kollegen. Die Mädchen haben den Kollegen bei der Polizei der körperlichen Gewalt gegen sie beschuldigt und ihn angezeigt. Die Ausgangssituation ist hier also ganz ähnlich wie in der Situation, welche Team 2 beschrieben hatte. Im Beispiel von Team 6 richtet sich die Beschuldigung jedoch nicht gegen einen Fremden, sondern gegen einen Kollegen. In diesem Fall hat die Anzeige eine sofortige Suspendierung der pädagogischen Fachkraft zur Folge. Die Mädchen haben nach einigen Wochen die Anzeige jedoch zurückgezogen. Herr Aman spricht hier davon, dass die „front“ gebröckelt sei. Er benutzt einen militärischen Begriff und markiert so die Mädchen als Gegnerinnen und eine sehr ernstzunehmende Bedrohung. Dies steht im Kontrast zur Beschreibung der Offenlegung der Jugendlichen, dass sie dem Kollegen nur eins „auswischen“ wollten. Diese Wortwahl legt eher einen harmlosen Kinderstreich ohne weitreichende Konsequenzen nahe – ähnlich wie bei Team 2. So symbolisieren die zwei Worte „front“ und „auswischen“ in der sonst sehr neutral berichteten Szene zwei Perspektiven. Für die pädagogischen Fachkräfte ist eine Beschuldigung alles andere als ein Kinderspiel. Egal, ob der Vorwurf begründet ist oder nicht, der Beschuldigte muss mit weitreichenden, dauerhaften Konsequenzen rechnen. Sein berufliches Ansehen wurde vermutlich auf Dauer schwer beschädigt und er hätte mit sozialen und evtl. finanziellen Konsequenzen zu rechnen. Während bislang nur von körperlicher Gewalt die Rede war, überträgt Herr Aman im zweiten Teil des Redebeitrags diese Erfahrung auf Beschuldigungen sexueller Gewalt.

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Herr Aman betont die starke Traumatisierung der Mädchen und verbindet sie mit „stark sexualisierte[m] verhalten“ sowie damit, dass für sie grenzüberschreitendes Verhalten zur Normalität gehört. Herr Aman vermutet, dass von den Mädchen eine falsche Anschuldigung schnell und naiv geäußert werden könnte, ohne dass sie sich darüber im Klaren sind, dass dies weitreichende Konsequenzen für die pädagogischen Fachkräfte hätte. Dies führt dazu, dass Herr Aman das asynchrone Arbeiten in der Wohngruppe als riskant erlebt. Hier wird eine früher in der Gruppendiskussion erwähnte Erzählung relevant. Herr Aman berichtete, dass es in Einrichtung B eine interne Fortbildung zum Thema sexuelle Gewalt gegeben hat. Ihm als Gruppenleiter wurde mitgeteilt, dass ein Prozedere festgelegt wurde, wie bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt durch Fachkräfte vorgegangen werden solle. Herr Aman ist sehr echauffiert über diese Verfahrensrichtlinen der Einrichtung, die aus seiner Perspektive für die pädagogischen Fachkräfte gefährlich sind, wenn es zu Falschbeschuldigungen kommt. Besonders kritisch ist für ihn, dass er sich nach den neuen Verfahrensrichtlinien bei einer Beschuldigung eines Kollegen nicht mehr mit diesem austauschen darf. Er darf nicht selbst prüfen, ob er die Beschuldigung glaubhaft findet oder nicht. Der Ablauf ist standardisiert. Dies widerspricht in einem hohen Maß dem, wie Herr Aman eigentlich vorgehen würde. Einen weiteren Schritt der Verfahrensrichtlinien sieht er als vollkommen unrealistisch an: Für die Einrichtung wurde festgelegt, dass, sollte ein Verdacht sich als falsch erweisen, eine Personallvollversammlung einberufen wird, um den Leumund der pädagogischen Fachkraft wiederherzustellen.

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Für Herrn Aman ist klar, dass seine Integrität für die Einrichtung D nicht dermaßen wichtig sein kann, dass diese für ihn einstehen würde. Es ist an ihm, sich selbst zu schützen, da die Organisation ihm keinen Schutz bietet.

Im Hinblick auf die Kinder und Jugendlichen gibt es große Parallelen zu der Orientierung von Team 2. Das kindliche Verhalten erklärt sich in beiden Orientierungen über die erlebten Traumata. Der kritische Punkt ist nicht die Beschuldigung selbst, diese kann Herr Aman sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Kinder erklären. Die Gefährdung liegt für ihn in dem strukturellen Misstrauen, das er aus den Leitlinien, der Fortbildung und seinen Erfahrungen ableitet. An dieser Stelle zeigt sich, dass die Trennung zwischen Beschuldigungen durch Kinder und Jugendlichen auf der einen Seite und Verdächtigungen durch die eigene Organisation eine notwendige ist. Die Beschuldigungen werden erst dann risikovoll und unkontrollierbar durch organisationales Misstrauen.

Dieser Orientierungsgehalt findet sich auch in Team 5. Hier beschreibt Frau März zunächst die Möglichkeit falscher Beschuldigungen, die ihr „große sorge“ (GD5, 1383) machen. Der folgende Auszug aus der Passage elaboriert diese Sorge.

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Im Gegensatz zu den bisher dargestellten Sequenzen gehen die pädagogischen Fachkräfte des Teams 5 darauf ein, dass sie eine Untersuchung der Beschuldigungen wichtig finden. Im Fokus stehen die Interessen beider Personen, des Kindes und der pädagogischen Fachkraft. Auch wenn diese Gleichrangigkeit für die Orientierung wichtig ist, so bezieht sich die große Sorge, die das Team hegt, auf die Interessen der pädagogischen Fachkräfte. Denn ihr Alltag bringt es mit sich, dass „in solchen situationen“, in denen Kinder falsche Beschuldigungen machen, die Fachkräfte „immer mit […] nem halben bein im gefängnis“ stehen. Mit der Generalisierung der Aussage wird deutlich, dass Beschuldigungen an sich risikovoll sind, das Handeln der Fachkräfte in dem Zusammenhang irrelevant ist. Allein die Beschuldigung an sich reicht aus, um sie zumindest in Richtung des Gefängnisses zu drängen. Auch in der Metapher, welche Frau März in der Erzählung über eine konkrete Beschuldigung gegen sie benutzt, wird die Aussichtslosigkeit der Situation ausgedrückt. Sie steht „mit dem rücken zur wand“. Die Beschuldigung treibt sie in eine Enge, aus welcher sie sich nicht oder nur sehr schwer selbst befreien kann. Diese Hilflosigkeit erregt bei ihr sehr negative Gefühle. In Bezug auf die Organisation liegt die Position des Teams 5 zwischen den beiden vorangegangenen Teams. Sie beschreiben und begrüßen zwar Verfahrenswege der Organisation, um beide Interessen in den Blick zu nehmen, sind aber dennoch mit den Beschuldigungen allein, wenn diese aufkommen. Die Gefahr, strafrechtlich verurteilt zu werden, besteht für die einzelne pädagogische Fachkraft. In der Schilderung kommt die Organisation, wenn es zum konkreten Fall kommt, nicht mehr vor – weder als hilfreich noch als gefährlich.

Beschuldigt durch Eltern

Beispielhaft für eine Beschuldigung durch Eltern ist die sehr umfängliche Erzählung von Tessa, einer jungen Fachkraft aus Team 1. Die lange Narration, die sich über mehrere Minuten erstreckt, schildert einen Fall, den Tessa während ihres Anerkennungsjahres in einer anderen Einrichtung erlebt hat (GD1, 358–431). Im Folgenden wird eine Zusammenfassung der Erzählung gegeben.

In der Wohngruppe, in der Tessa gearbeitet hat, wohnte ein Geschwisterpaar, dessen Eltern eine „sehr krasse (…) lebensgeschichte“ hatten. Als einziges Detail dieser Geschichte wird angeführt, dass die Mutter als Prostituierte gearbeitet hat. Die Eltern hatten regelmäßig in der Einrichtung Kontakt zu ihren Kindern. Einmal durften die vier auch einen Ausflug machen. Zu dem Zeitpunkt war das Mädchen zehn Jahre alt und wurde beim Duschen nicht mehr begleitet. Ein paar Tage nach dem Ausflug hat die Mutter blaue Flecken an den Innenseiten der Oberschenkel des Mädchens festgestellt. Daraufhin hat sie einen fest angestellten Erzieher verdächtig, dass er das Mädchen unsittlich berührt hätte. Diese Beschuldigung bezog sich auf den Erzieher, den die Mutter „nie wirklich leiden“ konnte. Tessa nimmt an, dass die Mutter dem Erzieher etwas anhängen wollte. Die Mutter machte Beweisfotos von den Hämatomen. Der Erzieher hatte zu einem möglichen Tatzeitpunkt Dienst. Nachdem die Mutter die Beschuldigung geäußert hatte, fing das Mädchen „auf einmal an, auch darüber zu erzählen, und konnte ganze situationen schildern“ (GD1, 379 f.). Die Mutter hat den Erzieher angezeigt, der Fall wurde aber aufgrund von Beweismangel ein halbes Jahr später eingestellt. Für den Erzieher hatten die Beschuldigungen innerhalb der Organisation Konsequenzen. Zunächst musste er „zwangsurlaub“ nehmen, obwohl Tessa für die Organisation zu wissen denkt: „eigentlich weiß man das er es auf keinen fall gewesen ist“ (GD1, 387–389). Die Annahme auch von einem Anwalt oder Staatsanwalt war, dass die Eltern dem Mädchen die Verletzungen zugeführt hatten, um dem Erzieher einen „strick“ daraus „zu drehen“. Auch nach Beendigung des Verfahrens war die Situation weiter kompliziert, da sowohl die Kinder als auch der Erzieher in der Wohngruppe verblieben. Die Umgangskontakte wurden in der Folge vom Kinderschutzbund begleitet. Der Erzieher durfte nur noch arbeiten, wenn auch andere Fachkräfte Dienst hatten, er ist nicht mehr allein in die Kinderzimmer gegangen und viele andere alltägliche Situationen, in denen er alleine mit den Kindern gewesen wäre, gestalteten sich für ihn sehr kompliziert. Der Mitarbeiter hat überlegt, seine Arbeitsstelle zu wechseln, hat sich aber dagegen entschieden, weil es schwer war, einen guten Zeitpunkt zu finden. Sowohl die Heimleitung als auch die Kolleg*innen unterstützten ihn und auch Tessa glaubt nicht, dass er übergriffig gehandelt hat. Dies leitet sie aus seiner generellen professionell distanzierten Art ab. Tessa schließt ihren Bericht mit der Einschätzung, dass die Eltern so vorgegangen sind, weil sie mit den Entscheidungen des Jugendamtes und der Einrichtung uneins waren und die Wohngruppe als Konkurrenz angesehen haben. Die Gefahr, falsch beschuldigt zu werden, ist Teil der Orientierung aller pädagogischen Fachkräfte.

Die Erzählung von Tessa ist sehr detailliert. Obwohl die Beschuldigung und das gerichtliche Verfahren schon lange abgeschlossen waren, als sie ihre Stelle in der Wohngruppe antrat, ist sie über den Vorfall informiert und registriert die daraus resultierenden Einschränkungen im pädagogischen Alltag des Kollegen. Dieses Beispiel zeigt konkret, dass eine Beschuldigung, die nach Tessas Einschätzung gegenstandslos war, dennoch sehr starke Auswirkungen auf den Kollegen hatte. Auch wenn die Einrichtung hier als unterstützend beschrieben wird, bleiben sowohl der Vorwurf als auch die Konsequenzen allein auf der individuellen Ebene. Es gibt keinen Schutz und es gibt auch keine vollständige Rehabilitation. Der Vorfall bleibt präsent und die in diesem Fall nicht abschließend geklärten Vorwürfe bleiben im Raum stehen.

9.2 Berichte über sexuelle Gewalttaten in den Einrichtungen

Während in allen Gruppendiskussionen von Tatverdächtigungen berichtet wurden, die widerlegt werden konnten, berichten vier Teams ebenfalls von Verdächtigungen, die sich bestätigt haben. Die Erzählungen über sexuelle Grenzverletzungen werden alle von den Personen eingebracht, die in der Hierarchie der anwesenden Fachkräfte am höchsten stehen. In den meisten Gruppendiskussionen sind das die Gruppenleiter*innen, bei Team 1 der pädagogische Leiter. Die Schilderungen sind jeweils nur kurze Einwürfe innerhalb der Gruppendiskussionen, denen seitens der Diskutant*innen wenig Beachtung geschenkt wird. Die erste Sequenz, die rekonstruiert werden soll, stammt von Team 1.

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Franz adressiert beim Sprechen die jüngeren Kolleg*innen, welche in der Gruppendiskussion in der Überzahl sind. Ausgangspunkt seiner Erzählung ist, dass er ihnen prophezeit, dass sie im Zuge der Arbeit in der Einrichtung ein „bauchgefühl“ (GD1, 1535) dafür entwickeln werden, was als Grenzüberschreitung bewertet werden muss und was nicht. In dieser Rahmung liest sich seine Beschreibung als eine gelungene organisationale Bewältigung. Ein*e Kolleg*in hatte über das pädagogische Verhältnis hinaus Kontakt, emotionale und körperliche Nähe zu einer*m Jugendlichen aufgebaut oder zugelassen. Dies wurde von Kolleg*innen beobachtet und unterbunden, wie später ergänzt wird. Ganz ähnlich ist die Schilderung einer Grenzüberschreitung durch das Team 2:

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Herr Adam wird, im Vergleich zu der vorangegangenen Rekonstruktion, hinsichtlich der Art der Grenzüberschreitung des Kollegen viel weniger konkret. Er differenziert, dass es um emotionale Nähe ging. Dennoch wird die Sequenz mit „wir hatten das einmal“ eingeleitet und damit in den Kontext sexueller Gewalt gestellt. Auch in dieser Erzählung wird der organisationale Umgang wieder sehr positiv bewertet: Es wurde das Gespräch mit der pädagogischen Fachkraft gesucht und die Kolleg*innen wurden informiert.

Team 3, welches Teil derselben Einrichtung ist, berichtet ebenfalls von einem Fall, den es als sexuelle Gewalt einordnet. Aufgrund der Vorfälle zwischen der pädagogischen Fachkraft und den Kindern kann vermutet werden, dass es sich um denselben Fall handelt, der bereits von Team 2 berichtet wurde:

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Der Duktus, in dem diese Begebenheit geschildert wird, ist ein auffallend anderer als bei Team 2. Die Einleitung als „unschöne geschichte“ macht auf der einen Seite deutlich, dass hier etwas Negatives passiert ist. Auf der anderen Seite impliziert die Formulierung aber auch, dass hier etwas ungeplant missglückt ist und weist niemandem die Schuld zu. Die Beschreibung der Situation ist ähnlich. Es gibt eine pädagogische Fachkraft, die Grenzen überschreitet und emotional und evtl. auch körperlich „viel viel zu weit“ ging. In der Folge gab es Gespräche zwischen der Fachkraft und der Leitung. Soweit decken sich die beiden Erzählungen. Der letzte Teil zeigt, was an dieser Schilderung das „unschöne“, bzw. das „traurige“ ist: die beschuldigte pädagogische Fachkraft erhängt sich. Herr Leut sieht zwischen dem Suizid und Vorfall in der Einrichtung einen Zusammenhang. Die Beschreibung als unschön und traurig irritiert bei der Interpretation. Die Darstellung ist ungewöhnlich neutral. Es folgt kein Innehalten. Ohne Pause berichtet Herr Leut weiter über einen anderen Vorfall. Es wirkt, als ob der Suizid für die pädagogische Fachkraft unumgänglich war. Weder Herr Leut noch die anderen pädagogischen Fachkräfte üben Kritik am Vorgehen von Einrichtung B oder bedauern, dass das Gespräch mit der Leitung in Zusammenhang mit dem Tod der Fachkraft gebracht werden kann.

Dieser Bericht erstaunt gerade vor dem Hintergrund, dass über alle Gruppendiskussionen hinweg im Zusammenhang mit der Angst, unter Verdacht zu geraten, immer auch die Angst vor dem beruflichen und/oder sozialen Tod einhergeht. Dass im konkreten Fall nicht nur der soziale, sondern der reale Tod eingetreten ist, wird wenig beachtet. Vielmehr wird zu dem Fall eines anderen Kollegen übergeleitet, der aufgrund von pornografischen Darstellungen auf seinem Rechner „geflogen“ ist.

Auch in dieser Darstellung wird die Vorgehensweise der Organisation als passend und richtig markiert. Versagt hat die individuelle pädagogische Fachkraft – der Täter. Damit liegt die Verantwortung auf der individuellen und nicht auf der organisationalen Ebene. Die Betonung der individuellen Verantwortung ist analog zu der Orientierung, die in Bezug auf die Beschuldigungen herausgearbeitet werden konnte. Die pädagogischen Fachkräfte sehen die alleinige Verantwortung bei den vermeintlichen Täter*innen, auch wenn diese nicht strafrechtlich verurteilt worden sind. In dieser Figur repliziert sich die eingangs dargestellte Figur der Distanzierung von der Gewalttat. Die pädagogischen Fachkräfte stellen sich als außerhalb der Gewaltkonstellation dar: Sie sind unschuldig. Erweitert wird diese Distanzierung noch dadurch, dass auch dem Träger keine (Mit-)Verantwortung zugeschrieben wird. Die Gewalttat wird allein den vermeintlichen Täter*innen zugeschrieben. Mit dieser Orientierung werden die pädagogischen Fachkräfte selbst Teil des Systems, das sie zuvor kritisiert haben.