Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, dass die pädagogischen Fachkräfte sich zunächst von der Gewalttat distanzieren müssen, um im Weiteren über sexuelle Gewalt als Thema sprechen zu können.

An dieser Stelle soll die eingeführte Differenz zwischen der Gewalttat und dem Thema noch einmal auf den Punkt gebracht werden: Die Gewalttat bezieht sich auf eine hypothetische Handlung, welche die pädagogischen Fachkräfte als sexuelle Gewalt einordnen. Die Definition dessen, was Gewalt ist oder auch nicht, erfolgt über eine Grenzziehung. Die Handlungen, die als sexuelle Gewalt bewertet werden, liegen jenseits dieser Grenze. In der Bewertung der pädagogischen Fachkräfte ist ebendiese Grenze bislang in ihrer pädagogischen Praxis nicht überschritten worden. Die Forschungsfrage der Studie und der Stimulus der Gruppendiskussion fragt jedoch nicht nach realen Gewalttaten und der Beteiligung der pädagogischen Fachkräfte, sondern vielmehr, ob und wie das Thema eine Rolle im Handlungsalltag spielt. In der Folge wird die Ebene der Gewalttat von der Ebene der Thematisierung von sexueller Gewalt abgegrenzt. Eine Thematisierung setzt kein Erleben voraus, sie ist ein Sprechen über reale und/oder potenziell mögliche Gewalttaten.

Mit der Ablehnung der Gewalttat und damit des konkreten Erlebens von sexueller Gewalt geht die Frage einher, wie es dann dazu kommt, dass sexuelle Gewalt dennoch zum Thema wird. Neben realen Gewalttaten innerhalb der eigenen Institution muss es also weitere Anlässe geben, die sexuelle Gewalt zum Thema werden lassen. Dieses Kapitel rekonstruiert ebendiese Anlässe. Die Beschreibungen und Erzählungen, dass das Thema in der Handlungspraxis relevant ist, sind in den Gruppendiskussionen in vielfältiger Form zu finden. In der Kontrastierung lassen sich über die Anlässe starke Gemeinsamkeiten und auch einige Differenzen zwischen den Teams herausarbeiten.

Um einen umfassenden Überblick über die Anlässe der Thematisierung zu bekommen, wurde für diesen Teil der Interpretation ergänzend zu den Sequenzanalysen das empirische Material offen codiert. Auf der Basis konnten sechs Kategorien gebildet werden (siehe Abbildung 6.1).

Abbildung 6.1
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Übersicht Kategorien der Thematisierung

Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist es gewinnbringend, die Kategorien der Thematisierungsanlässe zunächst als Ausgangspunkt für die Darstellung der Ergebnisse zu nehmen. Die Darstellung beginnt mit der Kategorie Ausbildung (6.1) und der Kategorie biografische Betroffenheit (6.2). Diese sind als Unterkapitel dieses einleitenden Kapitels aufgenommen, da sie vom Umfang und der Ausdifferenzierung deutlich kleiner sind als die drei folgenden Anlässe. In Kapitel 7 wird die mediale Berichterstattung als Anlass betrachtet. Hier werden mediale Berichte teilweise direkt von den Diskutant*innen rezipiert und liefern so einen Anlass zur Thematisierung, oder es handelt sich um durch Freund*innen, Bekannte oder Kolleg*innen vermittelte Verdächtigungen, die von den pädagogischen Fachkräften in direktem Zusammenhang mit der Berichterstattung der Medien gestellt werden. Die Anlässe der Kategorie organisationale Bedingungen bezieht sich auf institutionelle und organisationale Schutz- und Risikofaktoren der Wohngruppen. In Kapitel 8 wird aufgezeigt, dass die stationäre Kinder- und Jugendhilfe als Institution generelle Risiken für sexuelle Gewalt durch Professionelle mit sich bringt und das bestimmte konzeptionelle Ausrichtungen noch einmal spezifische Anlässe für die Thematisierung von sexueller Gewalt hervorrufen. Besonders relevant ist hier der Ansatz der Familialität. In Kapitel 9 werden Verdächtigungen und Gewalttaten in der jeweils eigenen Einrichtung als Anlässe der Thematisierung interpretiert. Als letzte Kategorie von Anlässen werden die Erzählungen über kindliche Bedürfnisse nach Versorgung und Nähe in Kapitel 10 in den Blick genommen. Auch hier wird rekonstruiert, wie diese das Thema sexuelle Gewalt aufrufen kann.

6.1 Ausbildung als Anlass der Thematisierung von sexueller Gewalt in Institutionen: „ja mit einem bein steht ihr als männer immer im knast“

Ein Anlass für die Auseinandersetzung mit dem Thema sexuelle Gewalt ist die Thematisierung in der Ausbildung bzw. während des Studiums. Dieser Anlass ist vergleichsweise wenig präsent in den Gruppendiskussionen, wird aber von vier der sechs Teams erwähnt. Anstoß für die Thematisierung in der Ausbildung sind entweder a) Skandale um sexuelle Gewalt in der Heimerziehung, die besprochen wurden, oder b) die Sensibilisierung der Lernenden für den Umstand, dass sie sich selbst schützen müssen, um nicht der Ausübung sexueller Gewalt verdächtigt zu werden. Im Folgenden werden diese beiden unterschiedlichen Thematisierungsweisen rekonstruiert. Zunächst zur Thematisierung von Vorfällen sexueller Gewalt in der Heimerziehung.

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Die innewohnende Fachkraft Jan berichtet, dass er das erste Mal von sexueller Gewalt gegen Kinder im Rahmen der Ausbildung gehört hat. Hier wurden Fälle besprochen, in denen „heimleiter“ und „mitarbeiter“ „übergriffig“ waren. In der Auseinandersetzung mit den Fällen wurden Praktiken des Vertuschens analysiert und damit vermutlich auch Risikofaktoren innerhalb der Organisation mit berücksichtig. Jan gibt an, dass es für ihn das „erste mal“ war, dass er „davon gehört“ habe. Damit zeigt sich die Ausbildungsstätte als der primäre Ort, an dem für die potenzielle Möglichkeit von sexueller Gewalt innerhalb von Organisationen und deren Risikostrukturen sensibilisiert wird. Zu einem späteren Zeitpunkt kommt Jan noch einmal auf die Thematisierung durch die Ausbildung zurück:

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Jan vergleicht in dieser Passage die Thematisierung in der Ausbildung mit der Thematisierung in „den medien“. Dabei hebt er die Ausbildung positiv hervor. Hier sei „wirklich sehr viel konkreter über, (.) ähm ja über- über übergriffigkeiten, über sexuelle gewalt, über missbrauch“ gesprochen worden. In der Formulierung zeigt sich zunächst ein Ringen nach Worten. In der Aneinanderreihung der drei Begriffe Übergriff, sexuelle Gewalt und Missbrauch wird jedoch bereits eine differenzierte Auseinandersetzung deutlich, die es Jan ermöglicht, zwischen Gewaltformen zu differenzieren. Für ihn war unter anderem das Gespräch mit „leuten aus der praxis“ relevant, die für ihn die Problematik „aufgebrochen“ haben. Durch die Auseinandersetzung war es ihm möglich, die Komplexität des Themas zu begreifen. Dies steht im Kontrast zu den Darstellungen der Medien:

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Jan kritisiert in dieser Passage, dass die mediale Darstellung eine „große soße“ ist und baut sie damit als Gegenhorizont zur Ausbildung auf. Damit wirft er den Medien vor, nicht differenziert zu berichten, sondern sich „plakativ“ auf „einzelschicksale[]“ und große Opferzahlen zu konzentrieren. Dadurch generieren sie Aufmerksamkeit, liefern aber für Professionelle wie Jan keine Hintergründe und Erklärungsansätze, auf die er bzw. die Organisation reagieren könnte. Damit wird die Thematisierung durch die Ausbildung, gerade im Kontrast zu der Skandalisierung durch die Medien, als hilfreich empfunden.

Für die zweite Art der Thematisierung durch die Ausbildung sind Situationen der Nähe und Intimität der Anlass, um über sexuelle Gewalt zu sprechen. Dies wird an einer Textstelle des Teams 1 deutlich:

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In der Textstelle berichtet John, kommentiert von seinen Kolleg*innen, darüber, wie er sich als Mann vorsehen muss, um nicht der Ausübung sexueller Gewalt bezichtigt zu werden. Der Diskurs verläuft hier in vier Zügen. Zunächst führt John eine Situation aus seinem Praktikum ein, in dem ihm, allein durch seine geschlechtliche Zuordnung als Mann, mit Misstrauen begegnet wurde. Die Gruppenleiterin Doreen reagiert auf dieses Beispiel mit Handlungsoptionen, die die Nähe zwischen John als Mann und den Kindern regulieren. Damit greift sie das Misstrauen auf, entkräftet es nicht, sondern reguliert Johns Verhalten. John führt im Anschluss an diese guten Ratschläge eine Situation an, der er sich aus seiner Sicht nicht entziehen konnte, weil ein Kleinkind vor ihm stand, das sich selbst entblößt hatte. Er hatte eine solche Situation zu vermeiden versucht, ist aber durch das Verhalten des Kindes damit konfrontiert. Diese Situation wird von seiner Kollegin als normal gerahmt und im Lachen von Doreen wird eine gewisse Situationskomik angedeutet. John, der sich bemüht, möglichst korrekt zu handeln, wird mit einem Kind konfrontiert, das andere Schamgrenzen hat und Hilfestellungen im Hinblick auf seinen Körper benötigt. Die Anforderungen an John werden hier paradox. Das zeigen auch die Handlungsoptionen, die John hier sieht. Ein Weglaufen vor dem nackten Kind, um sich Hilfe von einer weiblichen Kollegin zu holen, ist für ihn keine ernstzunehmende Option. Stattdessen muss er mit dieser Situation umgehen, die aus seiner Sicht potenziell missverständlich und somit für ihn gefährlich sein kann: Er muss Wechselwäsche holen und, wie Lilian anmerkt, auch dafür sorgen, dass das Kind sauber wird. Hier zeigt sich deutlich, wie sehr die Logik des versorgenden männlichen Erziehers in Konflikt mit einer Distanz zum Schutz vor sexueller Gewalt stehen. Vor diesem Paradox wurde auch in der Ausbildung gewarnt: „ja mit einem bein steht ihr als männer immer im knast“. Damit macht die Ausbildung zwar auf die Unauflösbarkeit des Paradoxes aufmerksam, bietet aber keine Handlungsoptionen an und entlässt John verunsichert in sein erstes Praktikum. Im Gegensatz zu Jans Beschreibung aus Team 4, für den die Ausbildung hilfreich war, um sexueller Gewalt zu begegnen, lässt diese Form der Thematisierung John mit der Bearbeitung alleine. Tessa und Franz verallgemeinern die Deutung, immer an den Grenzen der Legalität zu arbeiten, dies gelte auch für Frauen und ebenfalls für andere Arbeitsbereiche.

Ausgehend von der Warnung, sich immer absichern zu müssen und mit einem Bein im Knast zu stehen, benennt Herr Braun aus dem Team 3: „während des studiums; und auch da wurde das schon manchmal so, thematisiert das- das gesagt wurde ja; gilt für jeden hier, guck das du möglichst transparent äh arbeitest“ (GD3, 489–491). Damit wird durch die Ausbildung ein transparentes Arbeiten als mögliche, professionelle Umgangsweise mit dem Paradox von pädagogisch und alltagspraktisch notwendiger Nähe und der Frage der Legitimität von Intimität vorgeschlagen. Sowohl die sich hier andeutende Unsicherheit als auch die Bewältigung durch Transparenz werden in der weiteren Rekonstruktion aufgegriffen.

6.2 Biografische Betroffenheit als Anlass der Thematisierung von sexueller Gewalt in Institutionen: „ich [bin] da auch familiär vorbelastet“

Statistisch gesehen haben vermutlich mehrere der insgesamt 25 pädagogischen Fachkräfte aus den sechs Teams in ihrem Leben mindestens einmal sexuelle Gewalt erlebt. Thematisiert wird dies verständlicherweise im Kontext der Gruppendiskussion nicht. Allein in der Gruppendiskussion mit Team 3 werden drei biografische Bezüge benannte, die für die Teilnehmer*innen sexuelle Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in der stationären Unterbringung zum Thema haben werden lassen. Zunächst berichtet Herr Leut über Gewalterfahrungen seiner Mutter:

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Herr Leut zeigt, dass er selbst sekundär betroffen ist: Ihn hat „die geschichte, und die aufdeckung dieser geschichte“ durch seine „kindheit begleitet“. Das lässt ihn selbst heute noch schwer atmen. Herr Leut weiß somit um die weitreichenden Folgen, die sexuelle Gewalt haben kann, seine Erfahrungen bleiben dennoch unverbunden mit dem Diskurs und mit seinem Arbeitsalltag. Sein Bericht wird im Diskurs der Diskussion nicht mit aufgegriffen und bleibt isoliert stehen. Es scheint, als ob die Kolleg*innen sich mit der Betroffenheit eines Kollegen nicht beschäftigen wollten.

Herr Braun, ebenfalls Teil von Team 3, thematisiert in doppelter Hinsicht, dass er mit sexueller Gewalt in Berührung gekommen ist. Zunächst berichtet er, dass er selbst als Schüler im Canisius Kolleg gelebt hat (GD3: 1522 ff). Das Internat war 2010 durch die Aufdeckung einer umfangreichen Gewaltkonstellation medial sehr präsent (siehe  2.1). Er bewertet seine Zeit als Schüler und auch sein Verhältnis zum Internat nicht, zeigt aber mit der Thematisierung, dass er die Berichte wahrgenommen hat. Ein weiterer Anlass, der sich für Herrn Braun biografisch stark auswirkt, ist das sich lange haltende Vorurteil, dass männliche Homosexualität mit einer sexuellen Präferenz für Jungen einhergehe. Herr Braun beschreibt vor diesem Hintergrund die Situation im Einstellungsgespräch:

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Auch wenn Herrn Braun davon ausging, dass die Vorgesetzte, Frau Keller, in jedem Vorstellungsgespräch diese Frage stellte und er sich durch sie nicht angegriffen fühlte, so thematisierte er doch selbst seine sexuelle Orientierung. Diese würde, so die implizite Botschaft seiner Aussage, in Kombination mit der konfessionellen Ausrichtung des Trägers und der mono-edukativen Ausrichtung der Gruppe eine Angriffsfläche für falsche Verdächtigungen bieten, mit der die Organisation ggf. umgehen müsse. Zudem ist es auch möglich, dass Herr Braun die repressive Haltung einiger katholischer Träger hinsichtlich Homosexualität von Fachkräften anspricht. Eine religiös motivierte Ablehnung von Homosexualität könnte für ihn ebenfalls problematisch werden. Herr Braun fordert hier offensiv und präventiv die Unterstützung der Vorgesetzten ein und überprüft so außerdem, ob sie diesen Vorurteilen ebenfalls anhängt.

Resümierend kann festgehalten werden, dass die wenigen Anlässe, an denen biografische Betroffenheit thematisiert wurde, zu einer Sensibilisierung der jeweiligen pädagogischen Fachkräfte geführt haben. Die Bezüge bleiben jedoch individuell. Die Offenlegung der eigenen Betroffenheit wird von den anderen im Team nicht aufgegriffen. In Bezug auf die Betroffenheit gibt es hier keinen gemeinsam geteilten Erfahrungsraum.