Teil 3: Fallbeispiel – Die Entwicklung der Alternative für Deutschland

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Hegemonialer Kampf um die öffentliche Sphäre
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Zusammenfassung

Der dritte Hauptteil wendet sich dem Fallbeispiel der Alternative für Deutschland (AfD) zu. Im vorliegenden Kapitel wird auf Grundlage des theoretischen Settings zunächst eine Analysestrategie entworfen, die eine Verknüpfung einer Methodologie der „dichten Beschreibung“ mit einem diskurstheoretischen Verständnis des Sozialen vorschlägt. Im Folgenden wird die Materialauswahl begründet, der Entstehungshintergrund der AfD offengelegt und die Entwicklung des AfD-Diskurses vom Gründungsjahr der Partei im Jahr 2013 bis zu ihrem erstmaligen Einzug in den Deutschen Bundestag im Jahr 2017 analysiert.

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Notes

  1. 1.

    Es existiert eine große Heterogenität von Ansätzen der Kritischen Diskursforschung (KDF) bzw. der Kritischen Diskursanalyse (KDA), die sich „durch die zugrunde liegenden theoretischen Verortungen, das jeweilige Diskursverständnis, die Auswahl der Forschungsthemen und die verwendete Methodologie wie Methoden voneinander unterscheiden“ (Wodak 2020: 887). Bzgl. des deutschsprachigen Raumes sind die Ausarbeitungen von Siegfried und Margarete Jäger ein prominentes Beispiel für eine kritische Diskursanalyse in Anschluss an Foucault. Die von Keller entwickelte Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) knüpft ebenfalls an Foucault an, wobei zudem stärkere Verbindungen zur Wissenssoziologie von Berger und Luckmann vorhanden sind. Im englischsprachigen Raum stellt die – ebenfalls an Foucault orientierte – Critical Discourse Analysis (CDA) einen Anknüpfungspunkt für sozialwissenschaftliche Analysen bereit, wobei zentrale Ausarbeitungen von Fairclough stammen.

  2. 2.

    Die zentralen Differenzen zwischen Analysen in Anschluss an die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe und jenen in Anschluss an Foucault können folgendermaßen beschrieben werden: „[…] Laclau’s discourse theory does […] remain constant in its concern to explain and understand the deeper dynamics of political dominance and conflict in society. It differs therefore from a more Foucauldian ambition to explore extensive knowledge systems […] and from the preoccupation central to Critical Discourse Analysis to understand the finer rhetorical strategies and manoeuvres embedded in media and political texts […]“ (Kølvraa 2018: 97).

  3. 3.

    Keller et al. unterscheiden zwischen „discourse analysis“ („zur Analyse des konkreten Sprachgebrauchs vor allem in mündlicher Rede bzw. in Gesprächen“), „Diskursethik“ (in Anschluss an Jürgen Habermas), einem „diskurstheoretische[n] Strang der Analyse von ‚Diskursen‘“ sowie der „kulturalistischen Diskursanalyse“ (Keller et al. 2001: 10 ff.).

  4. 4.

    Geertz fordert eine interpretative Kulturtheorie, die sich den sozialen Akteur:innen unmittelbar zuwendet und die nicht anstrebt – wie etwa der Strukturalismus – „unbewusste“ Symbolsyteme offenzulegen. Hierbei ist stets die Perspektive der Forschenden zu berücksichtigen, da auch diese immer schon von bestimmten Erwartungen und Wissen kulturell vorgeprägt sind (Reckwitz 2000: 450). Hieran anschließend betont Alexander dass die Kultursoziologie keineswegs eine bloße Reflexion der Realität vornimmt, vielmehr seien die Forschenden unausweichlich selbst an der Hervorbringung von Bedeutung beteiligt: „What we are actually doing as sociologists is making meaning“ (Alexander 2011b: 88). Insbesondere im Kontext von Diskursanalysen ist eine Berücksichtigung der Subjektivität der Forschenden ebenfalls zentral, denn: „The discourse analyst is often anchored in exactly the same discourses as he or she wants to analyse. […] Although discourse analysis is about distancing oneself from these discourses and ‚showing them as they are‘, […] there is no hope of esca** from the discourses and telling the pure truth, truth in itself being always a discursive construction“ (Jørgensen/Phillips 2002: 49).

  5. 5.

    Mit Alexander können die zentralen Aufgaben des Forschenden innerhalb der empirischen Analyse folgendermaßen zusammengefasst werden: „Reconstructing democratic speech as a discourse – as a structured set of signifiers defining civil and anticivil motives, relations, and institutions – is a critical step. So is demonstrating how these symbolic signifiers connect with social signifieds in historically variable ways. So is demonstrating how social performances are the mediators that connect cultural signifiers to social signifieds in concrete situations“ (Alexander 2015: 182).

  6. 6.

    Programmatisch hierzu Laclau: „I am as much allergic to general methodologies as is Feyerabend. Of course there are rules that you have to follow when engaging in particular fields of research. If you are making a statistical study, for instance, you have to accept particular rules dictated by the structural properties of numerical series. But I think it is a dangerous illusion to think that the ensemble of these rules converges in constituting a unified whole called ‚methodology‘. The social scientist is an underworker who should not expect that an infallible method should orient decisions which should be actually dictated by his intuition or his common sense“ (Laclau 2015: 270).

  7. 7.

    Abschnitt 3.4.3 hat angedeutet, dass die Kategorie der Forderungen eine Supplementierung der Laclauschen Hegemonietheorie darstellt: Diese wird von Laclau als kleinste Analyseeinheit vorgeschlagen (Laclau 2005a: 73). Mit der Hinwendung zu der Kategorie der Forderungen will Laclau dem Problem Rechnung tragen, dass etwas vorhanden sein muss, bevor ein Kollektiv konstituiert werden kann. Denn wie Abschnitt 3.4.2 zeigt, geht Laclau nicht von gegebenen (Protest-)Kollektiven aus, vielmehr soll die Analyse offenlegen, wie diese innerhalb diskursiver Prozesse hervorgebracht werden. Marchart betont, dass sich die Kategorie der Forderungen als Ausgangspunkt empirischer Analysen – insbesondere bzgl. von Protestdiskursen – fruchtbar machen lässt (Marchart 2013: 161, 2017a: 64). In Anschluss an Laclau bestätigt auch Nonhoff: „[…] die diskursiven Elemente eines politischen Diskurses [lassen sich] in methodischer Hinsicht grundsätzlich gut als Forderungen begreifen, da politische Diskurse zum größten Teil als Austausch über die künftige Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens ablaufen, wobei Forderungen eine wesentliche Rolle spielen“ (Nonhoff 2007b: 176).

  8. 8.

    Laclau betont allerdings, dass ein „Name“ seinen ursprünglichen partikularen Inhalt nie vollständig verliert (Laclau 2005a: 120): „[…] in the same way as gold, without ceasing to be a particular commodity, transforms its own materiality into the universal representation of value“ (Laclau 2005b: 39). Durch die Hervorbringung eines „Namens“ unterlaufen alle anderen Forderungen ebenfalls einer Teilung. Zu einem gewissen Grad erhalten diese ihren spezifischen Inhalt. Weil sie durch einen „Namen“ gemeinsam repräsentiert werden, ist ihre eigene Partikularität jedoch nicht mehr konkret ausdrückbar. Die Hervorbringung eines „Namens“ besitzt daher Aspekte der Unkontrollierbarkeit: Infolge seiner „Entleerung“ könnte ein „Name“ zunehmend auch Forderungen repräsentieren, die seiner ursprünglich eigenen, partikularen Bedeutung zuwiderlaufen (Laclau 2005a: 108 f., 2005b: 39 f.; Smith 1998: 174).

  9. 9.

    Die Unterscheidung „democratic demand“ und „popular demand“ ist auf formal-diskurstheoretischer Ebene verortet: „democratic demands“ – voneinander isolierte Forderungen – stehen nach Laclau in keinerlei Zusammenhang mit einer demokratischen Staatsform (Laclau 2005a: 125).

  10. 10.

    Marchart betont, dass seine, in operationalisierender Hinsicht gewonnenen, Elemente aus Laclaus Diskurstheorie zwar unterscheidbar seien, „im Feld der Politik aber niemals voneinander getrennt auftauchen können“ (Marchart 2017a: 63). Im Prozess der diskursiven Hervorbringung einer protagonistischen Äquivalenzkette werden den „positiv besetzten“ Elementen einer protagonistischen Äquivalenzkette innerdiskursiv stets eine Reihe von „negativ besetzten“ Elementen gegenübergestellt sein. Gleiches gilt für die kulturellen Codes Alexanders, denn die Aktivierung der „positiven“ Seite der Binarität (Zivilität) kann nicht ohne die zeitgleiche Aktivierung der „negativen“ Seite (Antizivilität) erfolgen (cf. Abschn. 3.6.1). Kurz: „Positiv besetzt“ können die Elemente der protagonistischen Kette nur sein, weil die Elemente der antagonistischen Kette „negativ besetzt“ sind.

  11. 11.

    Die primäre Hinwendung zu der Textsorte der Demonstrationsrede ist vielversprechend, da es auf Demonstrationen oftmals um „das große Ganze“ geht. D. h., um grundsätzliche Argumente und Forderungen, was es ermöglicht, die Kernelemente des Diskurses eines Protestkollektivs zu bestimmen. Marchart argumentiert, dass bereits innerhalb von Demonstrationsaufrufen ein kleinster gemeinsamer Nenner einer politischen Bewegung sichtbar werden kann. Denn eine Heterogenität von Demonstrationsteilnehmer:innen muss den hier formulierten Forderungen grundsätzlich folgen können (Marchart 2017a: 69).

  12. 12.

    Als Pioniere der Aktionsform Demonstration identifiziert Tilly britische und nordamerikanische Aktivisten ab den 1760er Jahren im Kontext von Protesten für den britischen Politiker Wilkes: „They synthesized two established forms of public display: (1) the procession, in which groups from different corporate social units (organized trades, militias, parishes, religious sodalities, etc.) marched through streets to a common meeting place; and (2) the presentation of collective petitions to authorities“ (Tilly 2003: 202).

  13. 13.

    Es folgt ein äußerst knapper und unvollständiger Blick auf das Spektrum (extrem) rechter Parteien und Gruppierungen in Deutschland. Eine Betrachtung der historischen Entwicklung von Rechtsaußenparteien nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ist ein eigenes, ergiebiges Forschungsfeld. Ein möglicher Startpunkt sind Heitmeyer et al. (Heitmeyer et al. 2020: 147 ff.).

  14. 14.

    Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit den „Pro“-Bewegungen und -Parteien siehe diverse Beiträge in einem Sammelband von Häusler (Häusler 2008a).

  15. 15.

    Hierfür werden diverse Gründe genannt. Bspw. wird auf die Integrationsfähigkeiten der zwei „Volksparteien“ CDU und SPD sowie auf generelle Schwierigkeiten für neue Parteien innerhalb des institutionellen Settings Deutschlands hingewiesen (Decker 2012: 22; Berbuir et al. 2014: 159). Zudem wird betont, dass Deutschland stark durch die Zeit des Nationalsozialismus geprägt ist und dies führe dazu, dass „nicht nur rechtsextreme, sondern auch rechtspopulistische Bestrebungen einem generellen Stigma unterliegen“ (Priester 2019: 445). Außerdem wird die starke Konkurrenzsituation zwischen den rechten (Kleinst-)Parteien thematisiert: Die Republikaner, die NPD sowie die DVU hätten sich in den 1990er Jahren gegenseitig geschwächt (Bornschier 2010a: 165; Berbuir et al. 2014: 160). Auch werden die Partei „Die Linke“ – diese absorbiere (populistisches) Protestpotenzial erfolgreich – sowie die gesellschaftliche Relevanz der Boulevardzeitung „Bild“ genannt: Letztere nehme eine Art „Blitzableiterfunktion“ ein und artikuliere rechtspopulistische Positionen, „[…] ohne dass es zu nachhaltigen Wirkungen kommt“ (Decker 2012: 25 ff.).

  16. 16.

    Bzgl. einer detaillierten Übersicht zu den wichtigsten Akteur:innen der Gründungszeit der AfD – und jenen Organisationen, mit denen diese verknüpft sind oder waren – siehe Bebnowski (Bebnowski 2015: 19 ff.).

  17. 17.

    Diese Nähe wird auch ersichtlich, indem in der Anfangszeit der AfD Lucke selbst positiv auf Sarrazin Bezug nimmt: Sarrazin gebühre „das große Verdienst, mit seinem Buch auf wichtige Missstände in Deutschland hingewiesen zu haben: Unsere Bildungsmisere, Integrationsprobleme von Zuwanderern, unser enormes demographisches Problem. Das alles wird von der Politik gerne totgeschwiegen, weil sie die erforderlichen unbequemen Antworten nicht geben will“ (Lucke/Elsässer 2013).

  18. 18.

    Laut der „Forschungsgruppe Wahlen“ ist die „Eurokrise“ von Mitte Mai 2011 bis Anfang 2013 das Thema, das von der Bevölkerung Deutschlands als das relevanteste politische Problem angesehen wird. Gleichzeitig gibt es zu dieser Zeit innerhalb des Deutschen Bundestages – sowohl bei den Regierungsparteien als auch in der Opposition – einen großen Konsens darüber, dass es Deutschlands Pflicht sei, die Stabilität der Währung des Euros sicherzustellen und dass man in Krise geratenen europäischen Staaten helfen müsse. Die Namensgebung „Alternative für Deutschland“ der neuen Partei ist somit eine unmittelbare Reaktion darauf, dass kaum „alternative“ Vorschläge der Bewältigung der Krise im politischen Diskurs präsent sind (Wagner et al. 2015: 138; Grimm 2015: 267; Havertz 2021: 82).

  19. 19.

    Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Formulierung „Alternativlos“ zeigt sich, indem der Terminus von der Gesellschaft für deutsche Sprache bereits im Jahr 2010 zum „Unwort des Jahres“ gewählt wird. In diesem Zusammenhang kann auch von einer Aktualisierung des sogenannten TINA-Prinzips („there is no alternative“) von Margaret Thatcher gesprochen werden (Nestler/Rohgalf 2014: 398).

  20. 20.

    Mit Blick auf die Forderung in Bezug auf das Asylrecht wird zwar die Einschränkung vorgenommen, dass dieses lediglich für „ernsthaft“ unter politischer Verfolgung Leidender gelten solle, jedoch wird gleichzeitig ein Bestreben der zivilen Gastfreundlichkeit hervorgehoben. Freilich wäre zu fragen, was mit einer „nicht ernsthaften“ Verfolgung gemeint ist, jedoch gibt es zum Thema der Migration oder des Asyls in Luckes gesamter Rede keinerlei weitere Ausführungen. Mit Blick auf spätere Entwicklungen ist erwähnenswert: Nach Luckes Aussage, man trete „für ein Zuwanderungsrecht nach klaren Kriterien“ ein, brandet erstmals im Kontext des Zitats Applaus aus dem Publikum auf. Nach der Ergänzung durch die Forderung nach Gastfreundlichkeit ist der erneute Applaus jedoch nicht minder stark.

  21. 21.

    Exemplarisch für eine solche Strategie der differenziellen Absorption von Forderungen kann die – auch von Lucke thematisierte – Energiepolitik unter Bundeskanzlerin Merkel genannt werden. Die Atomkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 provoziert in Deutschland eine der größten Protestbewegungen der vergangenen Jahrzehnte. Bundeskanzlerin Merkel reagiert hierauf mit einer eklatanten Wende in ihrer Energiepolitik: Die prinzipielle Unterstützung von Atomstrom weicht der rigorosen Ablehnung des Weiterbetriebs von Atomkraftwerken. Die Politik Merkels absorbiert somit bestimmte Forderungen einer Protestbewegung differenziell, wodurch die Gefahr einer gegenhegemonialen Herausforderung eingeschränkt wird (Kim 2017: 4).

  22. 22.

    Allerdings deuten sich bereits vor der Bundestagwahl 2013 einige gegenteilige Tendenzen an. Bspw. ist auf einer kleineren AfD-Kundgebung in Rostock am 05. September 2013 – der Parteivorsitzende Lucke tritt erneut als Hauptredner auf – neben einem „Anti-Euro-Banner“ der Schriftzug: „Einwanderung braucht strikte Regeln“ prominent platziert ([4] 01:27). Die Zentralität des Plakats deutet an, dass eine horizontale Dimension hier höhere Relevanz besitzt. Ein anderes Beispiel ist eine Diskussion um ein AfD-Wahlplakat zur Bundestagswahl 2013 mit dem Slogan „Einwanderung ja. Aber nicht in unsere Sozialsysteme“. Die kommunikativen Institutionen Deutschlands machen in der Folge auf Ähnlichkeiten mit einem Wahlplakat der – von Antizivilität „verschmutzten“ – NPD aufmerksam. Auch innerparteilich führt dies zu Konflikten und bspw. lehnen es die AfD-Landesverbände Berlin und Baden-Württemberg ab, das Plakat aufzuhängen. Der Diskurs zeigt sich als überdeterminiert und es deuten sich Kämpfe darüber an, welche Elemente innerhalb der Forderungsstruktur Dominanz gewinnen. In einer empirischen Analyse der Wählerschaft der AfD bei der Bundestagswahl 2013 wird sich zudem zeigen, dass die Wahlgründe für die AfD letztendlich vielfältig sind: „[…] immigration-sceptical attitudes contributed significantly to late supporters converting to the AfD, whereas they were completely irrelevant for its early supporters“ (Schmitt-Beck 2017: 143). Kurz: Auch im Kontext der sehr frühen AfD kann einer horizontalen Dimension nicht vollständig Relevanz abgesprochen werden.

  23. 23.

    Der Terminus „Altparteien“ ist keine „Erfindung“ der AfD: Dies ist keine Erstartikulation eines diskursiven Elements, vielmehr wurde dieses in anderen Diskursen sedimentiert und steht nur dadurch überhaupt für eine Re-Artikulation durch die AfD zur Verfügung. Im deutschsprachigen Raum lässt sich die Formulierung „Altparteien“ etwa im Kontext der Gründung der Partei der Grünen in den 1980er Jahren feststellen. In jüngerer Vergangenheit ist der Terminus zudem insbesondere durch den österreichischen FPÖ-Politiker Haider popularisiert worden (Bebnowski/Förster 2014: 10; Havertz 2021: 53).

  24. 24.

    Jenes diskursive Element bleibt auf der Hamburger Demonstration vollständig unartikuliert. Eine singuläre Ausnahme ist lediglich die Rednerin von Storch, bei der „Souveränität“ zwar artikuliert ist, jedoch nur als ein nicht weiter spezifizierter Nebenaspekt einer Aufzählung von AfD-Forderungen: „Wir, die AfD, wollen ein Europa unabhängiger souveräner Staaten, wir wollen kein EU-Zentralstaat und wir wollen endlich mehr direkte Demokratie, wir wollen Volksentscheide. Das ist keine Ideologie, es braucht nur den gesunden Menschenverstand“ ([2] 24:47).

  25. 25.

    Den Terminus „Altparteien“ verwendet Lucke gleich zu Beginn seiner Rede in Stuttgart ([5] 0:48).

  26. 26.

    Der zweite Teil des Zitats besitzt große Ähnlichkeiten zu einer Formulierung aus dem AfD-Programm zur Europawahl 2014. Hier heißt es: „Die AfD wird die deutschen Wähler aufrütteln angesichts des drohenden Verlusts unserer Souveränität an ein unausgegorenes Konstrukt der Vereinigten Staaten von Europa. Einen europäischen Bundesstaat nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika lehnt die AfD ab, da es keine europäische Nation und kein europäisches Staatsvolk gibt“ (AfD 2014: 2).

  27. 27.

    Dass die Institution der EU ein demokratisches Defizit besitzt, ist ein umfangreich dokumentiertes und in der sozialwissenschaftlichen Literatur häufig diskutiertes Thema. Siehe zusammenfassend Abels (Abels 2020). Ob die AfD daher „recht hat“ ist im Kontext dieser Arbeit zunächst unerheblich. Entscheidend bleibt die Art und Weise der Hervorbringung eines spezifischen Diskurses im Zuge der Etablierung eines politischen Projekts.

  28. 28.

    Im AfD-Europawahlprogramm 2014 heißt es daher: „Die Einheitswährung hat dazu geführt, dass der Euro für den Süden Europas sowie für Frankreich überbewertet ist. […] Für Deutschland ist der Euro dagegen unterbewertet“ (AfD 2014: 4).

  29. 29.

    Butterwege et al. sprechen in diesem Zusammenhang auch von „Standortnationalismus“: Dies bedeutet, den „festen Glauben an die Überlegenheit des ‚eigenen‘ Wirtschaftsstandortes “ und dieser Glaube verbinde als eine übergreifende Klammer zu diesem Zeitpunkt der AfD heterogene Parteiströmungen (Butterwegge et al. 2018: 42).

  30. 30.

    Dem Argument des Wettbewerbspopulismus folgend, lassen sich Erklärungen für das, zu dieser Zeit ambivalente, Verhältnis der AfD zur Frage der Zuwanderung finden. Eine fehlende eindeutige Positionierung zur Frage der Zuwanderung „ist aus der Sicht eines ökonomischen Standortwettbewerbs natürlich kein Widerspruch, sondern nachgerade folgerichtig. So kann durch geordnete Zuwanderung Hochqualifizierter doch ebenso ein Wettbewerbsvorteil entstehen wie durch die Integration Asylsuchender in den Arbeitsmarkt, letzteres freilich mit der zusätzlichen Folge, den öffentlichen Haushalt zu entlasten“ (Bebnowski/Förster 2014: 24). Ein konkretes Beispiel bietet der Wahlwerbespot der AfD zur Bundestagswahl 2014. Ein Arzt, dessen migrantischer Hintergrund im Spot offensichtlich gemacht ist, fragt: „Haben Sie sich schon mal gefragt, warum nicht alle Einwanderer bei uns hier in Deutschland etwas leisten müssen?“ ([7] 0:50). Einerseits steht die Figur des migrantischen Arztes für die Zustimmung zu einer leistungsspezifischen Zuwanderung, andererseits wird Ablehnung von Zuwanderung artikuliert, die der deutschen Wirtschaft nicht vorteilig erscheint.

  31. 31.

    Eine Unterscheidung von „hard eurosceptic“ und „soft eurosceptic“ ist von Taggart und Szczerbiak vorgeschlagen. Der grundsätzliche Unterschied beider Kategorien ist, dass nur im ersten Fall die prinzipielle und grundsätzliche Ablehnung der EU sowie die Ablehnung eines fortlaufenden Prozesses einer europäischen Integration vorhanden ist (Taggart/Szczerbiak 2008: 7 f.).

  32. 32.

    Der Grund für die „weiche“ Forderung der AfD in Bezug auf die EU kann ebenfalls vor dem Hintergrund des Konzepts des Wettbewerbspopulismus erklärt werden. Denn um die wirtschaftliche Stärke weiterhin ausspielen zu können, soll zwar die Gemeinschaftswährung abgeschafft werden, nicht jedoch die EU an sich. Denn grundsätzlich wird diese durchaus als eine Grundlage der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands angesehen (Grimm 2015: 265 f.).

  33. 33.

    Dies heißt nicht, dass Medienkrititk im Diskurs der frühen AfD vollständig abwesend ist. Obwohl – wie Schärdel zeigt – „die AfD sowohl im Rahmen der Bundestagswahl 2013 als auch der Europawahl 2014 deutlich überdurchschnittliche [mediale] Aufmerksamkeit erhielt“, sind bereits Vorwürfe einer Benachteiligung durch „die Medien“ zu beobachten (Schärdel 2016: 159; Merkle 2016: 148). Eine systematische Kritik an „den Medien“ findet sich im Diskurs der frühen AfD allerdings nicht, was auch die betrachteten Demonstrationen in Hamburg und Stuttgart zeigen, wo rhetorische Angriffe auf die Presse insgesamt nicht erkennbar sind. In Hamburg fordert Lucke vielmehr gar offensiv Applaus für eine investigative Recherche der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein ([2] 45:18).

  34. 34.

    In Bezug auf das AfD-Europawahlprogramms 2014 zeigt Arzheimer, dass dieses ebenfalls nicht durch die Zentralität einer horizontale Dimension ausgezeichnet ist: „There is no evidence of nativism […] in the party’s manifesto“ (Arzheimer 2015: 551). Auch Lewandowsky resümiert zu diesem Zeitpunkt, dass keine „fixierte xenophobe Programmatik“ erkennbar sei (Lewandowsky 2015: 125 f.): „Die AfD geriert sich gewissermaßen ‚auf allen Kanälen‘ als Anti-Establishment-Partei [vertikale Dimension, A. d. V.], vermied aber lange Zeit offiziell islamophobe und ausländerfeindliche Aussagen [horizontale Dimension]“ (Lewandowsky 2015: 123 f.).

  35. 35.

    Hensel et al. stellen mit Blick auf die familienpolitischen Forderungen des AfD-Landesverbandes Sachsen-Anhalt (im Kontext der Landtagswahl 2014) ebenfalls fest: Es wird eine „bisweilen biologistisch anmutende Leit-Erzählung [entworfen]: Durch Demografie und Zuwanderung sei das deutsche Volk in seinem Bestand gefährdet. Die Familie müsse daher als ‚natürliche Grundeinheit des Menschen‘ wieder anerkannt werden“ (Hensel et al. 2016: 46).

  36. 36.

    Obwohl die „Demo für Alle“-Demonstrationen ihre Parteiunabhängigkeit betonen, kann AfD-Politikerin von Storch – auch nach eigenen Angaben – als eine treibende Kraft identifiziert werden. Bereits vor der Gründung der AfD ist von Stroch als Mitgründerin und Vorsitzende im Verein „Zivile Koalition“ aktiv, der u. a. mit der „Initiative Familienschutz“ verbunden ist. Zentral fordern und fördern diese ein „traditionelles“ Familienbild: Die gleichgeschlechtliche Ehe oder die Gender-Forschung werden abgelehnt (Blech 2015).

  37. 37.

    Die Ergänzung der Forderungsstruktur mit dem Themenfeld Familie und Sexualität tritt jedoch keineswegs aus dem Nichts hervor. Vereinzelt treten diese Diskurselemente bereits in der Frühphase der AfD in Erscheinung, erlangen nun aber neue Zentralität. Exemplarisch ist AfD-Politiker Gauland zu nennen, der bereits im Dezember 2013 öffentlich konstatiert, dass „sich in der AfD Menschen zusammengefunden hätten, ‚für die eine Familie aus Vater Mutter und Kind besteht [und] die Zuwanderung besonders in unsere Sozialsysteme nicht automatisch als einen Gewinn ansehen und denen die Buntheit mancher Lebensformen für ein Land, in dem die Kinder fehlen, zu bunt erscheint‘“ (Siri/Lewandowsky 2019: 279).

  38. 38.

    Allerdings zeigt das Themenfeld Familie und Sexualität, dass auch der Parteivorstand daran beteiligt ist, die Forderungsstruktur für eine Aufnahme neuer Forderungen offenzuhalten: Im Kontext eines Outings des ehemaligen Fußballspielers Hitzlsperger kritisiert Lucke „die Medien“ dafür, dieses als einen Akt der Courage zu würdigen. Couragiert zu sein bedeute in der gegenwärtigen Gesellschaft vielmehr einen Einsatz für „klassische“ Familienwerte (Franzmann 2016a: 476).

  39. 39.

    Dass der Signifikant „Alternative“ zunehmend ambivalente Positionen und Forderungen umfasst, zeigen ebenfalls die politikwissenschaftlichen Versuche einer Erklärung der Wahlgründe für die AfD bei der Europawahl 2014. Einerseits hebt Decker hervor, dass bereits bei der Europawahl 2014 die immigrationspolitischen Standpunkte der AfD einen ebenso hohen Einfluss auf eine Wahlentscheidung für die AfD hatten, wie die ursprünglichen wirtschaftspolitischen Forderungen der AfD (Decker 2016b: 6). Andererseits kann Reher anhand einer empirischen Studie zur Europawahl 2014 zeigen, dass „even though AfD supporters held stronger anti-immigrant attitudes than the voters of any other party, these sentiments were not instrumental in driving their vote choice“ (Reher 2017: 53).

  40. 40.

    Eine vollumfängliche Analyse von PEGIDA ist an dieser Stelle nicht möglich, vielmehr geht es darum, den grundsätzlichen Diskurs von PEGIDA zu berücksichtigen und Verbindungslinien zu der AfD aufzuzeigen. Im Folgenden wird daher maßgeblich die Frühphase von PEGIDA fokussiert, d. h. jener Zeitraum, der in Bezug auf die weitere Offenlegung der Entwicklung der AfD maßgeblich ist. Es existieren diverse Analysen, die die PEGIDA-Bewegung spezifisch fokussieren (Geiges et al. 2015; Becher et al. 2015; Pradella 2016; Rehberg et al. 2016).

  41. 41.

    Jene symbolische Verknüpfung wird durch den gewählten Wochentag der PEGIDA-Demonstrationen – montags – bestärkt, sind die Proteste in der DDR doch als „Montagsdemonstrationen“ berühmt geworden.

  42. 42.

    „Lügenpresse“ ist ein diskursives Element, das innerhalb des deutschen Kontextes historische Sedimentationen aufweist und daher für eine Reartikulation bei PEGIDA verfügbar ist: Dieses findet bereits Verwendung im Kontext der gescheiterte Revolution von 1848, dem Ersten Weltkrieg sowie dem Zweiten Weltkrieg. In allen diesen Fällen wurde der Terminus „Lügenpresse“ verwendet, um bestimmte Medien zu delegitimieren, indem suggeriert wird, dass diese von einem „Anderen“ („die Franzosen, „die Juden“) gesteuert seien. Die erneute gesamtgesellschaftliche Popularisierung des Terminus durch PEGIDA zeigt sich, indem das Wort im Jahr 2014 in Deutschland zum „Unwort des Jahres“ gewählt wird.

  43. 43.

    Die „leere“ des Signifikanten „Islamisierung“ im Kontext von PEGIDA zeigt sich auch anhand verschiedener Aussagen von Organisationsmitgliedern der Bewegung. Denn diesen gelingt es auch auf Nachfrage kaum, zu spezifizieren, was sie mit „Islamisierung“ eigentlich meinen oder warum gerade „Islamisierung“ das zentrale Thema von PEGIDA sei (Pradella 2016: 65 ff.). Exemplarisch ist die zwischenzeitliche PEGIDA-Sprecherin Oertel, die in einer populären Fernsehtalkshow erklärt: „[…] aber natürlich muss man sehen, dass die Entwicklung der ganzen Geschichte einen anderen Verlauf genommen hat als wir erwartet haben. Es gab natürlich einen riesengroßen Frust in der Bevölkerung auf die Regierung und wie im Prinzip das Volk überhaupt nicht mehr wahrgenommen wurde […], man kann natürlich auch sagen, dass die Islamisierung ein Teil davon ist“ ([12] 15:00). Einerseits erscheint der Signifikant „Islamisierung“ auf inhaltlicher Ebene relativ unbedeutend, andererseits wird unter diesem eine heterogene Vielzahl an Subjekten und Forderungen versammelt, die durch ihre negative Beziehung („Frust“) zu einem Anderen vereint werden.

  44. 44.

    Für die Verknüpfung von vertikaler und horizontaler Ebene finden sich bei PEGIDA mannigfaltige Belege. Exemplarisch eine weitere Artikulation auf einer späteren Demonstration: „Unsere Lage ist heute viel gefährdeter, viel existentieller als in der letzten großen Wendezeit um 1989/90. […] Heute haben wir den beispiellosen Fall, dass eine Bundeskanzlerin uns verscherbelt wie alten Flunder. An aggressive, fremde, faulernde Invasoren – in der Lügenpresse Flüchtlinge genannt“ ([15] 40:25). Einerseits werden die „Fremden“ als kriegerische Barbaren vorgestellt und mit antiziviler Rhetorik belegt, andererseits wird mit dem Rekurs auf die „Wendezeit um 1989/90“ das Narrativ antiziviler Unterdrückung des „deutschen Volkes“ durch ein „Regime“ fortgeführt. Zusätzlich zeigt sich, dass der Signifikant „Islamisierung“ weiter entleert wird: Zunehmend gibt dieser einer Ablehnung jeglicher „Fremden“ (hier: „Flüchtlinge“) Ausdruck (Pradella 2016: 58).

  45. 45.

    Die prinzipielle Nähe von AfD und PEGIDA zeigt sich ebenfalls auf einer Wähler:innenebene: In der Anfangszeit von PEGIDA äußerten in einer Umfrage von TNS Infratest „[…] 76 Prozent der AfD-Wähler Verständnis für die Proteste. Von allen Wählern wollten dies nur 22 Prozent so sehen; selbst unter den Nicht-Wählern lag der Wert mit 36 Prozent deutlich darunter“ (Decker 2016a: 19).

  46. 46.

    Es wird nochmals deutlich, dass PEGIDA und AfD grundsätzlich den gleichen Anderen teilen: die „etablierte Politik“. Hierfür können weitere Beispiele genannt werden: „Frauke Petry […] forderte in einer Pressemitteilung den Rücktritt von Justizminister Maas auf Grund seiner Kritik an PEGIDA […]. Gauland […] legte als Replik gegenüber der Aufforderung von Altkanzler Schröder, PEGIDA einen Aufstand der Anständigen entgegenzusetzen, nach: ‚Kaum eine Demonstration ist in der letzten Zeit friedlicher, gewaltfreier und anständiger verlaufen als jene von Pegida‘“ (Franzmann 2016b: 31). Die AfD nimmt PEGIDA somit vor den Versuchen einer antizivilen „Verschmutzung“ durch jenen Anderen in Schutz: Die zivile Ausrichtung von PEGIDA und die Antizivilität des Anderen werden betont.

  47. 47.

    Dass die AfD aus Perspektive von PEGIDA einer antagonistischen Äquivalenzkette aus einer homogenisierten Gesamtheit von Parteien zugeordnet ist, lässt sich an diversen Artikulationen aus dem Jahr 2015 belegen. So heißt es bei PEGIDA: „Wir werden eine echte Alternative zum kompletten Einheitsbrei von CDU/CSU, FDP, SPD, Grünen, Linken, Piraten und AfD darstellen“ ([16] 07:50). Zudem wird bei PEGIDA der Vorwurf laut, „die Politik“ bestehe aus ununterscheidbaren politischen Allianzen „von Piraten bis zur AfD“ ([17] 06:05). An anderer Stelle wird außerdem ausgeführt, dass der einzig verbleibende Weg für PEGIDA der Weg des „Anti-Establishments“ sei, wobei jenem „Establishment“ die Partei der AfD explizit zugeordnet ist ([18] 01:06:30).

  48. 48.

    Im Unterschied zu den aufgezeigten Abgrenzungsbemühungen der AfD zu PEGIDA, wird der Erstunterzeichner der „Erfurter Resolution“ Höcke PEGIDA und AfD daher als unmittelbar verbundene Teile einer gemeinsamen „Volksopposition“ kennzeichnen: „Dieser Widerstand hat verschiedene Ebenen, er kann auf der Ebene des Straßenprotestes wie bei Pegida oder auch im parteipolitischen Rahmen geschehen. Die ‚Festung der Etablierten‘ muß von mindestens zwei Seiten in die Zange genommen werden: von der protestierenden Bürgerbasis her und von uns als parlamentarischer Speerspitze der Bürgeropposition“ (Höcke/Hennig 2018: 233).

  49. 49.

    Exemplarisch für den innerparteilichen Streit um die Definition der protagonistischen Äquivalenzkette ist auch eine direkte Auseinandersetzung zwischen Lucke und Höcke. Letzterer äußert öffentlich, dass nicht jedes NPD-Mitglied als extremistisch einzustufen sei (Neuerer 2015). Jene diskursive Nähe zu der rechtsextremen NPD erscheint aus Perspektive von Lucke als fundamentale Gefahr der antizivilen „Verschmutzung“ der AfD und Lucke versucht, einer unkontrollierten Ausdehnung der protagonistischen Äquivalenzkette entgegenzuwirken: Es wird ein Amtsenthebungsverfahren gegen Höcke initiiert (das im Sande verlaufen wird). Aus Perspektive von Höcke hingegen erscheint nicht in erster Linie eine diskursive Nähe zur NPD, sondern jegliche Nähe zu einer antagonistischen Äquivalenzkette aus „Altpartien“ als die eigentliche Gefahr einer antizivilen „Verschmutzung“ des politischen Projekts der AfD.

  50. 50.

    Kubitschek, der als einer der Initiatoren im Hintergrund der Erfurter Resolution gilt, macht diese beiden Optionen explizit: Innerhalb der AfD stünden auf der einen Seite diejenigen, „die den von den Altparteien vorgegebenen Handlungs- und Äußerungsspielraum akzeptieren, auf der anderen Seite aber diejenigen, die von der AfD eine Ausweitung des Handlungsspielraums erwarten“. Laut Kubitschek könne von einer tatsächlichen „Alternative“ nicht länger die Rede sein, wenn man sich „innerhalb des etablierten Parteiensystems und seiner Spielregeln“ bewege (Kubitschek 2015; cf. Abschn. 4.7.2).

  51. 51.

    Insgesamt sind Luckes Positionierungen in Bezug auf „den Islam“ zwiespältig. Bspw. äußert sich Lucke bereits infolge des islamistischen Anschlags auf Charly Hebdo im Januar 2015 zurückhaltend: Man dürfe die Gewalttat zweier Extremisten nicht einer ganzen Religionsgemeinschaft anlasten (Weiland 2015). Gleichzeitig wird die Zugehörigkeit „des Islams“ zu Deutschland jedoch zumindest angezweifelt (Lachmann 2013).

  52. 52.

    Lucke, Henkel und weitere Mitstreiter:innen gründen eine neue Partei („Allianz für Fortschritt und Aufbruch“ (ALFA), später umbenannt in „Liberal-Konservative Reformer“ (LKR)), die sich jedoch nie als eine relevante politische Kraft etabliert.

  53. 53.

    Dies allein auf das Erstarken des rechten Flügels der AfD sowie die neue Zentralität von horizontalen Diskurselementen zurückzuführen, ist jedoch verkürzt. Denn gleichzeitig verliert das ursprünglich zentrale Thema der AfD – die „Eurokrise“ – innerhalb des allgemeinen politischen und medialen Diskurses zunehmend an Bedeutung. Gleichzeitig werden jene Forderungen, die zuvor ein Alleinstellungsmerkmal der AfD waren, mittlerweile bei allen anderen Parteien breit diskutiert: „The option of a ‚Grexit‘ would even be raised at the highest levels of government as it was no longer deemed to represent a threat of contagion to other crisis-struck countries or the EU in general. The AfD’s central demand had therefore been incorporated into the German government’s official policy […]“ (Decker 2016b: 7).

  54. 54.

    Programmatisch für den Kurs der Regierung ist vor allem eine Verkündung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das am 25. August 2015 mitteilt: „#Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt“ (BAMF 2015). Hiermit nimmt Deutschland davon Abstand, die Prinzipien des Dublin-Abkommens durchzusetzen, d. h., Geflüchtete werden nicht länger in jene EU-Staaten zurückgeschickt, in denen eine Erstregistrierung stattgefunden hat. Am 31. August verteidigt Bundeskanzlerin Merkel diese Entscheidung und äußert: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“ (Bundesregierung 2015b). Anfang September 2015 wird die Bundesregierung zudem die Aufnahme einer Vielzahl von Geflüchteten in Deutschland ermöglichen, die zuvor in Ungarn festgesetzt wurden.

  55. 55.

    Dies deutet bereits die Pressekonferenz an, die die „Herbstoffensive“ vorstellt. Neben Petry spricht Gauland und beide thematisieren die „Eurokrise“ kaum, bei Gauland findet diese keinerlei Erwähnung ([20]; [21]).

  56. 56.

    Moffitt untermauert das Argument mit Referenz zu Lacan: „[…] there may very well be a Real in which crisis operates, but we cannot access it because our language remains at the level of the Symbolic. As such, crisis is very much what we make of it“. Verneint wird somit nicht, dass es Krisen per se nicht geben würde, jedoch ist darauf hingewiesen, dass Krisen niemals „neutral“ sind bzw. „objektiv“ vorliegen: „[…] populist actors actively perform and perpetuate a sense of crisis, rather than simply reacting to external crisis“ (Moffitt 2015: 195).

  57. 57.

    Tatsächlich divergieren die Einschätzungen der Teilnehmer:innenzahlen in Bezug auf die Erfurter Demonstrationen mitunter eklatant. Allerdings zeigt die Forschungsgruppe „Durchgezählt“, dass die AfD diese Zahlen selbst kontinuierlich beschönigt und auch die offiziellen Zahlen der Polizei tendenziell zu hoch angesetzt sind (Durchgezählt 2015). Bereits im Kontext von PEGIDA sind die Teilnehmer:innenzahlen der Demonstrationen ein häufiger Ausgangspunkt einer generalisierten Kritik an der „Lügenpresse“: Indem diese die Zahlen vorsätzlich fälschten, zeigten sich deren antizivilen Intentionen.

  58. 58.

    Hund spricht im Kontext solcher Diskurse, die eine Unterscheidung von „Reinheit“ und „Unreinheit“ beinhalten, von einem „kontaminatorischen Rassismus“. Jener Rassismus der Kontamination beinhaltet zentral die Idee eines inhärent „reinen“ Volkskörpers. Im Kontext dieser Arbeit ist dies vergleichbar mit der oben diagnostizierten Idee einer unhintergehbaren Zivilität des „Volkes“ (Hund 2007: 43 ff.).

  59. 59.

    Es finden sich im Zuge der Herbstoffensive weitere Belege für diesen Versuch der Ausweitung der protagonistischen Äquivalenzkette mittels einer Anrufung wirtschaftlich Schwacher. Auf der Abschlussveranstaltung der AfD-Herbstoffensive in Berlin (cf. Abschn. 4.6.4) begrüßt bspw. der damalige stellvertretene Bundessprecher Glaser das Publikum mit einer Variation der Abkürzung „AfD“: „Verehrte Mitbürger, liebe AfDler: Arbeiter für Deutschland […]“ ([24] 00:12).

  60. 60.

    Seine Äußerung führt Höcke in ausführlicher Form auf dem „Herbstkongress“ des sogenannten Instituts für Staatspolitik (IfS) am 22.11.2015 aus: „Und an dieser Stelle ist es angeraten, meiner Meinung nach, mal die populationsökologische Brille aufzuziehen und den Blick noch etwas zu weiten. Der Bevölkerungsüberschuss Afrikas beträgt etwa 30 Millionen Menschen im Jahr. Solange wir bereit sind, diesen Bevölkerungsüberschuss aufzunehmen, wird sich am Reproduktionsverhalten der Afrikaner nichts ändern. Die Länder Afrikas, sie brauchen die deutsche Grenze, die Länder Afrikas, sie brauchen die europäische Grenze, um zu einer ökologisch nachhaltigen Politik zu finden. Und die Länder Europas brauchen sie gegenüber Afrika und den arabischen Raum umso dringender, weil Europa, phylogenetisch vollständig nachvollziehbar, eine eigene Reproduktionsstrategie verfolgt. In Afrika herrscht nämlich die sogenannte Klein-r-Strategie vor, die auf eine möglichst hohe Wachstumsrate abzielt. Dort dominiert der sogenannte Ausbreitungstyp und in Europa verfolgt man überwiegend die Groß-K-Strategie, die die Kapazität des Lebensraums optimal ausnutzen möchte, hier lebt der Platzhaltertyp. Die Evolution hat Afrika und Europa vereinfacht gesagt zwei unterschiedliche Reproduktionsstrategien beschert. Sehr gut nachvollziehbar für jeden Biologen. Das Auseinanderfallen der afrikanischen und europäischen Geburtenraten wird gegenwärtig natürlich noch durch den dekadenten Zeitgeist verstärkt, der Europa fest im Griff hat. Kurz: Im 21. Jahrhundert tritt der lebensbejahende afrikanische Ausbreitungstyp auf den selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp“ ([26] 28:10). Höcke nimmt in Teilen vorweg, was später – etwas entschärft – Einzug in das Wahlprogramm der AfD zur Bundestagswahl 2017 erhält. Unter der Überschrift „Asyl braucht Grenzen“ wird hier ebenfalls eine steigende Geburtenrate Afrikas der sinkenden Geburtenrate Deutschlands gegenübergestellt und formuliert: „Ziel der AfD ist Selbsterhaltung, nicht Selbstzerstörung unseres Staates und Volkes“ (AfD 2017: 37).

  61. 61.

    Jener Verweis auf unverfängliche Statistiken („UNHCR-Prognosen“) verzahnt die Positionen Höckes mit Quellen, die gemeinhin anerkannt sind. Eine solche Methode der „Verzahnung“ wird innerhalb einer „intellektuellen Rechten“ Deutschlands als eine zentrale Strategie vorgeschlagen: „Sprachlich kann man dadurch verzahnend vorstoßen, daß man zitiert und auf Sprecher aus dem Establishment verweist, die dasselbe schon einmal sagten oder wenigstens etwas Ähnliches“ (Kubitschek 2017).

  62. 62.

    Rushtons Forschung ist innerhalb des wissenschaftlichen Feldes methodisch hoch umstritten sowie inhaltlich falsifiziert und diskreditiert. Das Werk kursiert in einer äußersten Rechten Deutschlands, wobei die deutsche Übersetzung ein Vorwort von Weiss beinhaltet. Dieser ist eine bekannte Figur in der äußersten Rechten und führt in seinem eigenen Werk menschliche Intelligenzunterschiede ebenfalls biologistisch auf vorgebliche Genvariationen zurück (Kritische Psychologie Marburg o. J.). Höckes unmittelbare Anknüpfung an das Werk von Rushton verdeutlicht somit einen de facto Schulterschluss mit jenen „extremistischen Kräften“, von denen Höcke sich gleichzeitig zu distanzieren vorgibt.

  63. 63.

    Ein ergänzendes Beispiel für jene reduktionistische Sichtweise auf Prozesse der „Mehrheitsbildung“ bietet die Erfurter Demonstration vom 07.10.2015: „Es gibt nämlich nur noch 64,5 Millionen Deutsche ohne Migrationshintergrund in diesem Land. In der Altersgruppe von 20 bis 35 Jahren sind es 11 Millionen Deutsche ohne Migrationshintergrund […]. Wenn nächstes Jahr jeden tag nur 10.000 kommen […]. Und wir wissen, dass die, die kommen, meistens jung sind, meistens männlich sind und meistens muslimischen Glaubens sind, dann kippen in dieser zentralen Alterskohorten […] Ende 2016 die Mehrheitsverhältnisse“ ([23] 19:19).

  64. 64.

    Geiges resümiert in seiner Analyse der „Herbstoffensive“, dass der AfD-Diskurs gerahmt sei „mit demokratisch diskutablen Vorschlägen wie beispielsweise denen zur Befürwortung einer Ausweitung direktdemokratischer Verfahren, zur Stärkung entwicklungspolitischer Bemühungen seitens der Bundesrepublik sowie Forderungen zur Neustrukturierung von EU-Verantwortlichkeiten zugunsten nationalstaatlicher Zuständigkeiten insbesondere im Hinblick auf wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenzen. All diese Elemente fanden sich in den Rahmungen der AfD zur ‚Flüchtlingskrise‘ und markierten indes nicht ihren inhaltlich resonanten Kern“ (Geiges 2018: 65 f.). Im Kontext dieser Arbeit wird ersichtlich: Die zentrale Forderung „Heimatrecht verteidigen“ zeigt sich als tendenziell leer: Ein populist demand, der eine Vielzahl partikularer Forderungen (democratic demands) unter sich subsumiert und somit eine protagonistische Äquivalenzkette konstituiert. Erst die „leere“ Forderung „Heimatrecht verteidigen“ vereint somit die heterogenen Forderungen, die – in ihrer je eigenen Partikularität – durchaus „demokratisch diskutabel“ sind. Hierbei büßen die partikularen Forderungen ihre jeweils spezifischen Bedeutungen bis zur Unkenntlichkeit ein und können daher unmöglich den „resonanten Kern“ des AfD-Diskurses darstellen (Laclau 2005a: 162 f.).

  65. 65.

    Mit anderen Worten: Die zivile Orientierung der AfD zeige sich, indem diese Distanz zu der von Antizivilität „verschmutzen“ NPD besitze. Ob diese Inszenierung erfolgreich sein kann, erscheint jedoch zunehmend fraglich. U. a. weil bekannt wird, dass Höcke unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ selbst Texte für eine NPD-nahe Zeitschrift verfasste (Kemper 2015; 2021). Die NPD erscheint aus Perspektive von Höcke daher kaum „tatsächlich“ ein von Antizivilität durchtränktes Element darzustellen. Entscheidend ist an dieser Stelle jedoch weniger, was Höcke „wirklich“ denkt, allerdings belegen Höckes beständige – bis heute erfolglosen – Versuche der Distanzierung von dem Pseudonym „Landolf Ladig“, dass Höcke (sowie die Partei der AfD insgesamt) die Nähe zur NPD durchaus weiterhin als eine Gefahr der antizivilen „Verschmutzung“ wahrnimmt.

  66. 66.

    Versuche einer Eingliederung „der Polizei“ in eine protagonistische Äquivalenzkette sind bereits bei PEGIDA wiederholt vorzufinden (Pradella 2016: 51 f.). Auch auf der – in Abschn. 4.6.4 in den Blick genommenen – Abschlussveranstaltung der „Herbstoffensive“ werden erneut positive Bezugnahmen auf „die Polizei“ laut.

  67. 67.

    Dies wird nochmals deutlich, indem Höcke die „Reinheit“ Erfurts anhand des Beispiels der Sprache aufzuzeigen bestrebt ist: „Die noch relativ wenigen türkischen Kinder in Erfurt, die sprechen Erfurterisch, aber die wenigen deutschen Kinder in Berlin, die sprechen Kanacksprach“ ([22] 30:35). Während in Erfurt die „Reinheit“ des Eigenen erhalten sei, sei in anderen Städten bereits eine vollständige „Verschmutzung“ des Eigenen anzutreffen.

  68. 68.

    Hampel stellt zudem einen „hellen Teil Deutschlands“ (Ostdeutschland) einem „dunklen Teil Deutschlands“ (Westdeutschland) gegenüber ([23] 41:50). Vor dem Hintergrund von Ausschreitungen im Kontext der Eröffnung einer Geflüchtetenunterkunft im ostdeutschen Heidenau im August 2015 stellt der damalige Bundespräsident Gauck hingegen fest: „Es gibt ein helles Deutschland, das sich leuchtend darstellt gegenüber dem Dunkeldeutschland“ (Ondreka 2015). Hier werden im „hellen Teil“ Deutschlands die Vielzahl an freiwilligen Helfer:innen verortet, die sich in ziviler Weise für Geflüchtete engagieren, im „dunklen Teil“ (gemeint ist hier: Ostdeutschland) wird hingegen antizivile Fremdenfeindlichkeit verortet. Durch die vollständig konträren Perspektiven zeigt sich der Antagonismus intakt.

  69. 69.

    Im Kontext eines solchen Krisennarrativs kann mit Lenk von einem „Evergreen aus der langen Tradition des revolutionären Konservatismus“ die Rede sein, d. h., eine Dramaturgie, die aus einer Trias von „Dekadenz, Apokalypse und Heroismus“ besteht (Lenk 2005: 50). Hierzu Hildebrand: „Die Geschichte handelt von einem selbstgenügsamen, unterprivilegierten ‚Volk‘, das […] sich nun aber, wo die Entfremdung von Bürgern und politischen Repräsentanten ein ungekanntes Ausmaß erreicht hat (Dekadenz) und die Gemeinschaft und ihre Werte durch feindliche Mächte im Außen und Innen bedroht werden (Apokalypse), unter der Führung einer wahren, führungsstarken Elite (Heroismus) als politische Bewegung zusammenschließt [H. i. O.]“ (Hildebrand 2017: 171).

  70. 70.

    Höcke erregt in einer populären Fernsehtalkshow u. a. durch das performative Zurschaustellen einer Deutschlandfahne weitreichende Aufmerksamkeit. Jenes Zurschaustellen sei, um – so Höcke – „zu zeigen, dass die AfD die Stimme des Volkes spricht gegen eine, das muss ich ganz deutlich sagen, verrückt gewordene Altparteienpolitik“ (Bender 2015).

  71. 71.

    Dass die Erfurter Demonstrationen äußert erfolgreich sind, zeigt sich nochmals daran, dass bei jener „Großdemonstration“ in Berlin – obwohl eine bundesweite Mobilisierung stattfindet – letztendlich weniger Teilnehmer:innen vor Ort sind als bei manchen Demonstrationen in Erfurt (Häusler et al. 2016b: 59).

  72. 72.

    Allerdings ist Petrys Rede ambivalent und an anderen Stellen rücken die Andeutungen einer konsensualen Beziehung zu den parlamentarischen Parteien in den Hintergrund. Exemplarisch ist diese Artikulation: „Frau Merkel, Sie haben offenbar eines nicht verstanden, was um so schlimmer ist, da sie selbst in einer Diktatur gelebt haben – wir wissen, Sie haben nicht dafür gekämpft sie abzuschaffen – aber 25 Jahre sollten ausreichen, damit auch Sie lernen, dass es ohne Debatten, ohne politische Kontroversen, keine Demokratie geben kann“ ([29] 03:45). Einerseits wird erneut die zentrale Rolle der AfD innerhalb eines diskursiven Rahmens von „Demokratie“ betont – die AfD, die als Opposition zur demokratischen Debatte beitrage. Andererseits wird die Bundeskanzlerin durch einen Verweis auf den deutschen Realsozialismus als von Antizivilität durchdrungen gekennzeichnet und an das Narrativ von antiziviler Unterdrückung angeschlossen.

  73. 73.

    Im Namen „Gandhi“ ist Zivilität keineswegs „natürlicherweise“ verankert, jedoch kann jene Zivilität durchaus als „natürlich“ mit dem Namen verknüpft erscheinen: In Prozessen der historischen Sedimentation ist „Ghandi“ zum schillernden Symbol ziviler Prinzipien geworden. Infolge historischer Sedimentationen geraten Spuren von Antizivilität in Vergessenheit – rassistische Äußerungen von Gandhi oder ein reaktionäres Frauenbild (Sen 2015).

  74. 74.

    Die Aussage, man wolle „Argumente statt Steine“ bringt die binäre Gegenüberstellung von demokratischer Zivilität und antidemokratischer Antizivilität nochmals plakativ zum Ausdruck ([28] 07:26).

  75. 75.

    Anzumerken ist, dass die AfD durch das Abhalten der Demonstration in Berlin genau jenes „Freiheitsrecht der Demonstration für politisch Andersdenkende“ in Anspruch nimmt, was als hier als verloren („außer Kraft gesetzt“) vorgestellt ist. Zudem wird verschleiert, dass das Abhalten einer Gegendemonstration ebenfalls ein legitimes demokratisches Mittel ist. Indem die AfD als einzig verbliebene demokratische Akteurin präsentiert wird, erscheinen Widersprüche des Anderen per se als undemokratisch.

  76. 76.

    Seit einer Regierungsentscheidung Anfang September 2015 – die Ermöglichung der Aufnahme von, zuvor in Ungarn festgesetzten, Geflüchteten in Deutschland – ist das Narrativ der „Grenzöffnung“ ein Kernstück des rechten Diskurses im Kontext der „Flüchtlingskrise“. Ob eine Grenzöffnung vorlag, ist eine verfassungsrechtlich umstrittene Frage, die aufgrund der Nichtannahme einer Klage der AfD durch das Bundesverfassungsgericht letztlich ungeklärt bleibt. Es kann jedoch argumentiert werden, dass die Grenzen höchstens nicht geschlossen wurden, denn im Jahr 2015 gilt das Schengen-Abkommen, das Grenzkontrollen ausdrücklich untersagt. Das – auch von Merkel selbst verwendete – Argument lautet dann: „Offenes lässt sich nicht öffnen“ (Köhler 2019). Die verfassungsrechtlich hochkomplexe Frage, ob dennoch von einer Grenzöffnung die Rede sein kann, lässt sich an dieser Stelle nicht weiter klären. Wie Tabbert aus Perspektive eines Verfassungsrechtlers in einer differenzierten Eruierung konstatiert, zeigt sich die rechtliche Frage letztlich jedoch ohnehin kaum von Bedeutung: „Der Unklarheit über die Rechtslage folgt eine beunruhigende politisch-rhetorische Eskalation auf beiden Seiten. Auf der einen Seite wird mit politischen Begriffen wie ‚Herrschaft des Unrechts‘ oder ‚Rechtsbruch‘ hantiert, auf der anderen Seite von ‚Dolchstoß‘ und ‚rechte Schauermärchen‘ und vom ‚Mythos‘ des Rechtsbruchs gesprochen. Das macht die Auseinandersetzung mit juristischen Argumenten nicht leichter“ (Tabbert 2019). Tabbert beschreibt hier genau einen solchen Kampf um die „richtigen“ Zuordnungsweisen von Zivilität und Antizivilität im Sinne von Alexander, denn: „In the intensely partisan struggles that mark civil life in complex democratic societies, interpreters of the legal order, intellectuals and practitioners alike, frequently argue that civil society’s basic law, the Constitution, supports their own political side“ (Alexander 2006c: 190). Zentral ist, dass sich – trotz unklarer verfassungsrechtlicher Lage – die, von rechten Akteur:innen favorisierte, Rede von der „Grenzöffnung“ breit etablieren konnte. Dies zeigt sich, indem innerhalb der kommunikativen Institutionen Deutschlands (und auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur) oftmals unhinterfragt von einer „Grenzöffnung“ die Rede ist. Es zeigt sich die hegemoniale Etablierung eines bestimmten Narrativs und dieses wiederum zeigt sich relevanter als die „objektive“ verfassungsrechtliche Bewertung des Sachverhalts.

  77. 77.

    Die Verfassungen von demokratischen Staaten gelten mit Alexander als zentrale Dokumente, in denen Definitionen darüber festgeschrieben sind, was als zivil und was als antizivil zu gelten hat: „In democratic societies, constitutions aim to regulate governing and lawmaking in such a manner that they contribute to solidarity of a civil kind“ (Alexander 2006c: 164). Indem es gelingt, erfolgreich zu zeigen, dass ein politscher Gegner nicht länger an der Verfassung orientiert ist, kann dieser als ein Gefährder von zivilen Prinzipien insgesamt erscheinen.

  78. 78.

    Es kann in diesem Kontext gesagt werden, dass innerhalb des Diskurses der AfD eine partikulare Orientierung zur Voraussetzung einer „Anwendung“ der „positiven“ Seite des binären Codes von Zivilität und Antizivilität wird (cf. Abschn. 5.2.4). Ein Beispiel bietet Glaser, der in Berlin artikuliert: „Die Probleme dieser Menschen [Geflüchtete] können in Europa nicht gelöst werden. Wer das versucht, hat den Verstand verloren […]. Wer eine andere Hoffnung weckt, ist für die Toten bei gefährlichen Transporten mitverantwortlich“ ([24] 08:30). Gerade eine universalistische Orientierung – hier: Nichtaufrechterhaltung fester Grenzen – bedeute eine antizivile Beziehung zu den Geflüchteten, denn deren Tod werde somit leichtsinnig in Kauf genommen. Eine partikulare – an der Nation orientierte – Orientierung hingegen bringe Zivilität hervor, denn diese vermeide menschliches Leid.

  79. 79.

    Jene Hervorbringung einer antagonistischen Relation wird in Berlin nochmals explizit, indem artikuliert wird, dass der Staat in der gegenwärtigen Situation „keinen Anspruch mehr auf die Loyalität seiner Bürger und auch kein Anspruch mehr auf deren Steuern“ habe ([30] 05:28). Da der Andere ein antidemokratischer und von Antizivilität durchtränkter Akteur sei, sei eine radikale Abwendung von diesem die einzige Möglichkeit, eine zivil-demokratische Orientierung aufrechtzuerhalten. Ein Narrativ der „Ergänzung“ des politischen Wettbewerbs rückt zugunsten einer Rhetorik des absoluten Bruchs in den Hintergrund.

  80. 80.

    Der Begriff „Willkommenskultur“ entstammt ursprünglich einem ökonomischen Diskurs und wird im Kontext einer angestrebten Attraktivitätssteigerung von deutschen Unternehmen für (hoch) qualifizierte Zuwanderer entwickelt (Haller 2017: 59 ff.). Im Kontext der „Flüchtlingskrise“ meint der Begriff ein vielfältiges zivilgesellschaftliches Engagement für die ankommenden Geflüchteten. Die medialen Bilder von Menschen, die die Geflüchteten an Bahnhöfen empfangen, werden international berühmt. Ohne das tatsächlich vorhandene Engagement einer Vielzahl von Menschen zu unterschlagen, konstatiert Haller letztendlich jedoch eine mediale „Erfindung der Willkommenskultur“: Er zeigt, dass viele Zeitungen „das Narrativ Willkommenskultur im Sinne der Positionen des Politikdiskurses verbreiteten und hierbei deren euphemistisch-persuasive Diktion übernahmen“ (Haller 2017: 101).

  81. 81.

    Überaus deutlich illustriert dies die Entwicklung der Umfragewerte zur Landtagswahl im März 2016 in Sachsen-Anhalt: Bei Wahlumfragen vor der „Flüchtlingskrise“ – und nach der „Erfurter Resolution“ – werden der AfD lediglich 5 % der Stimmen vorhergesagt, im Januar 2016 sind es bereits 15 % und bei den Wahlen im März wird die Partei mit 24,3 % sogar zweitstärkste Kraft (Kleinert 2018: 28).

  82. 82.

    Auch nach dem Einzug in den Bundestag 2017 wird das Themenfeld der (Gewalt-)Kriminalität im Diskurs der AfD zentral bleiben. Butterwege et al. stellen mit Blick auf das frühe parlamentarische Wirken der Partei fest, dass über dieses Thema „alle anderen politischen Inhalte“ erschlossen werden (Butterwegge et al. 2018: 55). Hierbei ist jedoch nicht etwa eine Bekämpfung von Kriminalität für die AfD zentral, sondern vielmehr die Ethnisierung von Kriminalität: Ein Prozess, durch den der „Fremde“ zu einem grundsätzlich Anderen wird (Butterwegge et al. 2018: 91).

  83. 83.

    Ein unmittelbares Beispiel bietet die zuvor betrachtete AfD-Demonstration in Berlin: Die Bundesvorsitzende Petry warnt hier noch explizit lediglich „vor dem politischen Islam, dessen Staatsverständnis mit dem Grundgesetz definitiv nicht vereinbar ist“ ([29] 15:23).

  84. 84.

    Rosenfelder zeigt, dass im neuen Grundsatzprogramm auch in anderen Politikfeldern wichtige Verschiebungen vorhanden sind: „In den älteren offiziellen Dokumenten hatte die AfD an keiner Stelle ein Ausscheiden aus der Europäischen Union ins Spiel gebracht. Im Gegensatz dazu droht die Partei nun im Grundsatzprogramm offen mit einem EU-Austritt“ (Rosenfelder 2017: 134). Eine vormals „softe“ Version des Euroskeptizismus wird somit zunehmend durch eine „harte“ Version ersetzt, wodurch der antagonistische Status gegenüber den „Altparteien“ ebenfalls vertieft werden kann (cf. Abschn. 4.4.2).

  85. 85.

    Die sogenannte „Neue Rechte“ umfasst heterogene Akteur:innen und besteht gegenwärtig „sowohl aus radikalisiertem, wertkonservativen Bürgertum als auch aus modernen Rechtsextremismus“ (Bruns et al. 2017: 29). Kennzeichnend für die „Neue Rechte“ ist insbesondere der Versuch einer Erneuerung des extrem rechten Denkens, maßgeblich indem eine Distanzierung vom Nationalsozialismus angestrebt wird. Die „Neue Rechte“ bezieht sich häufig auf die sogenannte „konservative Revolution“ aus der Zeit der Weimarer Republik. Jener Begriff geht maßgeblich auf Mohler zurück, der bestrebt war, diverse rechte Theoretiker:innen aus den 1920/30er Jahren vom Nationalsozialismus abzugrenzen (Weiß 2017: 15 ff.). Zwar lassen sich ab dem Jahr 2016 verstärkte Kontakte der AfD zu einer „Neuen Rechten“ nachweisen, jedoch ist anzumerken, dass durchaus schon innerhalb der Frühphase der AfD Verbindungslinien bestehen (Häusler 2018a: 10).

  86. 86.

    Die enge Verbindung von Höcke zum IfS zeigt sich, indem dieser mit der thüringischen AfD bereits im Jahr 2014 im IfS tagt, u. a. um „Möglichkeiten der Zusammenarbeit“ zu eruieren (Kampf 2015).

  87. 87.

    Die Idee des „Ethnopluralismus“ ist maßgeblich von Eichberg und de Benoist geprägt. Es wird hier davon ausgegangen, dass „Völker“ eine spezifische ethnokulturelle Kontinuität aufweisen. Mit anderen Worten: Die Idee einer Welt von heterogenen „Völkern“, die je organisch gewachsen seien, wobei spezifische kulturelle Identitäten hervorgebracht worden seien. Um diese spezifischen kulturellen Identitäten zu erhalten sei es unabdingbar, diese in ihren je spezifischen Räumen voneinander abzugrenzen. Der „Ethnopluralismus“ ist ein zentrales Element einer „Neuen Rechten“: „Die traditionellen Lehren von der weißen Überlegenheit, die den europäischen Rassismus geprägt hatten, wurden durch das neue Konzept des ‚Ethnopluralismus‘ ersetzt, der eine Gleichwertigkeit homogener Völker in ihren angestammten Lebensräumen propagiert. Das klang zunächst wesentlich menschenfreundlicher als die üblichen Ungleichheitslehren, barg aber im Glauben an ethnische Homogenität und der Verbindung von Volk und Raum dieselben Ausschlussmechanismen, nur in modernisiertem Gewand“ (Weiß 2017: 34).

  88. 88.

    Das Verschwörungsnarrativ vom „Großen Austausch“ geht maßgeblich auf das Werk von Renaud Camus zurück und beschreibt einen, vorgeblich durch die „Eliten“ intentional gesteuerten, „Bevölkerungsaustausch“: Eine weiße und christliche Mehrheitsgesellschaft solle durch muslimische Einwanderer abgelöst werden. Die Wirkmacht des Verschwörungsnarrativs lässt sich bis in die AfD verfolgen. Bspw. wird Gauland wiederholt vor dem „Bevölkerungsaustausch“ warnen: Merkel wolle den „Bevölkerungsaustausch unumkehrbar machen. Fragen Sie mich nicht, was ihre Motive sind. Aus irgendwelchen Gründen hat sie etwas gegen das deutsche Volk“ ([31] 12:08). Die Bundesregierung wolle, dass „wir für die Einwanderer arbeiten, damit die in Ruhe Kinder in die Welt setzen und den Bevölkerungsaustausch vollenden können“ ([31] 14:22).

  89. 89.

    Le Pen spricht auf Französisch. Es wird auf die deutsche Übersetzung zurückgegriffen, die in dem – durch die AfD selbst veröffentlichten – Video vorgenommen wird. Dies ist damit zu begründen, dass hier weiterhin von zentraler Bedeutung ist, in welcher Weise die AfD die Rede für ein deutsches Publikum zu verbreiten bestrebt ist.

  90. 90.

    An anderen Stellen der Rede dient für Petry jedoch nicht nur der Realsozialismus als eine Ressource, um eine antizivile Unterdrückung durch die „Eliten“ zu suggerieren. Um die EU als ein „Regime“ zu kennzeichnen, finden vielmehr Verknüpfungen mit verschiedensten historischen Formen von antiziviler Unterdrückung statt: „[…] Europa hat nie lange eine Vormacht geduldet, weder das napoleonische Frankreich noch Nazi-Deutschland, noch Sowjetrussland und es wird auch die Europäische Union – so Gott will – nicht länger dulden“ ([32] 02:31:01).

  91. 91.

    Petry suggeriert, dass eine gegenwärtige Form von Unterdrückung gerade deshalb so effektiv sei, weil sie nicht wahrnehmbar ist. Es wird somit ein Verschwörungsnarrativ hervorgebracht, das zirkulär und kaum widerlegbar ist. Denn das Nicht-Wahrnehmen von Unterdrückung wird hier zum „Beweis“ einer totalen Unterdrückung. Jeglicher Widerspruch führt unweigerlich zu dem Vorwurf, der neuen, „smarten“ Form von Unterdrückung zum Opfer gefallen zu sein.

  92. 92.

    Weitere Beispiele dafür, dass eine „Finanzoligarchie“ aufgrund einer postnationalen Orientierung der antagonistische Äquivalenzkette zugerechnet wird, finden sich in den Reden des FPÖ-Politiker Vilimsky sowie bei Petry. Ersterer spricht von einem „System eines korrupten Establishments, dass im Dienste der Finanzwirtschaft und der Multinationalen und der Konzerne steht, aber schon längst nichts mehr im Dienste ihrer Bevölkerungen macht“ ([32] 02:08:51). Petry kritisiert, dass „sich die Ideologen des neoliberalen One-World-Kapitalismus mit den linken Ideologen des One-World-Multikulturalismus zu einem bizarren Pawlow [vereinigen]“ ([32] 02:37:05). Während die frühe AfD maßgeblich von neoliberalen Forderungen geprägt ist, lässt sich in diesem Kontext zunehmend eine Abwendung hiervon beobachten. Bei der Landtagswahl 2019 in Thüringen wird die Forderung nach einem „solidarischen Patriotismus“ laut werden, womit sich auch im deutschen Kontext bestätigt, dass rechtspopulistische Akteur:innen „increasingly present themselves as defenders of an ethnically focused welfare state“ (Bieling 2019: 86). Ökonomische Solidarität wird strikt auf ein „eigenes“ autochthones „Volk“ beschränkt und ein postnationaler Kapitalismus abgelehnt.

  93. 93.

    AfD-Parteichefin Petry wird später im Jahr 2017 sogar behaupten, die AfD sei in Deutschland „einer der wenigen politischen Garanten jüdischen Lebens“ (vks/dpa 2017). Dass Israel jedoch einzig aufgrund seiner vorgeblichen Rolle eines Abwehrers „des Islams“ zum Vorbild wird, macht an anderer Stelle AfD-Politiker Pazderski unmissverständlich deutlich: „Wir sollten uns ein Beispiel an Israel nehmen, das mit Grenzsicherung und Zuwanderung jahrzehntelange Erfahrungen gemacht hat. Auch wir sollten endlich absichern und abschieben“ (Pazderski 2018). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist zudem die Gründung der Gruppierung „Juden in der AfD“ im Jahr 2018. In der Grundsatzerklärung der Gruppierung ist abermals „der Islam“ zentrales Thema: Maßgeblicher Grund der Gründung sei die „unkontrollierte Masseneinwanderung junger Männer aus dem islamischen Kulturkreis“, denn diese seien von einer „antisemitischen Sozialisation“ geprägt (JAfD o. J.). Indem ausschließlich ein (horizontaler) Anderer für das Problem des Antisemitismus verantwortlich gemacht wird, findet eine Externalisierung jenes Problems statt. Die Inszenierung einer israelfreundlichen und pro-jüdischen Positionierung der AfD steht diversen repräsentativen Studien indes völlig widersprüchlich entgegen. Das Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) stellt im Jahr 2018 fest, dass der Antisemitismus in Deutschland zwar tendenziell abnehme, die Unterstützer:innen der AfD jedoch eine eklatante Ausnahme bilden. Der Aussage „Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss“ stimmen im Jahr 2018 55 % der AfD-Anhänger:innen zu. Im Vergleich zu sämtlichen anderen relevanten Parteien fallen diese damit „vollkommen aus dem Rahmen“ (Petersen 2018: 8).

  94. 94.

    In diesem Kontext kann auf das Grundsatzprogramm der AfD aus dem Jahr 2016 verwiesen werden, denn bereits hier wird betont, dass eine „Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus“ aufzugeben sei. Vielmehr müssten „die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte“ verstärkt fokussiert werden (AfD 2016: 48). Es wird somit ein erinnerungspolitischer Ansatz gefordert, der sich auf die „positiven“ Seiten der deutsche Geschichte fokussiert, während die Einflüsse der „verschmutzten“ Zeit des Nationalsozialismus auf eine „deutsche Identität“ heruntergespielt werden. In einer Analyse des erinnerungspolitischen Diskurses der AfD stellt Binder fest: Die AfD „indulge[s] nostalgically in ‚fake‘ memories of a powerful Germany which was ethnically and culturally homogenous, such as the BRD of the economic miracle or, even better, good old Prussia. […] an imaginary pre-postwar Germany characterized by a shared primordial identity“ (Binder 2021: 197).

  95. 95.

    Bereits im November 2015 macht Höcke jene Notwendigkeit einer grundsätzlichen „Alternative“ explizit: „Die Pfründejäger und Spießbürger, die wollen die AfD natürlich so schnell wie möglich zu einer Parlamentspartei machen. […] Um dann entsprechend ein ruhiges Auskommen zu genießen. Aber ich kann ihnen garantieren: So lange ich etwas in der AfD zu sagen habe und so lange die Lage so ist, wie sie ist – nämlich die Lage ist einfach da, dass dieses Land sich in einer existenziellen Notlage befindet – so lange kann es nur eine Charakterisierung für die AfD geben: Die AfD ist und muss in dieser Lage eine fundamentaloppositionelle Bewegungspartei sein!“ ([27] 48:56)

  96. 96.

    Das Freiheitsgelöbnis im Wortlaut: „Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen“. Die Freiheitsglocke wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch eine Spendenaktion – 16 Millionen US-Amerikaner:innen spendeten für die Glocke und unterschrieben damit auch den Freiheitsschwur – an Deutschland übergeben und diese hängt seit 1950 im Turm des Schöneberger Rathauses in Berlin. Die Glocke entstand nach dem Vorbild der US-amerikanischen „Liberty Bell“, die eine starke Symbolkraft besitzt (sie läutete, als die Unabhängigkeitserklärung der USA am 8. Juli 1776 öffentlich verlesen wurde). In Deutschland ist die Freiheitsglocke weithin bekannt und läutete bspw. am 3. Oktober 1990 die Wiedervereinigung Deutschlands ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Freiheitsglocke täglich im Radiosender RIAS gesendet, gegenwärtig setzt der Radiosender Deutschlandfunk Kultur diese Tradition fort (Baumgärtel 2007).

  97. 97.

    Die Berliner Demonstration von 2018 ist nur ein Beispiel für die fortlaufende Relevanz des „1989er Narrativs“. Dies wird etwa mit den ostdeutschen Landtagswahlkämpfen der AfD im Jahr 2019 deutlich: „Vollende die Wende“ bzw. „Wende 2.0“ wird hier das zentrale AfD-Wahlkampfmotto sein.

  98. 98.

    Neben PEGIDA und „Ein Prozent“ (cf. Abschn. 4.5 & 4.7.2) sind hierfür die Demonstrationen von „Kandel ist überall“ exemplarisch: Es ist dokumentiert, dass sich hier das „Who-is-who der bundesdeutschen und europäischen Neonazi-Szene [trifft], die regelmäßig in verschiedenen Funktionen bei den Demonstrationen auftaucht“ (Rheinpfalz 2018; cf. Rafael 2018). Auch die Initiative „Zukunft Heimat“ ist eine Anlaufstelle für neonazistische Akteur:innen (Fröschner/Warnecke 2019: 9 ff.). Auf der Pressekonferenz zur AfD-Demonstration in Berlin betont Kalbitz zwar den Unvereinbarkeitsbeschluss der AfD mit der IB: Dieser stehe „glasklar und knallhart“ ([39] 48:37). Indem die IB jedoch sowohl bei „Kandel ist überall“ als auch bei „Zukunft Heimat“ in Erscheinung tritt, zeigt sich diese Abgrenzung lediglich als Versuch, eine gewisse Distanz nach Rechtsaußen zu plausibilisieren. Ein weiteres Beispiel für die Öffnung nach Rechtsaußen ist „Compact“-Chefredakteur Elsässer, der an der AfD-Demonstration in Berlin teilnimmt (und T-Shirts mit der Aufschrift „Sieg für Deutschland“ verkauft).

  99. 99.

    Zwar können Gewalttaten nicht pauschal oder unmittelbar auf verbreitete rechtspopulistische Narrative zurückgeführt werden, jedoch wird durchaus ein entsprechender Resonanzraum hervorgebracht. Heitmeyer beschreibt dies durch ein Konzept der „Gewalt-Membran“. Der Rechtspopulismus beteuert die Distanz zu gewaltvollen Handlungen, die hier verbreiteten Narrative dienen jedoch als Legitimation für gewaltsame Akte (Heitmeyer 2018b: 130). Gewalt erscheint gerechtfertigt „als Gegengewalt eines vermeintlichen Opfers, ja als existenzielle Kollektivnotwehr gegen den ‚Volksverrat der Eliten‘ und gegen eine ‚Invasion‘ […]. Kriegsmetaphorik, Selbstviktimisierung und heroische Pose eines quasi-märtyrerischen Rechtspopulismus und Rechtsterrorismus gehen Hand in Hand“ (Séville 2019: 36). Im deutschen Kontext ist etwa auf die rechtsterroristischen Anschläge in Halle (2019) und Hanau (2020) oder auf den Mord an Walter Lübcke (2019) zu verweisen.

  100. 100.

    Insbesondere ab dem Jahr 2017 werden diverse Studien einen völkischen bzw. einen Ethno-Nationalismus als Kernelement der Ideologie der AfD identifizieren (Wildt 2017; Kellersohn 2018; Häusler 2018a, 2018c; Salzborn 2018; Havertz 2019, 2021).

  101. 101.

    Anhand des innerparteilichen Streits wird erneut die hegemonietheoretisch zentrale Frage evident, an welcher Stelle die antagonistische Granzlinie verläuft bzw. verlaufen sollte. Mit Blick auf den Verfassungsschutz ruft Meuthen in einer Grundsatzrede im November 2020 zur Mäßigung auf und warnt vor einem aggressiven Auftreten sowie einer enthemmten Sprache. Zudem wird ein zentrales Narrativ unterlaufen, denn, so Meuthen: „Wir leben in keiner Diktatur, sonst könnten wir diesen Parteitag heute wohl auch kaum abhalten“. Behaupte man etwas anderes, stelle man „im Grunde die Systemfrage“ (Steffen 2020). Ein vollständig antagonistscher Status gegenüber einem „Regime“ ist somit negiert und die AfD wird in einer – zumindest grundsätzlichen – konsensualen Beziehung zu den länger etablierten Parteien verortet. Parteiinterne und parteinahe Akteur:innen widersprechen unmittelbar. Kubitschek wird Meuthen etwa vorwerfen, die AfD von einer tatsächlichen „Alternative“ zu einer bloßen „Ergänzung“ zu entwickeln ([41] 08:14). Hier wird somit die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung eines „wahrhaftigen“ antagonistischen Status betont – gegenüber einem „Regime“ zu dem keinerlei konsensuale Beziehung möglich sei.

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Pradella, M. (2023). Teil 3: Fallbeispiel – Die Entwicklung der Alternative für Deutschland. In: Hegemonialer Kampf um die öffentliche Sphäre. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43035-1_4

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