8.1 Einleitung

Viele Vereine, darunter auch viele Leichtathletikvereine, stehen vor ähnlichen Problemen: Die Ansprüche der Athleten wachsen kontinuierlich und die Aufgaben des Vereinsvorstandes nehmen zu, und aufgrund fehlender Ressourcen führt es immer häufiger zur Arbeitsüberlastung der vorhandenen Funktionäre (Ulrich, 2017). Auf der anderen Seite stehen die Athleten*innen, welche das stets ansteigende Leistungsniveau der Schweizer Leichtathletik hautnah miterleben, was ihre Ansprüche an das Trainingsumfeld steigen lässt. Die Erfüllung dieser Anforderungen ist nur mit zusätzlichem Aufwand möglich. Hier befindet sich somit ein anspruchs- und ressourcenbezogenes Spannungsfeld, welches viele Vereine vor existenzielle Probleme stellt. Vor diesem Hintergrund wird im Vorliegenden ein theorie- und empiriegestütztes Entwicklungsmodell für die Professionalisierung von Leichtathletikvereinen konzipiert, das heutige Vereine bei dieser Transformation unterstützen soll. Dies erfolgt auch mit Bezug auf die Tatsache, dass vorhandene Konzepte und Modelle der Unternehmensentwicklung nicht direkt auf die Organisationsform der Vereine, expliziter der Schweizer Leichtathletik-Vereine, anwendbar sind. Ausgangspunkt für die empirische Untersuchung und Modellkonzipierung sind folgende Forschungsfragen:

  • F1: Welche Faktoren tragen dazu bei, dass eine strukturelle Veränderung der Vereinsstrukturen in Richtung Professionalisierung unabdingbar wird?

  • F2: Wie sehen vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen im Leichtathletiksport mögliche Reifegradphasen einer strukturellen Professionalisierung aus, welche ein Verein in seinem Lebenszyklus durchläuft, und welches sind die typischen Eigenschaften dieser einzelnen Phasen?

  • F3: Wie müssen die Maßnahmen der Leichtathletikvereine konkret bei einem Phasenwechsel, respektive einem strukturellen Wandel aussehen, und welche Herausforderungen ergeben sich hierbei?

8.2 Theoretische Grundlagen

8.2.1 Der Verein als nicht profitorientierte Organisation

Bei nicht profitorientierten Organisationsformen (NGO) handelt es sich um multifunktionale Organisationen, welche soziale Integration ermöglichen, als Dienstleistungserstellerinnen agieren und eine wichtige Rolle in der Interessensvertretung übernehmen (Zimmer & Hallmann, 2016, S. 777 ff.).

Der Verein ist eine mögliche Ausprägung eines NGO. Die Vereinsforschung beruht auf zwei Klassikern: Alexis de Tocqueville und Max Weber (Born, 2014, S. 15). Tocqueville bezeichnet die Vereine als zentrales Instrument für eine erfolgreiche Demokratie: Sie ermöglichen eine Bündelung der Interessen der Bevölkerung und mit ihr die Schaffung eines Gehörs gegen außen. Ein Verein hat Einfluss auf seine Mitglieder und fördert bei ihnen Kooperationsbereitschaft und Gemeinwohlorientierung (Tocqueville, 2004, S. 598 ff.). Weber bezeichnet die Vereine als gesellschaftliche Zwischenschicht zwischen dem Familienleben und politischen Gewalten (Staat, Gemeinden und offizielle Kirche) (Weber, 1924). In engem Zusammenhang mit dem Vereinsbegriff steht der Begriff des Sozialkapitals: Der Verein im Sinne eines Vertreters des Sozialkapitals ist eine Rechtsform, welche in ihrer ursprünglichen Form, den Zweck verfolgt, sich für die Allgemeinheit einzusetzen (Putnam et al., 1994, S. 167).

Die Vereinsgeschichte in der Schweiz beginnt nennenswert erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Jost, 1992, S. 468). Vereine werden bis heute von der Schweizer Bevölkerung geschätzt und viele Schweizer*innen sind Mitglieder in einem Verein (Evéquoz & Camp, 2018, S. 4). Seit es Vereine in der Schweiz gibt, gehören Sportvereine zu den meistvertretenen Vereinsarten (Born, 2014, S. 61). Der Beispielverein dieser Forschungsarbeit, der TV Länggasse, fällt ebenfalls in diese Kategorie und gehört mit seinen 500 Mitgliedern zu den größten Leichtathletikanbietern der Schweiz (TV Länggasse, 2012).

8.2.2 Professionalisierung von Vereinsstrukturen

Obwohl Vereine nicht profitorientiert handeln, gibt es Möglichkeiten, und kann es in bestimmten Kontexten sinnvoll sein, professionelle Strukturen im Verein zu implementieren. Es wird deshalb spezifisch auf die Besonderheiten der Vereine aus interner (Vereinsstrukturen) und externer (Umweltfaktoren) Perspektive eingegangen, die für eine entsprechende Transformationsentscheidung relevant sind. Sie dienen als Grundlage zur Ableitung von Bedarf, Handlungsoptionen und der Herausforderungen einer Professionalisierung im spezifischen Vereinskontext.

Vereine stellen als seitens der Bevölkerung vertrauenswürdige Institutionen eine Alternative bei Staats- oder Marktversagen dar. Sie sind zugleich auch Vertreter von Interessensgruppen gegenüber der Politik, verfolgen vielfach die Weiterentwicklung und Verbesserung der Gesellschaft und üben damit eine „Welfare-Politik“ aus (Zimmer, 1996, S. 162). Dies ist bei der Entwicklung zukunftsgerichteter Strukturen entsprechend zu berücksichtigen.

Unterscheidungsmerkmale: Aufbau- und Ablauforganisation, Zweck und Zielsystem

Aufbau- und Ablauforganisation: Vereine unterscheiden sich in ihrer Ablauforganisation (Aufgaben innerhalb und zwischen den einzelnen Einheiten, dynamische Prozesse) und Aufbauorganisation (Gestaltung der Vereinsstruktur) von anderen Organisationsformen (Golinsky, 2020, S. 28 f.). Übergeordnete Weisungen für Vereine sind im Schweizerischen Zivilgesetzbuch festgehalten. So bildet zum Beispiel die Mitgliederversammlung stets das oberste Organ (Art. 64 Abs. 1), beschließt über die Aufnahme und den Ausschluss von Mitgliedern und wählt den Vorstand (Art. 65 Abs. 1). Die Gestaltung der Aufbauorganisation bei Vereinen kann sich voneinander unterscheiden, und es gibt verschiedene Standardmöglichkeiten zur Erstellung einer hierarchischen Ordnung. Die erste Ebene ist dabei aber immer der Vorstand eines Vereins. Es folgen eine Ebene der Fachbereiche (z. B. Finanzen, Marketing) und eine dritte Ebene der Aufgabenausführung (Golinsky, 2020, S. 34 ff.). Herkömmliche Sportvereine verfügen organisatorisch mehrheitlich über ein Einliniensystem, welches bei größeren Vereinen mit einer Stabstelle oder Projektteam ergänzt wird. In Abb. 8.1 ist ein typisches Organigramm eines Sportvereins dargestellt.

Abb. 8.1
figure 1

Typisches Organigramm eines Sportvereins. (Eigene Darstellung)

Zweck: Weiteres Unterscheidungsmerkmal von Vereinen ist die Finanzierung (autonom) und die Zieldefinition (Sachziele versus Gewinn/Profit). Vereinsstrukturen weisen einen starken demokratischen Charakter auf, und die Mehrheit ihrer Tätigkeiten basieren auf der Ehrenamtlichkeit, beziehungsweise der freiwilligen Arbeit. Ihr Wissensstand ist tendenziell klein, weil Vereine einem ständigen Wandel unterworfen sind. Ein Grund dafür ist, dass Vereine in ihrer Entwicklung stark von den jeweiligen Wertvorstellungen und Bedürfnissen der Bevölkerung abhängig sind, und diese sich stetig verändern. Weiter sind die Individualisierung der Gesellschaft sowie die demografische Bevölkerungsentwicklung wichtige Treiber einer dynamischen Vereinsentwicklung, die über sich wandelnde Mitgliederstrukturen auch mit Wissensverlusten einhergeht (Wolf et al., 2011, S. 4 f.).

Zielsystem: Wie bei profitorientierten Organisationen besteht in der Regel ein Oberziel im Zielsystem: die Sicherung der dauerhaften Überlebensfähigkeit. Bei Sportvereinen wird dieses um ein weiteres sachbezogenes Oberziel, dem Streben nach sportlichem Erfolg, ergänzt. Die Erreichung dieses zweiten Ziels steht in enger Wechselwirkung zur Überlebensfähigkeit und ist somit, insbesondere im Bereich des Leistungssports, von existenzieller Bedeutung. Der sportliche Erfolg dient hier als Türöffner für zahlreiche finanzielle Zuwendungen (Sontag, 2012, S. 223 f., 229).

Umweltfaktoren: Zwang zur Professionalisierung bei Sportvereinen

Die Abhängigkeit einer Organisationsform von der Bevölkerung ist selten so groß wie bei Vereinen. Unterschiedliche Herausforderungen stellen Vereine der heutigen Zeit sehr unter Druck. Eine der größten Herausforderungen ist der Mitgliederschwund durch Alternativangebote und den gesellschaftlichen Wandel. Trotz Bevölkerungswachstum und Sportboom können Sportvereine nicht automatisch auch von steigenden Mitgliederzahlen profitieren. Die Gewinnung neuer Mitglieder bleibt eine kontinuierliche Herausforderung (Lamprecht et al., S. 42). Daneben stellt die sinkende Bereitschaft für Ehrenamtlichkeit/Freiwilligenarbeit eine weitere Herausforderung dar. Gleichzeitig steigen die Anforderungen der Mitglieder an die freiwilligen Arbeiter*innen in Schweizer Sportvereinen stark. Dazu kommt eine immer stärker werdende Konsumhaltung in der Gesellschaft, die mit einer abnehmenden Bereitschaft einhergeht, sich langfristig an einen Verein zu binden, oder sich ehrenamtlich zu betätigen (Gmür et al., 2012, S. 5). Weitere Herausforderungen sind eine fehlende, respektive unzureichende Infrastruktur sowie die begrenzt zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel (Lamprecht et al., 2017, S. 28 ff.).

Möglichkeiten zur Strukturgestaltung

Für viele Sportvereine ist die Professionalisierung oder Teil-Professionalisierung die einzige Möglichkeit, die angeführten Herausforderungen zu bewältigen. Es bieten sich hierfür verschiedene Möglichkeiten an; eine davon ist die Einführung von hauptamtlichen Tätigkeiten. Um die Ehrenamtlichkeit zu entlasten, ergänzen in diesem Ansatz Vereine ihre Strukturen mit Stellen, welche im Haupt- oder Nebenamt auf Basis eines existierenden Arbeitsverhältnisses mit entsprechender Entlohnung ausgeübt werden (Schütte, 2000, S. 131–134). Eine weitere Möglichkeit zur Professionalisierung ist die Einführung eines Freiwilligenarbeit-Managements. Unabhängig von der Größe und Ausrichtung des Vereines fördert ein systematisches und planmäßiges Freiwilligenarbeit-Management die Qualität der internen Vereinsarbeiten. Ein Freiwilligenarbeit-Management beinhaltet zum Beispiel die Führung einer Freiwilligen-Datenbank, in der Stärken und Interessen der zur Verfügung stehenden Mitglieder hinterlegt sind. Dies ermöglicht eine effizientere Zuteilung der Vereinsaufgaben und bietet dem Verein zudem eine Übersicht der verfügbaren Personalressourcen (Zürcher Kantonalverband für Sport, 2018a, S. 12 f.). Die Anwendung von Jobsharing und die Einführung von Projektteams bieten weitere Optionen, den Verein in der Professionalisierungstransformation voranzubringen. Insbesondere das Arbeiten mit Projektteams ist vielversprechend, da die Projektteams nur für spezifische zeitlich begrenzte Vereinsarbeiten gebildet werden und keine dauerhafte Bindung der Mitwirkenden verlangen (Zürcher Kantonalverband für Sport, 2018b, S. 16 f.). Zudem ist die Nutzung der Möglichkeiten einer Digitalisierung von Prozessen und Kommunikationsaktivitäten zwingend geworden. Heutige Technologien erlauben eine ort- und zeitunabhängige Kommunikation. Insbesondere für Administrationsarbeiten oder die bereits erwähnten Projektteams sind digitale Kommunikationsplattformen eine Komponente, mit welcher sich viel Zeit einsparen lässt (Zürcher Kantonalverband für Sport, 2018b, S. 9). Eine wichtige Größe für die Bewältigung der Herausforderungen sind die Schaffung und der Ausbau einer großen Mitgliederbasis. Dies hilft nicht nur bei der Gewinnung von Nachwuchsathleten, welche wiederum in Zukunft die Aushängeschilder im Leistungssport sein werden, sondern fördert auch die Gewinnung von Vereinsmitgliedern, welche sich in Zukunft ehrenamtlich für den Verein engagieren werden (Lamprecht et al., 2017, S. 36).

Herausforderungen bei Strukturanpassungen

Eine Strukturanpassung zur Teil- oder Vollprofessionalisierung bringt auch Herausforderungen mit sich, welche oftmals ausschlaggebend dafür sind, weshalb Vereine den Schritt nicht durchführen. Größtes Hindernis für Vereine, sich zu professionalisieren, sind die damit verbundenen finanziellen Mehrbelastungen für die Schaffung von Teilzeitstellen, Arbeitsinfrastrukturen sowie weitere wiederkehrende Kosten, welche für Wettkampfvereine tendenziell häufiger anfallen. Zudem führen insbesondere teilprofessionalisierte Systeme zu unerwünschten strukturellen Ungleichheiten, da oftmals der Übergang zwischen Haupt- und Ehrenamt schleichend geschieht. Nicht selten führt dies zu Konstrukten, in welchen ehrenamtliche Mitglieder zeitlich und finanziell weitaus höhere Aufwände haben als hauptberufliche Mitglieder. Bei der Professionalisierung ist ferner ein Kulturwechsel unvermeidbar. Damit erhöht sich auch das Risiko für den Verlust traditioneller Vereinskulturen. Zudem führt die Schaffung von bezahlten Stellen oft zu einem generellen Rückgang der Bereitschaft für Freiwilligenarbeiten im Verein (Schütte, 2000, S. 130 ff.).

8.2.3 Rahmen einer Professionalisierung von Vereinsstrukturen

Das anwendungsorientierte Ziel dieses Beitrags ist es, Schweizer Leichtathletikvereinen durch ein adaptiertes Unternehmensentwicklungsmodell eine Orientierungshilfe bei der eigenen Vereinsentwicklung sowie einem effizienten Ressourceneinsatz zu geben. Der Begriff der Unternehmensentwicklung steht für die in einer Organisation über eine bestimmte Zeit geschehenden Veränderungsprozesse. Im Unterschied zum Unternehmenswachstum umfasst der Begriff der Unternehmensentwicklung hinsichtlich der Transformationsperspektive nicht nur die quantitativen Veränderungen, sondern berücksichtigt auch die qualitativen Veränderungen (Reorganisationen, strategische Neuausrichtungen etc.) in einer Organisation (Pümpin & Prange, 1991, S. 15). Unternehmensentwicklungsmodelle können in fünf verschiedene Kategorien unterteilt werden: Metamorphosen-, Krisen-, Marktentwicklungs-, Strukturänderungs- und Verhaltensänderungs-Modelle. Die auf finanziellen Kennzahlen basierenden Modelle (Marktentwicklungs- und Verhaltensänderungsmodelle) ermöglichen nur bedingt eine Bezugnahme auf nicht profitorientierte NGOs, weshalb diese nicht weiter betrachtet werden. Nachfolgend werden potenziell geeignete Unternehmensentwicklungsmodelle hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit im Kontext der Professionalisierungstransformation von nicht kommerziellen Leichtathletikvereinen geprüft und charakterisiert. Alle betrachteten Modelle zeichnen sich durch die explizite Integration von Krisenaspekten bei der Unternehmenstransformation aus.

Das Strukturänderungsmodellmodell von Greiner fokussiert hauptsächlich auf interne Unternehmensfaktoren (Alter der Organisation, Größe der Organisation, Evolutionsstufe, Revolutionsstufe und Wachstumsrate der Branche). Äußere Faktoren können auch wirksam werden und verkürzen respektive verlängern die Dauer der einzelnen Entwicklungsphasen eines Unternehmens im Zeitablauf. Unterbrochen werden die einzelnen Phasen durch phasentypische Krisen, welche den Verlauf zusätzlich beeinflussen (Greiner, 1998, S. 55 ff.). Das Modell von Greiner eignet sich für eine Übertragung aus dem ökonomischen Kontext heraus auf in den Non Profit-Bereich, in welchem Vereine angesiedelt sind, weil der Fokus nicht primär auf die finanzielle Steuerung und Weiterentwicklung ausgerichtet ist. Dagegen spielen die Größe der Organisation und eine innenorientierte Sichtweise auf den Entwicklungsprozess eine bedeutende Rolle bei der strukturellen Gestaltung. Vereine sind stark von ihren Mitgliedern abhängig, weshalb dieses etablierte Entwicklungsmodell und die hiermit verbundene interne Perspektive in ein für Vereine adaptiertes Reifegradmodell einfließen kann.

Weitere übertragbare Erkenntnisse für den Entwicklungsprozess von Leichtathletikvereinen liefert das klassische Krisenmodell von Lippitt und Schmidt (1967). Seine Aussagen basieren auf der Annahme, dass jedes Unternehmen drei Entwicklungsphasen durchläuft: „Birth“, „Youth“ und „Maturity“. Zentral dabei ist die Aussage, dass der Reifegrad einer Unternehmung weder von der Größe noch vom realisierten Umsatz abhängig ist. Es hebt stattdessen auf phasenspezifische Entscheidungsbedarfe im Krisenkontext ab. Je nach Reifegrad einer Organisation treten im Entwicklungsverlauf andere Fragestellungen auf und erst nach erfolgreicher Bewältigung der phasentypischen Herausforderungen ist das Erreichen einer nächsten Reifephase realisierbar. Dieses Modell ermöglicht somit eine Ausweitung der Perspektive für Leichtathletikvereine über den Greinerschen Ansatz hinaus, indem der organisationale Reifegrad nicht primär mit der Größe eines Unternehmens in Verbindung gebracht wird. Verbindendes Element der beiden Ansätze ist die Verknüpfung von Transformation und Krisenbewältigung.

Auch das etablierte Metamorphosen Modell von Knut Bleicher (1983) enthält Anwendungsbezüge für ein Entwicklungsmodell für Schweizer Leichtathletikvereine. Gemäß diesem Modell erreichen Unternehmen Wachstumsschwellen mit Eigenschaften, aus welchen eine Unternehmenskrise resultiert und bisherige Konzepte und Methoden des Managements nicht mehr funktionieren. Bleicher unterscheidet bei der Unternehmensentwicklung in eine innere und eine äußere Entwicklung. Die ersten Phasen einer Unternehmensentwicklung können gemäß Bleicher aus eigener Kraft, also von innen heraus bewältigt werden, weiteres Wachstum über einen bestimmten Schwellenwert hinaus wird jedoch nur in Form von Zusammenschlüssen mit anderen Unternehmen als realisierbar gesehen (Akquisition oder Kooperation). Die letzte Lebensphase eines Unternehmens ist gemäß dem Metamorphosenmodell durch ein negatives Wachstum gekennzeichnet. Einzelne Teile oder im schlimmsten Fall das gesamte Unternehmen gehen dann Konkurs oder müssen an Dritte verkauft werden (Hohmann, 2012, S. 26 ff.). Die Differenzierung von internen und externen Entwicklungszusammenhängen scheint auch im Vereinskontext zielführend zu sein, da in der Schweizer Sportvereinsgeschichte immer wieder eine Vielzahl kleinerer Vereine mit anderen fusioniert oder zusammengearbeitet hat.

Perspektiven für die Professionalisierung der Strukturgestaltung für Vereine

Die Notwendigkeit der Professionalisierung ist aufgrund immer größer werdender Herausforderungen wie sinkende Mitgliederzahlen, eine schrumpfende Bereitschaft für ehrenamtliche Tätigkeiten, eine wachsende Konkurrenz (neue Sportarten oder kommerzielle Fitnessanbieter) und fehlende Infrastruktur und finanzielle Mittel für viele ambitioniertere Schweizer Leichtathletikvereine gegeben. Die für die Professionalisierung benötigten zusätzlichen Ressourcen können unter anderem durch die Schaffung von Stabstellen, Projektorganisationen oder Jobsharing-Optionen bereitgestellt werden.

Die bestehenden Unternehmenszyklusmodelle können als erste Orientierungshilfen für Leichtathletikvereine im strategischen Wandel herangezogen werden. Sie zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass sie den Lebenszyklus eines Unternehmens in unterschiedliche Reifephasen unterteilen. Jede Phase weist typische Herausforderungen auf, auf die sich Unternehmen, und im hier betrachteten Kontext die zukunftsgerichteten Vereine bereits im Vorfeld vorbereiten können. Aus den Krisenmodellen können auf den Vereinskontext übertragbare Maßnahmen zur Bewältigung von transformationsbegleitenden und -begründenden Krisensituationen abgeleitet werden. Bei der Unternehmens-, respektive Vereinsentwicklung kommen nicht nur größenabhängige Faktoren zum Tragen, sondern eine Vielzahl interner und externer Aspekte und die Erkenntnis, dass einige Herausforderungen, insbesondere in späteren Entwicklungsphasen von Leichtathletikvereinen, vermutlich nur in Zusammenarbeit mit anderen Vereinen durch Kooperation oder Fusion zu bewältigen sein werden. Ein Verein ist als Institution der Gesellschaft in Bezug auf externe Veränderungen ein sehr kontextsensibles Konstrukt, das ein hohes Maß an struktureller und führungsseitiger Flexibilität voraussetzt. Dies muss bei der Entwicklung eines vereinsbezogenen Entwicklungs-, respektive Reifegradmodells berücksichtigt werden.

8.2.4 Entwicklung eines Reifegradmodells zur Professionalisierung von Vereinsstrukturen

Nachfolgend wird auf Basis der konzeptionellen Vorüberlegungen ein Reifegradmodell für die Professionalisierung von Strukturen bei Leichtathletikvereinen erstellt. Die hiermit einhergehende Grundperspektive setzt am situativen Ansatz der Organisationstheorie an, der untersucht, ob und wie Aspekte der formalen Strukturen von Organisationen von situativ unterschiedlichen Rahmenbedingungen (Kontext) determiniert werden, und in welcher Form die vorgegebenen Umweltbedingungen interne Strukturgestaltungen beeinflussen (Preisendörfer, 2016, S. 85 ff.). Abb. 8.2 stellt das herangezogene Grundmodell des situativen Ansatzes grafisch dar.

Abb. 8.2
figure 2

Situativer Ansatz. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Ebers & Kieser, 2019)

Abb. 8.2 zeigt auf, dass die Effizienz, respektive der Erfolg eines Unternehmens immer vom Verhalten der Organisationsmitglieder, also ihrem Engagement und ihrem Arbeitseinsatz bestimmt ist. Die Organisationsstruktur spielt dabei eine entscheidende Rolle, da diese wiederum auf das Verhalten einwirkt. Die formale Organisationsstruktur wiederum wird durch die aktuell vorherrschende Situation der Organisation geprägt, oder gar erzwungen. Um den situativen Ansatz konkret für Organisationen anwenden zu können, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt werden (Ebers & Kieser, 2019, S. 164 ff.):

  1. 1.

    Sicherstellung einer näheren Spezifizierung der „formalen Organisationstruktur“, sowie deren Zugang zu einer empirischen Messung

  2. 2.

    Schaffung klarer Ausdifferenzierung und Klärung der „Situation der Organisation“

  3. 3.

    Entwicklung eines Forschungsdesigns und von Methoden, welche Form, Richtung und Stärke des Zusammenhangs von situativem Kontext und interner Organisationsstruktur ermöglichen.

Pugh et al. (1963, S. 301) konkretisieren die formalen Organisationsstrukturen anhand von sechs Ausprägungsformen, an denen bei einer kontextbezogenen Strukturgestaltung angesetzt werden kann, und die in Tab. 8.1 abgebildet sind.

Tab. 8.1 Strukturbezogene Dimensionen des situativen Ansatzes. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Pugh et al. 1963, S. 301)

Die sechs Dimensionen, beziehungsweise die mit ihnen verbundenen Leitfragen ermöglichen eine Analyse der vorhandenen Strukturformen eines Vereins, aber vorerst noch ohne Bezug zur zweiten Variable im Grundmodell des situativen Ansatzes, der „Situation der Organisation“ (Kontext). Der hohe Abstraktionsgrad dieser Dimension erschwert deren systematische Analyse (Faber, 2017, S. 119). Auch hier haben Pugh et al. (1963, S. 308 ff.) analog zur Strukturdimension versucht, relevante situationsabhängige Einflussgrößen in Form von typischen Fragestellungen zu kennzeichnen. Diese sind Tab. 8.2 abgebildet.

Tab. 8.2 Kontextbezogene Variablen des situativen Ansatzes. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Pugh et al. 1963, S. 308 ff.)

Der situative Ansatz kann somit als strukturgebende Grundperspektive zur Untersuchung von Einflussfaktoren und ihrer Wirkungen auf die Organisationsstruktur herangezogen werden. Konkreten Mehrwert bringt der situative Ansatz mit der Einbettung einer konkreten Institution in den gegebenen Kontext (Faber, 2017, S. 123). Die Perspektive ist auch in hohem Maße kompatibel mit den vorgestellten Phasenmodellen der Unternehmensentwicklung. Bei der Erstellung des gestaltungsorientierten Reifegradmodells für Schweizer Leichtathletikvereine fließen die Grundgedanken der Kontingenztheorie in Verbindung mit den Phasenmodellen ein.

Kontextbezogene Entwicklungsphasen von Leichtathletikvereinen

Für die kontextbezogene Abgrenzung von Reifephasen eines Leichtathletikvereins werden diese in die Grundkategorien „Amateur“, „Teilprofessionell“ und „Vollprofessionell“ unterteilt. Diese Abgrenzung erlaubt es, die Divergenz der Kontextfaktoren und der daraus abgeleiteten unterschiedlichen Anforderungen der Umwelt an die Vereinsorganisation in vereinfachter Form systematisch zu berücksichtigen. Die drei Kategorien unterscheiden sich kontextbezogen insbesondere hinsichtlich Größe, den Anforderungen der jeweiligen Stakeholder und des Ressourcenbedarfs. Gemäß dieser Grundsystematik kann ein Verein, genauer dessen Leitung und die Mitglieder, phasen-, beziehungsweise reifegradbezogen entscheiden, ob und wann er sich in eine nächste Phase weiterentwickeln soll(te). Denkbar wäre damit auch ein bewusster strategischer Entscheid zum Verbleib in der Kategorie „Amateur“. Die gewählte Abgrenzung ist weitgehend losgelöst von der konkreten sportlichen Leistung der Athletinnen und Athleten. Die Ausgestaltung der drei Reifekategorien/-phasen orientiert sich auf einer nachgeordneten Ebene an den herangezogenen Unternehmensentwicklungsmodellen. Dabei wird im Prinzip die Phasenorientierung der Strukturänderungsmodelle übernommen und auf die Organisationsform der Vereine angewendet. Da ein Verein sich auf der übergeordneten Kategorienebene explizit zum Verbleib innerhalb dieser Kategorie entscheiden kann, sind für sämtliche Kategorien jeweils eigene Lebenszyklen mit den vier Phasen Gründung, Wachstum, Reife und Wende differenzierbar. Tab. 8.3 erläutert die typischen Merkmale der vier Entwicklungsphasen.

Tab. 8.3 Entwicklungsphasen für Leichtathletikvereine. (Quelle: Eigene Darstellung)

Phasentypische Krisensituationen sind im Zusammenhang mit der Organisationsform der Vereine weniger relevant, weshalb sie nicht weiter ausgeführt werden. Hinsichtlich typischer phasenbezogener Handlungsempfehlungen bietet sich in Anlehnung an das etablierte St. Galler Managementmodell eine Unterscheidung von normativen, strategischen und operativen Handlungsebenen an (Pümpin & Prange, 1991).

Strukturoptionen für Leichtathletikvereine

Sowohl bei Amateurvereinen wie auch bei teil- oder vollprofessionellen Vereinen ist die Mitgliederversammlung stets das oberste Organ, und der Vereinsvorstand besteht aus mehreren Personen. Nachfolgend wird anhand der unterschiedenen Vereinskategorien auf mögliche Optionen bei der Gestaltung der Aufbauorganisation eingegangen.

Amateurvereine weisen keine professionellen Vereinsstrukturen auf und sämtliche Funktionäre wie auch Trainer*innen engagieren sich ehrenamtlich für den Verein. Abb. 8.3 stellt eine mögliche Ausgestaltung des Organigramms eines Amateurvereins in der Schweizer Leichtathletik dar. Der Vorstand führt direkt die einzelnen Fachbereiche und die Trainer*innen sind dem jeweiligen Fachbereich, Leistungssport oder Nachwuchs, unterstellt.

Abb. 8.3
figure 3

Organigramm für Amateurvereine in der Schweizer Leichtathletik. (Quelle: Eigene Darstellung)

In teilprofessionellen- und vollprofessionellen Vereinen steigt die Aufgabenkomplexität und -vielfalt an, und um diese zu bewältigen, müssen bei professionellen Vereinen deutlich mehr Personen in die Vereinsarbeit involviert sein. Wichtigster Unterschied zu den Amateurvereinen ist das Vorhandensein einer Geschäftsstelle mit bezahlten Mitarbeitenden. Abb. 8.4 zeigt ein mögliches Organigramm für teilprofessionelle- oder vollprofessionelle Vereine.

Abb. 8.4
figure 4

Organigramm für teil- und vollprofessionelle Vereine in der Schweizer Leichtathletik. (Quelle: Eigene Darstellung)

Anders als beim Amateurverein sind die Hierarchieebenen bei einem teil- oder vollprofessionellen Verein getrennt, und es gibt in einzelnen oder jedem Fachbereich eine dritte Ebene, auf welcher die entsprechenden Aufgaben ausgeführt werden. Teil- oder vollprofessionelle Vereine müssen über ein größeres wirtschaftliches Know-how verfügen. Motivations- und Begeisterungsfähigkeit sind allein nicht mehr ausreichend, um einen Verein erfolgreich zu führen. Es braucht eine systematische, zukunfts- und ergebnisorientierte (aber nicht rein monetäre) Führung, die gelernt sein muss (Okun & Hoppe, 2014, S. 83). Oft engagieren sich die Schlüsselpersonen nicht mehr im Ehrenamt, sondern verfügen über ein Teilzeitpensum beim Verein.

Die drei Vereinsklassen unterscheiden sich auch in ihrem Ressourcenbedarf, welcher sich insbesondere bei einem Phasenwechsel verändert. Es können folgende sieben typischerweise für alle Leichtathletikvereine relevanten Ressourcenbereiche unterschieden werden: Finanzen, Personal, Infrastruktur, Mitglieder, Ehrenamt, organisatorisches Know-how und sportliches Know-how. Abb. 8.5 stellt die einzelnen Ressourcenbereiche grafisch dar und zeigt systematisch den vermuteten Ressourcenbedarf auf, welcher bei einem Kategorienwechsel anfällt. Ein Kreuz entspricht einem tiefen und fünf Kreuze einem hohen Ressourcenbedarf. Die Ressourcenbereitstellung kann entweder intern durch strukturelle oder prozessuale Veränderungen oder extern durch Kooperationen/Fusionen aufgebaut werden. Die vorangehenden und diese Übersicht bilden die Grundlage für das konzipierte Reifegradmodell für Leichtathletikvereine.

Abb. 8.5
figure 5

Ressourcenbedarf bei Kategorienwechsel. (Quelle: Eigene Darstellung)

Das Reifegradmodell für Schweizer Leichtathletikvereine in Abb. 8.6 unterscheidet interne und externe Einflussgrößen, wobei der interne Bereich anhand der Vereinskategorien und der jeweiligen Ressourcenbedarfe charakterisiert wird. Den inneren Kern des Modells bilden die beschriebenen Entwicklungsphasen der jeweiligen Vereinskategorien und die erläuterten Ressourcenabhängigkeiten. Diese beiden Aspekte werden im Modell in Bezug zum Professionalisierungsgrad (X-Achse) und Ressourcenbedarf (Y-Achse) gesetzt. Der Ressourcenbedarf wird einerseits durch die wellenförmige Linie im oberen Teil der Darstellung sowie durch die Höhe der Blöcke im unteren Teil dargestellt. Die Einflüsse von spezifischen Umweltfaktoren werden im äußeren Rahmen des Modells abgebildet. Im oberen Teil der X-Achse sind die drei möglichen Ausprägungsformen von Vereinskategorien mit ihren jeweiligen Entwicklungsphasen aufgeführt. Vereine, welche in ihrer Kategorie die Reifephase erlangt haben, können sich für oder gegen eine Entwicklung in die nächsthöhere Phase entscheiden. Der untere Teil der X-Achse dient der grafischen Darstellung des beschriebenen Ressourcenbedarfs. Die Abbildung zeigt hier den Ressourcenbedarf der jeweiligen Vereinskategorie und hat keinen Bezug auf die jeweilige Entwicklungsphase innerhalb der Kategoriezuordnung. Das Ressourcenwachstum ist mit einzelnen Blockelementen symbolisch dargestellt. Die Trennlinien innerhalb der Blockelemente (rot) zeigen auf, welche Ressourcen in dieser Kategorie entwickelt werden müssen. Die farbliche Hervorhebung der Balken (dunkelblau), verdeutlicht zudem, bei welchen Ressourcen die Investitionen vermutlich am größten ausfallen müssen.

Abb. 8.6
figure 6

Reifegradmodell für Leichtathletikvereine. (Quelle: Eigene Darstellung)

Sind die Ressourcen passend zur Entwicklungsphase vorhanden, kann die Professionalisierung erfolgreich stattfinden. Abb. 8.7 zeigt das Zusammenspiel von Umweltfaktoren und vereinsinternen Faktoren in Bezug auf die Professionalisierung grafisch auf.

Abb. 8.7
figure 7

Einflussparameter auf die Professionalisierung und resultierende Gestaltungsperspektiven. (Quelle: Eigene Darstellung)

Um das Modell empirisch fundieren zu können, wurden auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse für das weitere Vorgehen drei zentrale Leitthesen erstellt:

  1. 1.

    Leitthese 1: Leistungs- und Wettkampfvereine können nur durch Teil- oder Vollprofessionalisierung die Komplexität und Vielfalt der anfallenden Vereinstätigkeiten in der geforderten Qualität bewältigen.

  2. 2.

    Leitthese 2: Die Finanzierungsstrukturen heutiger Leichtathletikvereine erlauben keine langfristigen wiederkehrenden Zusatzausgaben, um Maßnahmen zur Erhöhung der Professionalisierung umzusetzen

  3. 3.

    Leitthese 3: Leichtathletikvereine mit vielen Mitgliedern und einer großen Nachwuchsabteilung haben eher Schwierigkeiten, eine genügende und richtige Infrastruktur in der Umgebung zu finden.

8.3 Empirische Untersuchung

Im Rahmen der empirischen Untersuchung werden die eingangs gestellten Forschungsfragen auf Grundlage der konzeptionellen Analyse und des generierten Modells, respektive der zusätzlich gestellten Leitfragen aufgegriffen. Die Beantwortung der Forschungsfragen soll neben der empirischen Fundierung des Entwicklungsmodells auch zu praktischen Handlungsempfehlungen für Leichtathletikvereine auf dem Weg zur Professionalisierung führen.

8.3.1 Forschungsdesign

Zur Beantwortung der eingangs gestellten Forschungsfragen F1 (Frage nach relevanten Umweltfaktoren), F2 (Frage nach unterscheidbare Reifegradphasen) und F3 (Frage nach Transformationsmaßnahmen und -herausforderungen) wurde neben der konzeptionellen Analyse ein qualitatives Forschungsdesign gewählt.

Das zuvor aufgezeigte Reifegradmodell bildet weitestgehend die Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfrage F2. Die bei der empirischen Erhebung durchgeführten zehn Expert*inneninterviews fokussieren auf eine Beantwortung der Fragen F1 und F3. Die Expert*inneninterviews gehören zu den etabliertesten Instrumenten der qualitativen Sozialforschung. Es handelt sich dabei um eine, auf einem Interviewleitfaden gestützte, Befragungsmethodik (Lamnek & Krell, 2016, S. 333–338). Im Zusammenhang mit der Beantwortung der relevanten Forschungsfragen eignet sich die qualitative Vorgehensweise besonders deshalb, weil mittels ihr Situationen oder Prozesse rekonstruiert werden können, und dadurch sozialwissenschaftliche Erklärungen ableitbar werden. Die Expert*innen können damit ihr in einem spezifischen Themenbereich vorhandenes Fachwissen und ihre persönlichen Erfahrungen weiteren Personen zugänglich machen (Gläuser & Laudel, 2019, S. 12–14).

Für die insgesamt zehn ca. einstündigen Interviews wurden drei Kategorien von Expert*innen definiert: Athlet*innen (2 Interviews), Vertreter*innen der Vereine (7 Interviews) und ein Vertreter des Schweizerischen Leichtathletikverbandes. Tab. 8.4 zeigt eine Auflistung der befragten Expert*innen.

Tab. 8.4 Interviewpartner*innen der qualitativen Befragung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Bei der Durchführung der Interviews im April 2021 diente ein in fünf Kapitel (Ehrenamt, Finanzen, Infrastruktur, Professionalisierung und Umweltfaktoren) gegliederter strukturierter Interviewleitfaden als Orientierungsbasis. Der Leitfaden wurde nach einem Probeinterview optimiert. Aufgrund der im Befragungszeitraum anhaltenden Pandemie-Situation, mussten drei der zehn Interviews virtuell durchgeführt werden. Die virtuelle Durchführung hatte einen Einfluss auf die Länge der Interviews, weil die Antworten tendenziell kürzer ausfielen. Zur wissenschaftlichen Weiterverarbeitung sind sämtliche Audio-Dateien wortwörtlich transkribiert worden. Für die thematische Systematisierung und Bündelung der Aussagen wurden die Transkripte mithilfe des Forschungstools Atlas TI codiert und anschließend ausgewertet.

8.3.2 Empirische Ergebnisse

Nachfolgend werden die wichtigsten Ergebnisse für jedes analysierte Themenfeld zusammengefasst.

Themenbereich 1: Ehrenamt

Sämtliche Expert*innen der interviewten Vereine weisen darauf hin, dass sie auf Unterstützung ehrenamtlicher Funktionäre sowie Trainer*innen angewiesen sind. Kein Verein verfügt über ausreichend finanzielle Mittel, um sämtliche Positionen in einem Anstellungsverhältnis anbieten zu können. Dies wurde aber auch in keinem Verein als erstrebenswert erachtet, da der Sport von Menschen lebe, welche mit Herzblut und Leidenschaft dabei seien und nicht aufgrund von finanziellen Entschädigungen (Interview D: ID 10.57). Die ehrenamtlichen Vereinsmitglieder stießen, insbesondere in Amateurvereinen, je länger je mehr an ihre Grenzen, die Aufgabenkomplexität nehme zu, und es werde immer schwieriger, die Menschen für diese Aufgaben zu motivieren (Interview F: ID 9.11; Interview D: ID 10.64). Dazu komme, dass die Arbeitsbelastung, insbesondere unter Trainer*innen, immens hoch sei, und immer seltener die richtigen Leute gefunden werden, welche bereit sind, sich ehrenamtlich in einem Verein zu engagieren (Interview E: ID 3.23; Interview I: ID 4.5).

„Es gibt über den Daumen geschlagen, würde ich jetzt mal sagen, eine 50 Prozent-Stelle“ (Interview F: ID 9.11).

„Sie werden irgendwann keine Leute mehr finden, die noch bereit sind, so zu arbeiten“ (Interview D: ID 10.64)

Themenbereich 2: Finanzen

Auf der Einnahmenseite weisen kleine und mittlere Vereine eine sehr ähnliche Struktur auf und finanzieren sich mehrheitlich durch kantonale oder kommunale Subventionen, Jugend + Sport-Gelder des Bundes, Mitgliederbeiträge und kleinere Sponsoring-Beträge (Interview E: ID 3.28; Interview H: ID 11.23; Interview F: ID 9.26). Größere oder bereits teilprofessionalisierte Vereine verfügen zusätzlich über ein Sponsoring-Management oder Anlässe, welche zusätzliche Mittel abwerfen (Interview D: ID 10.32; Interview C: ID 8.18).

Auf der Ausgabenseite bestätigen die Expert*innen, dass Schweizer Leichtathletikvereine unabhängig von ihrer Größe und ihres Professionalisierungsgrads über ähnliche Ausgaben verfügten. Dazu gehörten Verbandsbeiträge, Ausgaben für Trainer*innen und Funktionäre, Infrastrukturmieten, Startgelder, Trainingslagerbeiträge und Materialausgaben. Bei teilprofessionalisierten Vereinen kommen Ausgaben für Löhne und Prämien dazu, welche einen Großteil der Ausgaben ausmachen (Interview C: ID 8.28).

Insgesamt bestätigen die Interviewpartner*innen, dass die finanzielle Lage bei Leichtathletikvereinen zum aktuellen Zeitpunkt gut aussehe und die Pandemie-Situation keinen größeren Schaden verursacht habe.

„Wir haben so ein bisschen den Frieden, dass genug Geld da ist, um auch mal ein bisschen einfach Sachen zu probieren“ (Interview C: ID 8.51).

Themenbereich 3: Infrastruktur

Während die Infrastrukturbereitstellung in allen Vereinen relativ gleich aussieht, unterscheiden sich die Bedürfnisse in Bezug auf die Infrastrukturnutzung zwischen den einzelnen Leichtathletikvereinen. Außer kleineren Räumen für das Krafttraining (Kraftraum), welche die Vereine individuell besitzen, gehören sämtliche Sportanlagen den Gemeinden, Kantonen oder dem Bund. Diese sind für die Vergabe wie auch die Qualitätssicherung der Anlagen verantwortlich. Vereine haben nur beschränkte Möglichkeiten, individuelle Wünsche umzusetzen. Eine Möglichkeit bietet zum Beispiel das für Sportvereine geschaffene Modell der nationalen Sportanlagen (NASAK):

„Es gibt Sportanalgen, die fallen so bei nationalen Sportanlagen. Es heißt NASAK, abgekürzt NASAK Sportanlagen“ (Interview D: ID 6.16).

Zusammenfassend teilen aber die Expert*innen die Haltung, dass, sobald der Verein über einen Zugang zu einem Leichtathletikstadion verfügt, genügend Platz für die Trainings vorhanden sei. Einzige Ausnahme bilden die Berner Stadtvereine, bei welchen es an gewissen Wochentagen an den Abenden zu Engpässen kommt (Interview D: ID 10.42). Im Winter sehe es allerdings etwas anders aus. Da im Leistungsbereich Trainings-Indoor-Anlagen einen festen Bestandteil darstellen, haben insbesondere Vereine, welche nicht aus den Zentren stammen, Mühe einen Platz in einer solchen Anlage zu bekommen. Insbesondere am Abend gibt es keine freien Anlageteile mehr (Interview G: ID 12.29).

Themenbereich 4: Professionalisierung

Die Expert*innen sind sich einig, dass die Ansprüche der Athlet*innen (individualisierte Trainingspläne, Trainingslager, finanzielle Unterstützungen etc.) insbesondere im Hochleistungsbereich in den letzten Jahren gestiegen sind und zu einer hohen Arbeitsbelastung der Trainer*innen führten (vgl. z. B. Interview B: ID 1.20).

Die Frage, was einen professionellen Verein auszeichnet, wurde von den Expert*innen differenziert beantwortet. Unterschieden wurde zwischen den strukturellen und inhaltlichen Besonderheiten. Eine Teil- oder Vollprofessionalisierung bedinge, dass die Vereinsstrukturen wachsen und sich den neuen Strukturen anpassen müssten:

„Das war nur möglich, indem die Strukturen auch mitgewachsen sind“ (Interview D: ID 10.51).

Unter den Bereich der strukturellen Anpassungen fällt auch das Entschädigungsmodell. Die Expert*innen sind sich einig, dass eine Teil- oder Vollprofessionalisierung die Bezahlung einzelner Positionen im Hauptamt bedingt. Zahlreiche Vereine orientieren sich auch an den durch Swiss Athletics geschaffenen nationalen Leistungszentren (NLZ) und erhoffen sich dort eine Entlastung der vereinsinternen Strukturen (Interview J: ID 6.33). Weitere Möglichkeiten struktureller Anpassungen, insbesondere im Trainer*innen-Umfeld, bietet das Jobsharing (Interview C: ID 8.62).

Neben den strukturellen Unterschieden gibt es auch Differenzen auf inhaltlicher Ebene. In teil- oder vollprofessionalisierten Vereinen engagieren sich Trainer*innen und Funktionäre, welche über die entsprechenden Ausbildungen verfügen oder sich in ihrem Amt auskennen:

„Leute anstellen, die das Know-how haben, die wissen, wie man dieses kleine Unternehmen jetzt führt“ (Interview D: ID 10.54).

Weiter sind teil- und vollprofessionelle Vereine innovativer und offener für neue Wege (Interview J: ID 6.19, ID 6.20). Zudem erachten die Expert*innen es als zentralen Erfolgsfaktor, wenn ein Verein über eine längerfristige Strategie verfügt (vgl. z. B. Interview D: ID 10.21).

Letzter Schwerpunkt in den Interviews zur Professionalisierung waren die Herausforderungen, welche eine Teil- oder Vollprofessionalisierung mit sich bringt. Folgende Herausforderungen wurden von sämtlichen Expert*innen aufgegriffen: Fehlende finanzielle Mittel, Personalrekrutierung, zurückhaltende Offenheit für Veränderung, ungleiche Behandlung Ehrenamt/Hauptamt und Verlust der Vereinskulturen.

„Und das ist auch das, was man heute so wenig findet. Leute, die wirklich bereit sind, ein bisschen für ihren Traum auch aufzuopfern und auch noch fähig sind“ (Interview I: ID 4.5).

Themenfeld 5: Umweltfaktoren

Der Befragungsblock zu den Umweltfaktoren beinhaltet die Themenbereiche Konkurrenz, gesellschaftlicher Wandel und regulatorische Rahmenbedingungen. Im Bereich der Konkurrenz wurde von verschiedenen Expert*innen darauf hingewiesen, dass eine Professionalisierung des Vereins unabhängige Trainingsmöglichkeiten inkludiere, damit die besten Athleten einer Disziplin gemeinsam trainieren können (Interview D: ID 10.71). Verfügt der Trainingsleitende zudem über eine Berufstrainerausbildung erfolgt eine Bezahlung durch den Verband:

„Und wir haben das dem gleichgestellt, dass dies der BTA ist, der Berufstrainer, innerhalb von Swiss Olympics. Das ist diese Ausbildung, die eigentlich verlangt wird“ (Interview J: ID 6.35).

Gemäß der Befragten trage ferner der gesellschaftliche Wandel dazu bei, dass eine Teil- oder Vollprofessionalisierung der Vereine immer öfters verlangt und notwendig werde. Auf Vereinsseite sei es immer schwieriger, Personen zu finden, welche mehrmals die Woche am Abend zur Verfügung stehen, ohne dafür eine ordentliche Entlohnung zu erhalten (vgl. z. B. Interview I: ID 4.63).

Ergebnisse im Kontext des Reifegradmodells

Die Ergebnisse der Expert*inneninterviews bestätigen, dass das erstellte Reifegradmodell grundsätzlich auf die Schweizer Leichtathletikvereine übertragbar ist. Sie unterstützen die enthaltenen Annahmen zur Wichtigkeit der aufgeführten Ressourcen sowie zum Anstieg des Ressourcenbedarfs bei einem Wechsel in die nächsthöhere Kategorie. Leichte Anpassungen in der grafischen Darstellung scheinen in Bezug auf den Kurvenverlauf beim Kategorienwechsel angezeigt. Im konzipierten Modell wurde davon ausgegangen, dass der Ressourcenbedarf nach der Wachstumsphase abnimmt und erst wieder in der nächsten Kategorie ansteigt. Die Expert*innen wiesen darauf hin, dass diese Vermutung nicht zutreffe und der Ressourcenbedarf in einer Kategorie nicht abnehme, sondern es lediglich zur Verschiebung der Kräfte auf andere Schwerpunkte komme. Zudem gäbe es hinsichtlich des organisatorischen Know-hows bereits im Kategorienwechsel vom Amateur- zum teilprofessionellen Verein einen höheren Ressourcenbedarf, da es in der Leichtathletik keine vollständig professionalisierten Vereine gebe. Weiter waren sich die Expert*innen einig, dass der Professionalisierungsgrad in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Mitgliederzahl stehe. Vereine mit mehr Mitgliedern hätten eine höhere Reputation sowie eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, unter den Mitgliedern ein Talent zu haben. Bei den Personalressourcen und dem Umfang ehrenamtlicher Tätigkeiten in Amateur-Kategorien stellte sich heraus, dass offenbar bereits in Amateurvereinen ein großer Personalbestand notwendig ist, und der Umfang der ehrenamtlichen Tätigkeiten gegenüber einem teilprofessionalisierten Verein nicht um ein Mehrfaches kleiner ist. Eine weitere Modifikation des Entwicklungsmodells ergibt sich bezüglich des erforderlichen Infrastrukturausbaus im teilprofessionalisierten Umfeld. Beim Modellentwurf wurde davon ausgegangen, dass der Ressourcenbedarf bei der Infrastruktur von der Teil- zur Vollprofessionalisierung nochmals deutlich ansteigt. Die Interviews haben aber ergeben, dass Amateurvereine mit einem Leistungsfokus ähnliche Infrastrukturanforderungen haben wie die teilprofessionalisierten Vereine. Auf Basis dieser Erkenntnisse wird das Modell adaptiert. Das leicht modifizierte Reifegradmodell für Leichtathletikvereine ist in Abb. 8.8 dargestellt.

Abb. 8.8
figure 8

Modifiziertes Reifegradmodell für Leichtathletikvereine. (Quelle: Eigene Darstellung)

Beantwortung der Forschungsfragen

Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus der empirischen Befragung können die Forschungsfragen nachfolgend abschließend beantwortet werden.

Forschungsfrage 1 (F1): Welche Faktoren tragen dazu bei, dass eine strukturelle Veränderung der Vereinsstrukturen in Richtung Professionalisierung unabdingbar wird?

Maßgebend zur Notwendigkeit struktureller Veränderungen in Richtung Professionalisierung beigetragen hat, dass die Vielfalt und die Komplexität der anfallenden Aufgaben in den Vereinen sich in den letzten Jahren stark erhöht hat. Dazu gehören die administrativen Aufwände wie Bewirtschaftung von Social Media-Kanälen, der Websites, aber auch die erhöhten Ansprüche der Verwaltungen für Subventionsgesuche oder Reservationen von Infrastrukturen. Weiterhin müssen sich die Leichtathletikvereine mit gestiegenen sportlichen Aufwänden wie individualisierte Trainingspläne oder berufliche oder schulische Zukunftsplanung auseinandersetzen. Zudem müssen sich die Trainer*innen verstärkt mit Präventionsthemen, wie Alkohol, Do**, sexuellen Übergriffen oder Mobbing auseinandersetzen. Weiter stellt die Gewinnung von qualifiziertem Personal eine zentrale Schwierigkeit der heutigen Vereine dar. Der gesellschaftliche Wandel hat dazu beigetragen, dass das Vereinsleben an Bedeutung verloren hat, und die Ausübung von ehrenamtlichen Tätigkeiten an Ansehen eingebüßt hat. Letzter maßgebender Punkt ist der Wandel bei den Arbeitgebern, welche eine immer größere Flexibilität ihrer Mitarbeitenden fordern, weshalb viele sich nicht für eine regelmäßige Vereinstätigkeit verpflichten können.

Forschungsfrage 2 (F2): Wie sehen vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen im Leichtathletiksport mögliche Reifegradphasen einer strukturellen Professionalisierung aus, welche ein Verein in seinem Lebenszyklus durchläuft, und welches sind die typischen Eigenschaften dieser einzelnen Phasen?

Die Beantwortung der zweiten Forschungsfrage stützt sich stark auf die Erkenntnisse der Analyse der Phasenmodelle profitorientierter Organisationsformen, die in ihrer einfachsten Ausprägung für die Organisationsform der Vereine übernommen wurden. Der Lebenszyklus eines Vereins kann in Analogie zur Unternehmenswelt, unabhängig von der Größe und dem Professionalisierungsgrad in eine Gründungs-, Wachstums-, Reife- und Wendephase unterteilt werden. Während in den ersten Phasen das Hauptziel ist, auf sich aufmerksam zu machen und Mitglieder zu gewinnen, stehen in den Folgephasen die Festigung und Optimierung von Aufbaustrukturen und Ablaufprozessen und die Leistungssteigerung der Athlet*innen im Vordergrund. In der letzten Phase geht es darum, auf die sich verändernden Umweltbedingungen einzugehen, und sich über weitere Professionalisierungsschritte langfristig gegen die Konkurrenz zu behaupten und letztlich zu überleben.

Forschungsfrage 3 (F3): Wie müssen die Maßnahmen der Leichtathletikvereine konkret bei einem Phasenwechsel, respektive einem strukturellen Wandel aussehen, und welche Herausforderungen ergeben sich hierbei?

Ein erfolgreicher Phasenwechsel bedeutet vor allem, optimal auf diesen vorbereitet zu sein. Dies beinhaltet einerseits eine entsprechende Mentalität der Vereinsmitglieder, welche offen für einen Wandel sein müssen, und andererseits Vereinsstrukturen, die einen Wandel zulassen. Viele Leichtathletikvereine in der Schweiz lassen sich reifegradbezogen der Kategorie der Amateurvereine zuordnen. Ein Schritt in Richtung Teilprofessionalisierung könnten für diese Vereine zu personeller und struktureller Entlastung führen. Ein solcher Schritt bedingt Anpassungen auf unterschiedlichen Ebenen und zieht spezifische Ressourcenbedarfe nach sich. Eine der größten Herausforderungen ist dabei der Aufbau des hierfür erforderlichen organisationalen und sportlichen Know-hows. Die Vereinsfunktionäre müssen sich damit auseinandersetzen, wie eine Organisationseinheit professioneller geführt werden kann und die Vereinsstrukturen bedarfsabhängig mit zusätzlichen Stellen (Geschäftsstelle, Sekretariat) ergänzen. Um den wachsenden Ansprüchen der Athlet*innen gerecht zu werden, ist eine Bezahlung im Teilpensum in den relevanten Positionen für die meisten Vereine voraussichtlich zukünftig nicht zu vermeiden. Zudem resultiert ein höherer Personalbedarf auch in quantitativer Hinsicht. Sofern eine Reifegradveränderung in Richtung teilprofessioneller Verein angestrebt wird, muss auch die Mitgliederzahl hinreichend sein und gegebenenfalls ausgebaut werden. Nur durch eine ausreichend hohe Mitgliederzahl können die finanziellen Mittel und die sportlichen Erfolge, welche Vereine mit dem Reifegrad „Teilprofessionell“ benötigen, realisiert werden. Die bedeutendsten Herausforderungen beim Professionalisierungsschritt vom Amateurverein zum teilprofessionalisierten Verein dürften die Rekrutierung von ausreichend Personal, die Bereitstellung genügend finanzieller Mittel sowie die Überwindung vereinsinterner Grenzen sein (Offenheit für Veränderung).

8.3.3 Case-Study: Modellanwendung und Handlungsempfehlungen für den TV Länggasse

Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen einer Fallstudie auf den Berner Leichtathletikverein TV Länggasse zur Veranschaulichung angewandt. Der Verein kann aktuell noch der Reifegradkategorie der Amateurvereine zugeordnet werden, stößt aber aufgrund der steigenden Aufgabenvielfalt und -komplexität strukturell und führungsseitig zunehmend an seine Grenzen. Alle Funktionäre und Trainer*innen engagieren sich ehrenamtlich und die Athlet*innen erhalten keine Entschädigungen in Form von Gehaltszahlungen. Auf der inhaltlichen Ebene weist der TV Länggasse bereits einige Eigenschaften eines teilprofessionalisierten Vereins auf. Zum Beispiel bietet er Trainingsmöglichkeiten tagsüber, oder vereinsübergreifend an. Zudem verfügen einige Trainer*innen bereits über eine höhere Trainerausbildung. Der TV Länggasse kann auf eine langjährige Vereinsgeschichte zurückschauen und verfügt über 500 Mitglieder mit weiterhin steigender Tendenz. Aufgrund der vielen Mitglieder und der begrenzten Personalressourcen weisen die Trainingsgruppen teilweise Größen auf, welche die optimalen Teilnehmerzahlen überschreiten, was zu Qualitätseinbußen und hohen Arbeitsbelastungen bei den Trainer*innen und Funktionären führt. Aufgrund dieser Merkmale lässt sich der TV Länggasse als Amateurverein mit teilprofessionalisierter Tendenz hinsichtlich des Lebenszyklusses der Reifephase zuordnen.

Konsequenzen für die Strukturgestaltung – Handlungsempfehlungen

Um die hohe Arbeitsbelastung einzelner Vorstandsmitglieder und Trainer*innen zu reduzieren, empfiehlt es sich für den TV Länggasse, den nächsten Schritt zur Teilprofessionalisierung zu gehen. Dies bedingt eine Veränderung in der Strukturgestaltung, der Kultur, aber auch beim Ressourcenaufbau. Über verschiedene Maßnahmen kann auf diese Gestaltungsbereiche eingewirkt werden: Eine erste Möglichkeit bietet die Einführung von Projektgruppen oder Stabstellen, d. h. die Personalressourcen und ehrenamtlich beschäftigte Mitglieder sollten in dem Fall ausgeweitet werden. Ferner könnten einzelne Schlüsselpersonen im Hauptamt angestellt werden, was vor allem den Aufbau von organisatorischem und sportlichem Know-how ermöglicht. Der TV Länggasse will auch künftig nicht nur ein Verein mit einer starken Nachwuchsabteilung sein, sondern auch im Leistungssport (inter-)nationale Topathlet*innen betreuen. Dies gelingt nur dann, wenn Beruf oder Schule und Sport optimal koordiniert werden und den Athlet*innen die bestmöglichen Trainings angeboten werden. Dies ist wiederum mit einer erhöhten Arbeitsbelastung für die Betreuenden und Funktionäre verbunden. Denkbar wären in diesem Zusammenhang vereinsübergreifende Trainingsangebote, was auch Wirkungen auf die Vereinskultur nach sich ziehen dürfte, respektive eine Veränderung auf Ebene der Vereinswerte voraussetzen würde. Der TV Länggasse teilt die Berner Infrastrukturen mit zwei anderen Leistungssportvereinen, was bereits jetzt eine sehr gute Voraussetzung für vereinsübergreifende Trainings bieten würde. Trainer*innen sowie Athlet*innen müssten sich bei Umsetzung dieser Maßnahme teilweise von einem engen Vereinsdenken lösen und bereit sein, über die Vereinsgrenzen hinaus zu arbeiten. Für den TV Länggasse ist auch bei einer weiteren Teilprofessionalisierung zentral, dass er auch in Zukunft auf eine breite Nachwuchsförderung setzt. Die Nachwuchsförderung ist ein wichtiges Fundament für strukturelle und kulturelle Weiterentwicklungen und ein Wachstum der Vereinsmitgliederzahlen mit entsprechenden positiven Auswirkungen auf die finanzielle Situation und die Möglichkeit, auch zukünftig noch Mitglieder für ein Ehrenamt zu gewinnen.

Chancen und potenzielle Problemfelder der Umsetzung

Eine Teilprofessionalisierung brächte dem TV Länggasse Vorteile in verschiedenen Bereichen. Sie ermöglicht eine Reduktion der Aufgabenvielfalt durch Anstellungen im Hauptamt oder in Projektteams. Eine Teilprofessionalisierung erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit des sportlichen Erfolgs der Athlet*innen aufgrund optimierter Trainingsmöglichkeiten. Ferner werden über eine Teilprofessionalisierung und die damit verbundene Ressourcenoptimierung neue Möglichkeiten zur Gewinnung von Gönnern und Sponsoren erschlossen. Das potenziell höhere Leistungsniveau der Sportler*innen im Verein würde auch die Attraktivität des Vereins nach innen und außen und dessen Image verbessern.

Eine weitere Professionalisierung brächte aber auch neue Herausforderungen mit sich. Die typische Vereinskultur wird im TV Länggasse sehr hoch bewertet und ist ein wichtiges Merkmal des Vereins. Viele ehrenamtliche Personen engagieren sich aufgrund der positiven Vereinskultur für den Verein, die durch die strukturellen und personellen Maßnahmen nicht gefährdet werden sollte. Eine weitere Herausforderung der Teilprofessionalisierung brächte die Integration des Breitensports in den neuen Vereinsstrukturen mit sich. Auch bei teilprofessionalisierten Strukturen ist es wichtig, den Spagat zwischen dem Leistungs- und dem Breitensport zu schaffen. In finanzieller Hinsicht sind zunächst einmal budgetseitig höhere Investitionen und Kostenansätze erforderlich, bevor mittelfristig aufgrund der höheren Professionalisierung neue Sponsorengelder erschlossen werden können.

8.4 Fazit/Handlungsempfehlungen

Aufgrund der steigenden Arbeitsbelastung und des sportlichen Leistungsdruckes ist für viele Amateurvereine im Leichtathletiksport ein Reifegradwechsel in Richtung Teilprofessionalisierung eine zu prüfende Option. Dies bedingt einen Ausbau des organisationalen und sportlichen Know-hows, der Mitgliederzahlen, des Personalbestands und der finanziellen Mittel. Die Ergebnisse der konzeptionellen und empirischen Analyse zeigen, dass die Herausforderungen bei einem professionalisierungsgerichteten Reifegradwechsel für viele Amateurvereine ähnlich ausfallen dürften: Fehlendes Personal, veraltete Vereinsstrukturen und ein Mehrbedarf an finanziellen Mitteln. Eine Teilprofessionalisierung geht ferner mit Risiken einher, die im Einzelfall auch diesen Entwicklungsschritt grundsätzlich infrage stellen können: Potenzielle Konflikte zwischen ehrenamtlich und hauptamtlich engagierten Personen, der Verlust der Vereinstraditionen sind hier die meistgenannten Risiken.

Das hier entwickelte Reifegradmodell gibt eine erste Orientierung und ermöglicht die Ableitung von sechs ressourcenbezogenen, strukturellen und kulturellen Handlungsempfehlungen für Vereine, die sich in Richtung (Teil-)Professionalisierung weiterentwickeln möchten:

  1. 1.

    Fachbereiche durch Projektgruppen oder Stabstellen ergänzen: Durch die Ergänzung der Fachbereiche um Projektgruppen, welche sich spezifischen und zeitlich begrenzten Projekten widmen, kann die Arbeitsbelastung der Vorstandsmitglieder reduziert werden. Zudem bringen Projektgruppen die Chance mit sich, dass neue Ideen durch sonst außenstehende Personen die Entwicklung des Vereins positiv beeinflussen.

  2. 2.

    Arbeitsteilung/Jobsharing: Da es immer schwieriger wird, Personen zu finden, welche sich im Verein engagieren und deren zeitliche Belastung im Einklang mit Beruf oder Familie zu bringen, bietet die Einführung von geteilten Ämtern eine weitere Option zur strukturellen Förderung der Professionalisierung. Die Arbeitsbelastung für den Einzelnen reduziert sich, die Verantwortung kann geteilt werden und eine geteilte Arbeit ermöglicht eine größere Flexibilität, berufliche und private Verpflichtungen mit denjenigen des Vereins abzustimmen.

  3. 3.

    Anstellung einzelner Schlüsselpersonen im Hauptamt: Um einen Verein im teilprofessionellen Umfeld zu führen, müssen einzelne Schlüsselpositionen einen stark höheren zeitlichen Aufwand betreiben, damit die nötige Qualität gewährleistet werden kann. Eine Anstellung im Teilpensum ist hier die primäre Möglichkeit einen Ausgleich zu schaffen. Durch die vertraglichen Bedingungen im Hauptamt, ist zugleich eine wichtige Grundlage zur Qualitätssicherung gewährleistet.

  4. 4.

    Vereinsübergreifende Trainingsangebote: Um den sportlichen Erfolg zu steigern, bietet es sich an, den Leistungsathlet*innen vereinsübergreifende Trainings zu ermöglichen. Dies erlaubt eine Konzentration des (geteilten) Wissens auf einzelne Personen. Gleichzeitig profitieren die Athlet*innen von einer gesunden, leistungsfördernden Konkurrenzsituation während der Trainings.

  5. 5.

    Auf einen breiten Nachwuchs setzen: Eine breite Nachwuchsförderung ist eine wichtige Voraussetzung für Leichtathletikvereine, die langfristig eine erfolgreiche Professionalisierung anstreben. Der Nachwuchs ist nicht nur ein wichtiges Aushängeschild für die Vereine und steigert deren Bekanntheit, sondern stellt für den Verein auch eine wichtige Einnahmequelle für die Zukunft dar. Zudem ist ausreichender eine Voraussetzung für die künftige Rekrutierung von Funktionären im Verein. Dies können die Athlet*innen selbst sein, wenn sie ihre sportliche Karriere beendet haben, oder die Eltern, die ihre Kinder auf ihrem sportlichen Weg begleiten wollen.

  6. 6.

    Vereinsfusionen: Die ersten fünf Handlungsempfehlungen knüpfen an vereinsinternen Aspekten an. Bei einer Fusion wird Professionalisierung über die Vereinsgrenze hinaus über externes Wachstum angestoßen. Die für den Reifegradwechsel erforderlichen zusätzlichen Ressourcen können auch durch den Zusammenschluss von einzelnen Vereinen realisiert werden. Allerdings geht dies in erhöhtem Maße mit der Gefahr eines Identitätsverlusts und kultureller Prägungen einher, sodass diese Maßnahme eine sorgfältige Vorbereitung erforderlich macht.

Eine Umsetzung der hier angeführten Maßnahmen zur (Teil-)Professionalisierung bedingt in einem ersten Schritt, dass der aktuelle Vorstand diese der Mitgliederversammlung erläutert und genehmigen lässt und anschließend in einem strategischen Entwicklungsplan bündelt. Dies gilt auch für den in der Fallstudie angeführten Berner Leichtathletikverein TV Länggasse. Über die Fallstudie hinaus scheint das entwickelte Reifegradmodell vor dem Hintergrund der bisherigen empirischen Analyse und der kontingenztheoretischen Verankerung auch bei anderen Leichtathletikvereinen, und gegebenenfalls auch in anderen Sportarten, als richtungsweisender Kompass für eine strategische Weiterentwicklung der Vereinsstrukturen anwendbar zu sein.