Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse dieser Arbeit dargestellt und diskutiert. Dafür werden die Ziele und die zugrunde liegende Vorgehensweise dargestellt, der eigene Beitrag präsentiert und die Ergebnisse diskutiert. Im Anschluss werden Limitationen beschrieben und Folgerungen für die Wissenschaft und die Praxis gezogen.

7.1 Diskussion zur Systematisierung der didaktisch orientierten Rekonstruktion

Das erste Ziel war die Systematisierung einer didaktisch orientierten Rekonstruktion (als eine stoffdidaktische Analyse) zur Strukturierung eines mathematischen Inhalts ausgehend vom Kern des Inhalts mit dem Ziel, normative Aussagen über Wissensinhalte für Lehrkräfte generieren zu können. Sichtbar gemacht wurde selten der Prozess einer stoffdidaktischen Methode. In vielen Arbeiten wurden anstattdessen die Ergebnisse der Durchführung präsentiert, sodass die Methoden nicht offengelegt wurden. Deshalb wurde ausgehend von Kirschs (1977) Elementen des Zugänglichmachens bzw. des Elementarisierens ein Vorschlag zu einer stoffdidaktischen Methode gemacht, welche Biehler und Blum (2016) folgend didaktisch orientierte Rekonstruktion genannt wurde. Die Elemente des Elementarisierens wurden expliziert, erweitert, aktualisiert und theoretisch fundiert. Zunächst einmal wurde die didaktisch orientierte Rekonstruktion um die Beschreibung des Ziels und der Zielgruppe und um eine mögliche Einteilung des mathematischen Inhalts erweitert. Diese ermöglicht es, die Methode mit Blick auf das Ziel und die Zielgruppe durchzuführen.

Anschließend wurden die Elemente von Kirsch (1977) genutzt, um dem Teilprozess der Didaktisierung eine Struktur zu geben. Der erste Schritt betrachtet den mathematischen Kern des Inhalts. Dieser Schritt wurde durch die Beschreibung der Vorgehensweise ergänzt und exemplarisch mit theoretischen Bezügen belegt. Analog wurde bei der Integration des Bezugssystems (Schritt 2) und der Betrachtung des benötigten Vorwissens (Schritt 3) verfahren. Im vierten Schritt wurden die verschiedenen Darstellungsebenen durch das Miteinbeziehen der Grundvorstellungen aktualisiert und erweitert, die Vorgehensweise wurde beschrieben und mit theoretischen Bezügen belegt. Die grundlegenden didaktischen Konzepte (Schritt 5) wurden von Kirsch (1977) nicht näher beschrieben. Dieser Schritt gibt der durchführenden Person die Möglichkeit, themen-, zeit- und kulturspezifisch didaktische Konzepte hinzuzufügen, um diese kontextabhängig zu betrachten. Exemplarisch wurden Beispiele theoretischer Bezüge hinzugefügt, um die Vielfalt didaktischer Möglichkeiten aufzeigen zu können.

Für den Teilprozess der Rekonstruktion wurden Elemente der didaktischen Rekonstruktion nach Kattmann et al. (1997) übertragen. Deren Kategorien der didaktischen Strukturierung wurden für die Methode der didaktisch orientierten Rekonstruktion adaptiert, sodass die Methode zunächst ohne erhobene Vorstellungen der Zielgruppe auskommt. Eine Anschlussfähigkeit zu den Kategorien von Kattmann et al. (1997) wurde trotzdem hergestellt, indem Vorstellungen beispielsweise bei der Betrachtung des benötigten Vorwissens miteinbezogen werden können. Diese didaktisch orientierte Rekonstruktion kann also genutzt werden, um ausgehend von einem mathematischen Sachverhalt zu didaktisieren und zu rekonstruieren. Mathematische Sachverhalte können also für verschiedene Ziele (wie z. B. Generierung von Wissenselementen) aufbereitet werden.

Es lassen sich folgende Ergebnisse auch unter Berücksichtigung der durchgeführten exemplarischen, didaktisch orientierten Rekonstruktion festhalten:

(1) Eine stoffdidaktische Methode wurde systematisiert.

Durch die Beschreibung der Vorgehensweise und der exemplarischen, theoretischen Belege konnte eine Systematik hergestellt werden. Eine Systematisierung stoffdidaktischer Analysen in dieser Form mit theoretischen Belegen ist neu. Die genutzte Strukturgebung durch die Arbeiten von Kirsch wurde mit didaktischen Konzepten aktualisiert, erweitert und mit theoretischen Bezügen belegt sowie um einen rekonstruktierenden Teilprozess erweitert. Kirschs (1977) Arbeiten wurden zuvor für Analysezwecke herangezogen, um einzelne Aspekte der Mathematikdidaktik zu analysieren (s. dazu u. a. Biehler & Blum, 2016; Buchholtz, Schwarz & Kaiser, 2016; Allmendinger, 2016). Der Ansatz in der vorliegenden Arbeit zielt wiederum darauf ab, eine universelle stoffdidaktische Methode zu systematisieren, welcher als gelungen bezeichnet werden kann.

(2) Mithilfe der didaktisch orientierten Rekonstruktion lassen sich normative Aussagen generieren.

Die didaktisch orientierte Rekonstruktion eröffnet Möglichkeiten in einer strukturierten Art und Weise normative Aussagen zu generieren. Dafür wird abhängig von der Zielsetzung und -gruppe die Didaktisierung durchgeführt, um einen Überblick über den zu betrachtenden mathematischen Inhalt zu erhalten. Mithilfe dieses Überblicks können innerhalb des Teilprozesses der Rekonstruktion im Anschluss unter Berücksichtigung der Kategorien normative Aussagen getroffen und begründet werden.

(3) Der Prozess innerhalb einer stoffdidaktischen Analyse ist offengelegt. Der Prozess normativer Entscheidungen lässt sich transparenter darstellen.

Wie in Kapitel 4 dargestellt, werden stoffdidaktische Methoden für verschiedene Zwecke, u. a. auch Konzeptualisierungen von Professionswissen für (angehende) Lehrkräfte genutzt. Diese zumeist normativen Entscheidungen wurden scheinbar nicht offengelegt und sind somit unzugänglich für weitere Analysen. Der Vorgehensweise der didaktisch orientierten Rekonstruktion zu folgen, bedeutet eine Offenlegung des Forschungsprozesses. Es wird dadurch nachvollziehbarer, welches Ziel verfolgt wird, auf welche Zielgruppe fokussiert wird und welche fachdidaktischen Grundlagen berücksichtigt werden. Außerdem wird ersichtlicher, welche normativen Entscheidungen im Verlauf der Durchführung getroffen werden. Die Offenlegung der Prozesse innerhalb einer stoffdidaktischen Methode ist demzufolge gelungen.

(4) Die Art der Festlegung und Begründung sowie die Ergebnisse einer didaktisch orientierten Rekonstruktion scheinen abhängig von Thema, Zeit des Durchführens und Entstehens sowie der Kultur der durchführenden Person(en) zu sein. Die Anwendung der Methode ist also kontextabhängig.

Diese Erkenntnis stellt sich bei der Betrachtung der Zielsetzung und beider Teilprozesse Didaktisierung und Rekonstruktion ein. Bei der Zielsetzung können oben genannte Faktoren eine Rolle spielen, indem sie die Wahl des Ziels, die Zielgruppe, aber auch die Einteilung des mathematischen Inhalts beeinflussen. Wenn ein vergleichsweise grober (in Form von großer) mathematischer Inhalt gewählt und er nicht in sehr kleine mathematische Teilbereiche verfeinert wird, weil sich die durchführende Person für eben jenes große Thema zu interessieren scheint, können andere Ergebnisse generiert werden, als wenn feinere mathematische Inhaltsbereiche gewählt werden. Die Art der Begründung und Festlegung des Themas scheint auch von der Zeit der Durchführung abhängig zu sein. Existieren neuere didaktische Konzepte, so finden andere eventuell keine Berücksichtigung mehr. Die Intention dieser Systematisierung war es indes auch, eine gewisse Offenheit zu gewähren, um individuellere Analysen zu ermöglichen. Je nach dem, wie viele Forschungsarbeiten zu dem jeweiligen Inhaltsbereich existieren, können unterschiedliche Ergebnisse erzielt werden. Die Methode an sich ist aber unabhängig davon. Eine Replizierbarkeit bzw. Reproduktion der Ergebnisse ist in diesem Fall fraglich, obwohl die Offenlegung der Vorgehensweise sowie die der transparenteren normativen Entscheidungen zu einer Replizierbarkeit beitragen könnten.

Die in diesem Abschnitt diskutierten Ergebnisse beziehen sich auf das erste Ziel und entsprechen einer wissenschaftstheoretischen Arbeitsweise. Das erste Ziel ist also erreicht. Diese Diskussion betont das Erkenntnisinteresse hinsichtlich der Methode und bezieht sich nur implizit auf die Durchführbarkeit, welche das zweite Ziel exemplarisch hervorhob. Darum soll es im nächsten Abschnitt gehen.

7.2 Diskussion zur exemplarischen Durchführung der didaktisch orientierten Rekonstruktion

Das zweite Ziel war die exemplarische Durchführung der didaktisch orientierten Rekonstruktion, um einen Kanon möglicher Wissenselemente anhand der Gesetze der großen Zahlen identifizieren zu können. Die Methode wurde erprobt. Dazu wurde die didaktisch orientierte Rekonstruktion exemplarisch auf drei Gesetze der großen Zahlen angewendet. Zunächst wurde das Ziel des elementarisierten akademischen Fachwissens für Lehrkräfte im Bereich der Wahrscheinlichkeitsrechnung am Beispiel der Gesetze der großen Zahlen formuliert und in kleinere mathematische Inhalte unterteilt. Auf den ersten Blick könnte zunächst angenommen werden, dass die Gesetze der großen Zahlen keine hohe Relevanz für Lehrkräfte besitzen, weil nur das empirische Gesetz der großen Zahlen in der Schule thematisiert wird und das schwache und starke Gesetz der großen Zahlen keine Anwendung in der Schule finden. Die Gesetze der großen Zahlen wurden als mathematischer Inhalt gewählt, weil hier zwischen schulischer und akademischer Mathematik unterschieden werden kann. Des Weiteren befinden sich die Gesetze der großen Zahlen an der Schnittstelle zwischen schulischer und akademischer Mathematik und sie wurden bisher nur begrenzt fachdidaktisch untersucht. Dies hat die Auswahl des Themas dieser Arbeit beeinflusst, weil somit eine Elementarisierung akademischer Mathematik gezeigt werden konnte. In diesem Fall wurden also das empirische, das schwache und das starke Gesetz der großen Zahlen zunächst separat betrachtet. Anschließend erfolgten drei Durchgänge der Didaktisierung, um zunächst eine strukturierte und ungewichtete Auflistung der Inhalte bezüglich der Gesetze der großen Zahlen zu generieren. Im Anschluss wurde auf Grundlage der Ergebnisse der Didaktisierung die Rekonstruktion durchgeführt. Mit Hilfe der Kategorien wurden die möglichen Wissenselemente formuliert und eine erste Zuordnung zur schulischen Theorie und akademischen Theorie erfolgte. Anschließend wurden die Ergebnisse der Didaktisierungsdurchgänge miteinander verglichen, um Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten zu identifizieren. Dies hatte zum Ziel, verbindende Ideen und vernetzende Wissenselemente zu generieren. Innerhalb der letzten Kategorie der Grenzen wurden diese Wissenselemente den Wissensdimensionen und -arten zugeordnet. Im Anschluss daran wurden mögliche Netze, wie die einzelnen Wissenselemente verbunden werden könnten, exemplarisch anhand von verbindenden Ideen aufgezeigt. Das zweite Ziel ist somit ebenfalls erreicht. Es lässt sich Folgendes resümieren:

(5) Anhand der exemplarischen Durchführung der didaktisch orientierten Rekonstruktion lassen sich mögliche Wissensinhalte für Lehrkräfte der Sekundarstufe I und II bezüglich der Gesetze der großen Zahlen identifizieren.

In Kapitel 6 zeigt sich, dass sich für alle Gesetze der großen Zahlen Wissenselemente identifizieren lassen. Von der Didaktisierung ausgehend wurden Wissenselemente formuliert und der schulischen oder akademischen Mathematik zugeordnet. In diesem Prozess ließen sich bei den Gesetzen der großen Zahlen viele Wissenselemente der akademischen Mathematik zuordnen. Dies verwundert nicht, weil zwei der drei Gesetze der großen Zahlen nicht im Mathematikunterricht in der Schule thematisiert werden. Weiter wurden die Wissenselemente miteinander verglichen und anschließend zu Wissensdimensionen und -arten zugeordnet. Hier zeigt sich, dass diese Zuordnung möglich ist.

(6) Die Wissenselemente lassen sich durch Wissensnetze strukturieren und vernetzende Wissenselemente lassen sich identifizieren.

Anhand der Untersuchung auf Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten ließen sich verbindende Ideen und vernetzende Wissenselemente identifizieren. Somit war die Entwicklung von Wissensnetzen anhand verbindender Ideen möglich. Die Verbindungen zwischen Wissenselementen erfolgte entweder durch die Thematik (weil sie dem gleichen Gesetz der großen Zahlen zugeordnet waren) oder durch die vernetzenden Wissenselemente über die einzelnen Gesetze der großen Zahlen hinaus.

(7) Es konnten Grenzen elementarisierten akademischen Fachwissens für Lehrkräfte der Sekundarstufe I und II ermittelt werden.

Mithilfe der Zuordnung zu Wissensdimensionen und -arten sowie der Wissensnetze konnte elementarisiertes akademisches Fachwissen identifiziert und strukturiert werden. Dies heißt im Umkehrschluss, dass auch akademisches Fachwissen, welches sich nicht elementarisieren ließ bzw. nicht relevant zu sein schien, ausgeschlossen werden konnte. Es lässt sich weiterhin zusammenfassen:

(8) Die Erprobung zeigt die Durchführbarkeit der Methode.

In Kapitel 6 wurde gezeigt, dass die Didaktisierung umgesetzt werden konnte und eine ungewichtete Auflistung ergab. In der Rekonstruktion wurden Wissenselemente identifiziert und anhand von Wissensnetzen strukturiert. Letztere konnte Grenzen elementarisierten akademischen Fachwissens aufzeigen und es zeigt sich, dass die Methode durchführbar ist.

(9) Normative Entscheidungen wurden offengelegt und weisen Transparenz auf.

Normative Entscheidungen wurden, wenn möglich, transparent dargestellt und begründet. Es zeigten sich aber Grenzen der Transparenz, die für die Offenlegung nur eine geringe Rolle spielen. Insbesondere in der Kategorie „Grenzen“ wurden intransparente normative Entscheidungen getroffen, weil die Zuordnung zu Wissensdimensionen und Wissensarten nicht ausreichend begründet werden konnte. Dieses Ergebnis der exemplarischen Durchführung der didaktisch orientierten Rekonstruktion deutet auf Limitationen hin, welche im nächsten Abschnitt dargestellt werden.

7.3 Limitationen dieser Arbeit

Die zentralen Limitationen der vorliegenden Arbeit ergeben sich aus dem normativen Charakter stoffdidaktischer Methoden. Die didaktisch orientierte Rekonstruktion als stoffdidaktische Methode unterliegt dieser Normativität ebenfalls. Dies zeigt sich insbesondere in Abschnitt 6.3 der Begrenztheiten, bei denen die Charakteristik der Zuordnung zu Wissensarten und -dimensionen nicht begründet und somit nicht offengelegt werden konnte. Insbesondere sind die Grenzen zwischen schulbezogenem Fachwissen und akademischem Fachwissen diffus. Auch eine klare Abgrenzung zwischen schulbezogenem Fachwissen und fachdidaktischem Wissen scheint nicht immer möglich. Eine Ausschärfung diesbezüglich wäre wünschenswert. Auch die Offenlegung kann bedingt durch die durchführende Person und ihren Kompetenzen variieren, in dem sie ihre Ergebnisse nicht ausreichend begründet. Die Ergebnisse können durch die Kontextabhängigkeit der didaktisch orientierten Rekonstruktion beeinflusst werden. Diese Kontextabhängigkeit insbesondere der Personen- und Zeitabhängigkeit, kann überprüft werden mit einer Expert*innenstudie, bei der Expert*innen gebeten werden, die Methode mit der gleichen Zielsetzung und -gruppe durchzuführen.

Insgesamt fehlt es an empirischer Validität, um normative Entscheidungen festigen bzw. dementsprechend empirisch begründen zu können. Der Miteinbezug empirischer Daten kann die Ergebnisse der didaktisch orientierten Rekonstruktion beeinflussen. Deshalb rät Griesel (1971) zur „gegenseitigen Begrenzung und Stützung ihrer verschiedenen Teile“ (S.80) und begründet dies wie folgt:

In einer mathematischen Analyse mag man sehr feine und tiefsinnige Unterscheidungen vorgenommen haben. In einer nachfolgend empirischen Untersuchung mag man aber feststellen, daß diese Unterscheidung für den mathematischen Lernprozeß bedeutungslos ist. Würde man also die empirische Untersuchung auslassen, so würde man ungerechtfertigten Aufwand betreiben. (S. 80)

Die Wissenselemente könnten zu detailliert für eine empirische Betrachtung sein, sodass diese gegebenenfalls noch einmal angepasst werden müssten. Weiterer Forschungsbedarf ergibt sich also im Vergleich der hier aufgeführten theoretischen Ergebnisse mit empirischen Ergebnissen.

7.4 Implikationen für die Wissenschaft

Ausgehend von der Diskussion und den Limitationen lassen sich Implikationen für die Wissenschaft ableiten. In der vorliegenden Arbeit wurde eine Methode systematisiert, die basierend auf theoretischen Bezügen einen mathematischen Inhalt elementarisieren und strukturieren soll. Dieses Vorgehen wurde auf die Gesetze der großen Zahlen mit dem Ziel der Identifikation eines Wissenskanons für Lehrkräfte angewandt. Daraus ergibt sich eine erste Implikation:

Qualitative und quantitative Untersuchungen des Fachwissens von Lehrkräften bezüglich der Wahrscheinlichkeitsrechnung und insbesondere zu den Gesetzen der großen Zahlen auf Basis der hier durchgeführten didaktisch orientierten Rekonstruktion

Ausgehend von dem in dieser Arbeit beruhenden Ergebnissen zu einem Wissenskanon könnte eine Expertenstudie durchgeführt werden, um den Wissenskanon (theoretisch) zu validieren. Anschließend könnten Interviews mit praktizierenden Lehrkräften geführt werden, um deren Fachwissen in Erfahrung zu bringen. Dies entspricht einem bottom-up-Ansatz, bei dem sich ausgehend von den Aufgaben und dem Fachwissen der Lehrkräfte einer Wissenskonzeptualisierung angenähert wird. Im Vergleich dieser Herangehensweise mit dem hier vorliegenden top-bottom-Ansatz können etwaige Wissenselemente adaptiert, verworfen oder neu aufgenommen werden. Ausgehend von diesem Wissenskanon wäre auch eine quantitative Untersuchung denkbar, in der der Wissenskanon im Rahmen einer Konzeptualisierung operationalisiert werden könnte. Diese qualitativen und quantitativen Maßnahmen könnten also Einfluss auf den Wissenskanon für Lehrkräfte haben. Mit dieser Implikation ist eine allgemeinere Implikation denkbar:

Die Verankerung von Empirie in der Methode und ihrer Beschreibung

Diese Implikation beschreibt eine mögliche Veränderung der Methode, um vorhandene Empirie einfließen zu lassen. Zu bedenken ist allerdings, dass schon zu diesem Zeitpunkt empirische Ergebnisse in die didaktisch orientierte Rekonstruktion einfließen können. Dies ist insbesondere an der Stelle des benötigten Vorwissens (Schritt 3 der Didaktisierung), der Grundvorstellungen (Teil des vierten Schritts der Didaktisierung) sowie bei den grundlegenden didaktischen Konzepten (Schritt 5 der Didaktisierung) denkbar, weil ab Schritt 3 die Zielgruppe explizit mit einbezogen wird, um beispielsweise das benötigte Vorwissen adressatenorientiert beschreiben zu können. Auch in der Rekonstruktion sind nach weiterer Adaption Vergleiche von Lernendenvorstellungen und Ergebnissen der Didaktisierung denkbar, was der Struktur nach Kattmann et al. (1997) ähneln würde.

Anwendung der didaktisch orientierten Rekonstruktion auf weitere Themenbereiche

In Kapitel 6 wurde die Methode exemplarisch auf die Gesetze der großen Zahlen mit dem Ziel, Wissenselemente für Lehrkräfte zu identifizieren, angewendet. Eine Anwendung auf weitere mathematische Inhalte ist denkbar, um einerseits die Methode zu verifizieren oder zu adaptieren. Andererseits können Themenbereiche, welche fachdidaktisch aufbereiteter sind, andere Ergebnisse liefern als bei den Gesetzen der großen Zahlen. Ein Grund könnten Forschungsergebnisse zu Lernendenperspektiven sein, sodass die Einbindung von Empirie erfolgen könnte. Ein Blick auf verschiedene Funktionsklassen wäre sicher interessant. Die Betrachtung dieser Ergebnisse könnte eine Adaption der Methode im Hinblick auf die Didaktisierung nach sich ziehen.

Offener Diskurs innerhalb der Fachcommunity

Diese Arbeit rückt die Stoffdidaktik in den Fokus. Sie wirft mit ihrer Methodenbeschreibung Perspektiven für die Wissenschaft auf, indem Vorgehensweisen für zukünftige Projekte offengelegt werden können. Die in Kapitel 3 thematisierten Konzeptualisierungen und ihre Operationalisierungen könnten sich mit der systematischen Herangehensweise der didaktisch orientierten Rekonstruktion überprüfen lassen und so den wissenschaftlichen Diskurs öffnen. Eine solche Herangehensweise schlägt Griesel (1971) vor, der Folgendes schreibt: „Die Lernziele sind ohne eine mathematischen Analyse nicht klar formulierbar. Alle Versuche, dies ohne mathematische Analyse zu tun, sind sehr unzureichend. Die Lernzielformulierungen sind dann zu vage und ungenau“ (S. 80). Dementsprechend könnte ein nachträglicher Vergleich zum Erkenntnisinteresse beitragen für zukünftige Forschung. Sobald also normative Entscheidungen getroffen werden, ist die Durchführung der didaktisch orientierten Rekonstruktion sicher lohnenswert.

7.5 Implikationen für die Lehrer*innenausbildung

Aus der vorliegenden Arbeit können wiederum auch Implikationen für die Praxis, vor allem für die Lehrer*innenausbildung gezogen werden. Der Wissenskanon kann Aufschluss darüber geben, wie die Lehrer*innenausbildung verändert werden könnte. Aber auch aus methodischer Sicht können Folgerungen für die Praxis gezogen werden.

Strukturierung der Fachinhalte der ersten Lehramtsausbildungsphase

In der ersten Lehramtsausbildungsphase findet die fachliche Ausbildung von Lehrkräften der Sekundarstufen I und II statt. Die Vorlesungen sind wie in Abschnitt 2.1 beschrieben von formal-axiomatischer, deduktiver Struktur mit einem definitorischen Begriffserwerb. Realitätsbezüge spielen zumeist keine essentielle Rolle. Angehende Lehrkräfte für die Sekundarstufe II besuchen die Grundlagenveranstaltungen meistens gemeinsam mit den fachwissenschaftlichen Studierenden. Die formal-axiomatische, deduktive Struktur muss nicht aufgeweicht werden. Die Ergebnisse der didaktisch orientierten Rekonstruktion können aber Aufschluss darüber geben, welche Fachinhalte Lehrkräfte für ihre spätere Praxis benötigen. Das starke Gesetz der großen Zahlen mit der komplexen Beweisführung könnte beispielsweise nur angerissen werden, damit für den frequentistischen Aspekt des Wahrscheinlichkeitsbegriffs die theoretischen Grundlagen legitimiert werden, der Inhalt der Veranstaltung dadurch aber vereinfacht werden könnte. Auch die verbindenden Ideen könnten in die Fachveranstaltung mit aufgenommen werden, damit Bezüge zwischen den verschiedenen Gesetzen der großen Zahlen mit aufgenommen werden. Eine vertiefte Analyse der Strukturierung der Fachinhalte könnte dementsprechend Aufschluss darüber geben, wie die Fachveranstaltung zugänglicher für Lehramtsstudierende gemacht werden und somit der doppelten Diskontinuität in der Lehrer*innenausbildung entgegengewirkt werden könnte.

Das Verstehen stoffdidaktischer Analysen in der Fachdidaktik der Lehrer*innenausbildung fördern

Stoffdidaktische Analysen wurden zu vielen Themenbereichen der Mathematikdidaktik durchgeführt und fungieren als Basis für die Entwicklung verschiedener fachdidaktischer Konzepte. Griesel verfasst dazu ein Lernziel für die Ausbildung der Lehramtsstudierenden: „Erfassen und selbst[st]ändiges Durchdenken der Analyse und des mathematischen Hintergrunds des Schulstoffes“ (Griesel, 1971, S. 81). Das heißt, dass durchgeführte didaktisch orientierte Rekonstruktionen für die fachdidaktische Lehrer*innenausbildung genutzt werden können, damit Lehramtsstudierende einen vertieften Blick auf solche Analysen und den mathematischen Hintergrund erhalten. Diese Art von Analysen befassen sich mit Elementarisierungen vom akademischen Kern des Inhalts, sodass Studierende die Verbindungen zwischen akademischer und schulischer Mathematik greifen können und somit die schulische Mathematik weniger losgelöst von der akademischen Mathematik steht. Auch dieses Vorgehen könnte einer doppelten Diskontinuität in der Lehrer*innenausbildung entgegenwirken. Den Studierenden wird einerseits ein Bereich der Forschung sichtbar gemacht und andererseits könnte dies eine Vorübung für die zweite Lehramtsausbildungsphase sein.

Die Didaktisierung als strukturgebendes Mittel für Sachanalysen bzw. stoffdidaktischen Analysen innerhalb von Unterrichtsentwürfen in der zweiten Lehramtsausbildungsphase

In der zweiten Lehramtsausbildungsphase, dem Referendariat, werden von angehenden Lehrkräften für ihre Unterrichtsbesuche entsprechende Unterrichtsentwürfe verlangt, in denen sie die geplante Unterrichtsstunde in die Unterrichtssequenz einordnen, einen Plan für die Stunde erstellen und begründen sowie (stoffdidaktische) Sachanalysen schreiben. Letzteren kann durch die Didaktisierung eine Struktur gegeben werden, in dem die angehenden Lehrkräfte den fünf Schritten der Didaktisierung mit Blick auf ihre Zielgruppe und ihrem Ziel folgen können. Diese Herangehensweise bietet also eine Gliederung für etwaige Sachanalysen an, ohne den Anspruch einer Ausführlichkeit, wie es in dieser Arbeit dargestellt wurde.

Die didaktisch orientierte Rekonstruktion als Mittel zur Planung von Unterrichtssequenzen

Als weitere Folgerung kommt die didaktisch orientierte Rekonstruktion als Mittel zur Planung von Unterrichtssequenzen in Frage. Hierfür könnten Lehrkräfte (exemplarisch) den zu behandelnden mathematischen Inhalt strukturieren und mögliche Anwendungsbeispiele herausdifferenzieren, die den mathematischen Inhalt mit seinen Realitätsbezügen zugänglicher machen. Des Weiteren bietet die Methode Ansatzpunkte, um tieferliegende Schwierigkeiten von Lernenden zu identifizieren, weil mit der fortschreitenden Didaktisierung des mathematischen Inhalts auch Lernendenperspektiven aufgefasst werden können.