(Ir-)Responsibilisierung, Genetik und Neurowissenschaften

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Responsibilisierung

Part of the book series: Zürcher Begegnungen ((ZUEBE))

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Zusammenfassung

Der Begriff der Responsibilisierung, der ursprünglich aus dem Kontext der sogenannten Governmentality Studies hervorgegangen ist, wird heute in verschiedenen Sozialwissenschaften verwendet, um eine Regierungstechnologie zu beschreiben, die besonders auf die Herausforderung des Neoliberalismus abgestimmt ist, nämlich die Frage, wie man freie Individuen regieren kann. In scheinbar paradoxer Gleichzeitigkeit mit der Hegemonie des Neoliberalismus, die sich stark auf individuelle Wahlmöglichkeiten, Freiheit und Verantwortung stützt, existieren jedoch zwei wirkmächtige wissenschaftliche Diskurse, die diese Annahmen vehement zu untergraben scheinen, nämlich die Genetik und die Neurowissenschaften. Ausgehend von einer Erörterung der Stärken und Grenzen des Begriffs der Responsibilisierung wird in diesem Beitrag die Notwendigkeit der Einführung des komplementären Konzepts der Irresponsibilisierung dargelegt, das als eine Form dessen interpretiert werden kann, was Foucault in seinen Vorlesungen zur „Geschichte der Gouvernementalität“ als „Gegen-Verhalten“ bezeichnet – in diesem Fall gegen die neoliberale Regierungstechnologie der Responsibilisierung. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit Genetik und Neurowissenschaften als Diskurse betrachtet werden können, die Formen der genetischen und/oder neurologischen Irresponsibilisierung fördern, was der scheinbar paradoxen Co-Hegemonie von Neoliberalismus einerseits und Genetik und Neurowissenschaften andererseits einen Sinn geben würde. Bei näherer Betrachtung der Erkenntnisse dieser Disziplinen und ihrer Verwendung stellt sich jedoch heraus, dass die Konstituierung als „somatisches Individuum“ (Rose) als eine Form des Gegen-Verhaltens mit erheblichen Kosten verbunden ist, insbesondere mit neuen Formen der genetischen und/oder Neuro-Responsibilität. So schließt der Beitrag mit der doppelten Schlussfolgerung, dass es überall dort, wo es Responsibilisierung gibt, auch Irresponsibilisierung gibt und dass genetische und Neuro-Irresponsibilisierung riskante Strategien des Gegen-Verhaltens sind, die Responsibilisierung auf einer anderen Ebene durch die Hintertür wieder einführen könnten.

Dieser Beitrag erschien unter dem Titel „(Ir-)Responsibilization, genetics and neuroscience“ 2011 im European Journal of Social Theory 14(4), 469–488, https://doi.org/10.1177/1368431011417933. Copyright © 2011 by SAGE Journals. Für diese Publikation wurde der Text von Martin Renz ins Deutsche übersetzt, der Nachdruck erfolgt mit Erlaubnis von SAGE Publications. Der Autor dankt Frieder Vogelmann, Les Thiele, Sammy Barkin und zwei anonymen Gutachter:innen für ihre hilfreichen Kommentare.

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Notes

  1. 1.

    Gemeint ist hier die Banken- und Finanzkrise 2008 ff.

  2. 2.

    Im Jahr 2007 wurden beispielsweise über 5 Mrd. Kreditkartenabrechnungen von Kreditkartenunternehmen in den USA verschickt.

  3. 3.

    Damit soll natürlich nicht behauptet werden, dass sich die Humangenetik als Disziplin auf diese Frage reduzieren lässt; hier gibt es eine Vielfalt von Forschungsansätzen und unterschiedlichste Fragestellungen.

  4. 4.

    Man beachte die semantischen Nuancen und Dimensionen von ‚Verantwortung‘, die in diesem Fall deutlich werden. Bisher habe ich hauptsächlich über persönliche Verantwortung als ein Konzept gesprochen, das es rechtfertigt, Personen kausale Fähigkeiten in Bezug auf bestimmte Folgen zuzuschreiben. Aber der Begriff hat eindeutig auch offenkundige ethische Konnotationen, die bei seiner Verwendung wie in diesem Fall zum Tragen kommen. Ich werde in der Schlussbetrachtung kurz auf dieses Thema zurückkommen.

  5. 5.

    Andere Studien deuten darauf hin, dass persönliche Verantwortung bei Stigmatisierungsprozessen eine Rolle spielt (siehe Decety et al., 2010).

  6. 6.

    Eine neue Disziplin, die Neuroökonomie, versucht bereits, Neurowissenschaften und Entscheidungstheorie zu verbinden, um Modelle zu entwickeln, die über die rationalistischen Annahmen des herkömmlichen homo oeconomicus hinausgehen (siehe Glimcher, 2009; Montague, 2007). Ähnliches gilt für die Verhaltensökonomik.

  7. 7.

    Man beachte, dass in diesem Fall die Kosten der Irresponsibilisierung nicht zwangsläufig bei ein und derselben Person anfallen, die zudem möglicherweise nicht einmal ein Elternteil ist.

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Biebricher, T. (2024). (Ir-)Responsibilisierung, Genetik und Neurowissenschaften. In: Heite, C., Magyar-Haas, V., Schär, C. (eds) Responsibilisierung. Zürcher Begegnungen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-42456-5_4

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-42456-5_4

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-42455-8

  • Online ISBN: 978-3-658-42456-5

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