Die dekonstruktive Kritik an Begründungsfiguren und Hierarchien

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Soziologisch denken mit Jacques Derrida

Part of the book series: Philosophische Grundlagen der Soziologie ((PGP))

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Zusammenfassung

Zuerst legen wir mit Derrida sogenannte ‚Begründungsfiguren‘ frei, die für die Arbeit der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften wichtig sind. Wir demonstrieren, inwiefern in der Moderne der Rückgriff auf ein Subjekt, das Wissen und Politik gleichermaßen begründet, Herrschaftsstrukturen absichert und diese zugleich unkenntlich macht. Danach spüren wir der Funktionsweise solcher Begründungsfiguren in der soziologischen Theoriebildung nach. Mit Derrida lässt sich zudem eine Hierarchiekritik entwickeln, welche die geschlechtliche Markierung sozialer Ungleichheiten aufzudecken vermag.

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Notes

  1. 1.

    Dieser Ausdruck, auf den wir noch ausführlicher zurückkommen werden, wird etwa von Jane Bennett verwendet (vgl. Bennett, Jane. 2020. Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge. 2. Auflage. Berlin: Matthes & Seitz, S. 40).

  2. 2.

    Die Ontologie ist diejenige philosophische Disziplin, die sich seit Aristoteles dem ‚Sein‘ widmet. In der Antike ist damit zunächst die Substanz der Wirklichkeit bzw. des Kosmos gemeint, wie sie unabhängig von der menschlichen Perspektive besteht. In der Philosophie hat sich inzwischen die These durchgesetzt, der antiken und mittelalterlichen Philosophie gehe es im Kern um ontologische Fragen, die sich neben der Einheit der Welt und des Kosmos mit der Existenz von Seele und Gott beschäftigen. Demgegenüber setzt das neuzeitliche Denken seit Descartes einen Primat der Epistemologie voraus. Bei dieser philosophischen Disziplin stehen erkenntnistheoretische Probleme im Vordergrund, und zwar die Frage, wie ein Subjekt eine ihm gegenüberstehende Welt als Objekt zu erkennen vermag. Die ontologische Frage nach der Beschaffenheit des Objekts unabhängig von der Perspektive des Subjekts hat ihre Geltung verloren, weil die Philosophie nun stets von der Struktur des Subjekts ausgeht. Wie es zu einem solchen Übergang gekommen ist, wollen wir in diesem Kapitel untersuchen.

  3. 3.

    Derrida. Grammatologie, S. 26.

  4. 4.

    Hier wird eine wesentliche Hierarchie sichtbar, der wir uns in Abschn. 3.3 zuwenden, und zwar diejenige zwischen Form und Materie.

  5. 5.

    Derrida. Grammatologie, S. 26.

  6. 6.

    Auch innerhalb der gegenwärtigen Philosophie gibt es Anschlüsse an die platonische Philosophie. Hier ist insbesondere Alain Badiou zu nennen, der sich neben der platonischen Metaphysik vor allem auf die Mengenlehre Georg Cantors bezieht, um einen starken Wahrheitsbegriff innerhalb der Philosophie zu etablieren (vgl. Badiou, Alain. 2005. Das Sein und das Ereignis. Berlin: Diaphanes; Badiou, Alain. 2010. Logiken der Welten. Das Sein und das Ereignis 2. Berlin: Diaphanes). Damit zeigt sich, dass eine Auslegung der Präsenz als eidos nicht obsolet geworden, sondern in der gegenwärtigen Philosophie nach wie vor vertreten ist. Für Badiou ist dabei die Abgrenzung zu Derridas Dekonstruktion elementar.

  7. 7.

    Dieses Verständnis der Mathematik als eine auf reine, transzendentale Formen sich beziehende Wissenschaft wurde im 20. Jahrhundert jedoch beispielsweise von Foucault ins Wanken gebracht, der Materialität und Historizität als konstitutive Elemente der Mathematik ausgewiesen hat. Vgl. Foucault, Michel. 1981. Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  8. 8.

    Aristoteles schreibt in seiner Kategorien-Schrift: „Substanz, um es im Umriß (nur allgemein) zu erklären, ist z. B. ein Mensch, ein Pferd“ (Aristoteles. 2019. Kategorien. Hamburg: Meiner, 4 1b, S. 3).

  9. 9.

    Diese dreigliedrige Seelenlehre entwirft Aristoteles vor allem in: Aristoteles. 2017. Über die Seele. De anima. Hamburg: Meiner.

  10. 10.

    Derrida. Grammatologie, S. 47.

  11. 11.

    Der Begriff der Metaphysik wurde durch Aristoteles in die Philosophie eingeführt. Dabei hat Aristoteles selbst diesen Namen nicht verwendet, er wurde mit aller Wahrscheinlichkeit von Andronikos von Rhodos geprägt, als dieser eine Ansammlung von 14 Büchern in das Gesamtwerk von Aristoteles einordnete. ‚Metaphysik‘ deutet vor diesem Hintergrund lediglich auf den Ort hin, welchen diese Bücher in der Reihenfolge des Werkes einnahmen: Sie wurden nämlich hinter die Physik einsortiert. Durch dieses Vorgehen wurde schließlich unser vertrautes Verständnis von der Metaphysik als einer Disziplin gegründet, die ‚nach‘ der Physik kommt, die sich dem widmet, was ‚jenseits‘ der physischen Welt liegt (vgl. Aristoteles. 1995. Metaphysik. Hamburg: Meiner).

  12. 12.

    Derrida. Grammatologie, S. 28.

  13. 13.

    Die Funktion des transzendentalen Signifikats innerhalb des Logo- und Phonozentrismus wurde ausführlicher in Abschn. 2.1 behandelt.

  14. 14.

    Charles Taylor, dessen historische Argumentation derjenigen Derridas sehr ähnlich ist, hat in Augustinus den wesentlichen Umschlagspunkt dieser Entwicklung identifiziert. Taylor argumentiert, dass Augustinus’ Gottesbegriff den Übergang des Fundaments des Wissens von etwas Äußerlichem in das Innere des Subjekts vorbereitet hat. Nach Augustinus erfährt man Gott nicht, indem man seine Sinne nach Außen richtet, man muss vielmehr Gottes Stimme in seinem Inneren aufspüren. Das Subjekt erfährt die Präsenz Gottes, indem es in sich hineinhorcht, seinen Blick in sein Inneres wendet. Hier wird auch wieder ersichtlich, welch starke Rolle die Stimme angesichts von Begründungsfiguren spielt. Vgl. dazu Taylor, Charles. 1996. Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 235–261.

  15. 15.

    Derrida. Grammatologie, S. 32 f.

  16. 16.

    Ebd., S. 26.

  17. 17.

    Diese Argumentation entfaltet Descartes insbesondere in seinen ersten beiden ‚Meditationen‘: Descartes, René. 1993. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg: Meiner.

  18. 18.

    In die Unterscheidung zwischen Denken und Körper schreibt sich auch die Trennung zwischen dem Belebten und Unbelebten ein, weshalb Descartes folglich den Körper „als eine Art von Maschine“ begreift (ebd., S. 75). Diese ontologische Deklassifizierung des Körperlichen wird für die politische Ordnung der Moderne entscheidend, denn politische Partizipation wird über die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch hergestellt. Eine dekonstruktive Kritik des Ausschlusses derjenigen Subjekte, die nicht über eine bestimmte Norm der Rationalität verfügen, muss sich dann notwendigerweise einer Zersetzung der Trennung von Denken und Körper widmen (vgl. auch Abschn. 3.3).

  19. 19.

    Kant entwickelt den Kategorienapparat des Subjekts in der Kritik der reinen Vernunft, und zwar im Kapitel „Analytik der Begriffe“; eine „Tafel der Kategorien“ findet sich in: Kant. Kritik der reinen Vernunft, S. 118 f.

  20. 20.

    Derrida. Grammatologie, S. 33.

  21. 21.

    Kant entwirft in seinen moralphilosophischen Schriften insgesamt vier Formulierungen des Kategorischen Imperativs, von denen die wohl berühmteste lautet: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant. Kritik der praktischen Vernunft, S. 140). Wenn eine Handlung nicht verallgemeinerungsfähig ist, das heißt, wenn sie einer Prüfung durch den Kategorischen Imperativ nicht standhält, so ist sie für Kant keine moralische Handlung und sollte unterlassen werden. Das formale Kriterium der Widerspruchsfreiheit ist also das einzige Kriterium, das die Moralität einer Handlung begründet. Ihre Anwendung kann nach Kant jeder Mensch unabhängig seiner sozialen und kulturellen Herkunft vollziehen und angesichts dessen fungiert der Kategorische Imperativ als universalistische Norm.

  22. 22.

    Die Notwendigkeit einer Verringerung dieses Abstandes zwischen Innen und Außen ist es, womit Theorien des Willens immer wieder zu kämpfen haben und wodurch ihr theologisches Substrat sichtbar wird. Es scheint unklar zu sein, wie etwas Intelligibles mit etwas Materiellem verbunden werden kann und wie die Form dieser Beziehung aussieht. Kant sah sich hier vor die Unmöglichkeit gestellt, das Wesen der Beziehung zu denken und schloss daraus, dass die Existenz des Willens lediglich postuliert werden kann, dies in praktischer Hinsicht jedoch auch muss, weil wir uns sonst nicht als moralische und also freie Wesen begreifen können (vgl. Kant. Kritik der praktischen Vernunft, S. 243–249).

  23. 23.

    Die Entstehung der Soziologie ist eng mit dem Verschwinden dieser selbstverständlichen Legitimation von Herrschaft verbunden. Sie entsteht in dem historischen Moment, in dem die Begründung der Gesellschaft legitimationsbedürftig geworden ist (vgl. Abschn. 3.2).

  24. 24.

    Diese Frage macht die letzte der vier berühmten Fragen Kants aus, welche die Kritik der reinen Vernunft beschließen. Die drei übrigen lauten: „Was kann ich wissen?“, „Wie soll ich handeln?“ und „Was darf ich hoffen?“. Die Beantwortung der ersten drei Fragen setzt eine Explikation der letzten voraus. Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft, S. 676–687.

  25. 25.

    Vgl. Hobbes, Thomas. 1966. Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  26. 26.

    Vgl. Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechtes.

  27. 27.

    Vgl. Hobsbawm, Eric J. 1988. The Age of Revolution. Europe 1789–1848. London: Abacus.

  28. 28.

    Derrida. Grammatologie, S. 26.

  29. 29.

    Anders im Falle von Intraaktionen, innerhalb derer – ganz im Sinne einer dekonstruktiven Geste – dieses Voraussetzungsverhältnis umgekehrt wird (vgl. Abschn. 3.3).

  30. 30.

    Vgl. Habermas, Jürgen. 1981. Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  31. 31.

    Das Wort ‚Einfluss‘ muss hier in Anführungszeichen gesetzt werden, weil Habermas der metaphysischen – und letztlich: patriarchalen – Annahme unterliegt, argumentatives Denken laufe ohne die Affizierung durch Gefühle ab. Zwei Texte, die diese Annahme auseinandernehmen, indem sie plausibilisieren, inwiefern jede Form des Denkens und Erkennens als emotionales Involviertsein zu begreifen ist, sind: Heller, Ágnes. 1980. Theorie der Gefühle. Hamburg: VSA-Verlag; Jaggar, Alison M. 1989. Love and knowledge: Emotion in feminist epistemology. In Inquiry 32 (2), S. 151–176.

  32. 32.

    Habermas verortet sich selbst in der Tradition Kants, indem er Subjektivität wesentlich auf einen Kern von Innerlichkeit reduziert, der sich durch Rationalität, den freien Willen und Autonomie auszeichnet. Affektivität und Körperlichkeit sind nicht Teil dieses inneren Kerns des Subjekts.

  33. 33.

    Dass die Vorstellung dieser Abtrennbarkeit von Attributen eine zutiefst patriarchale Vorstellung ist, die mit einer dekonstruktiv problematisierbaren Abwertung von Körperlichkeit verbunden ist, werden wir in Abschn. 3.3 zeigen.

  34. 34.

    Ein weiteres Beispiel für eine auf Kant zurückreichende liberale politische Theorie, die das sich selbst präsente Subjekt voraussetzt, ist die Vertragstheorie von John Rawls. Für Rawls werden die Grundpfeiler der politischen Herrschaft in einem fiktiven Urzustand beschlossen, in dem Subjekte versammelt sind, die nicht wissen, welche Position sie später einmal in der Gesellschaft besetzen, und die auch nicht wissen, welches Geschlecht und welche ethnische Herkunft sie haben, über welches Einkommen sie verfügen, usw. Die Subjekte begegnen sich in diesem Gedankenexperiment also im Modus reiner Rationalität. Theorien wie denjenigen von Rawls und Habermas liegt die Vorstellung zugrunde, dass Subjekte von ihrem Körper abtrennbar sind; Rationalität ist eine geistige, intelligible Kraft, die über keine materielle Komponente verfügt. Vgl. Rawls, John. 1979. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Vor dem Hintergrund der Différance als Nicht-Ursprung (vgl. Abschn. 2.2.2) und der Iterabilität als unvermeidbare Kontamination von Identität (vgl. Abschn. 2.3) können wir registrieren, dass sich politische Theorien einer dekonstruktiven Befragung nicht nur dann anbieten, wenn sie das Subjekt und die Intersubjektivität als Gründungsfiguren einführen, sondern dabei auch von Ursprüngen und Reinheiten die Rede ist.

  35. 35.

    In starker, aber verleugneter Nähe zu Derrida hat Bruno Latour in Wir sind nie modern gewesen die Pointe dieser spezifisch modernen Konstellation eindrucksvoll und originell auf den Punkt gebracht. Latour verbildlicht, nachdem er die Trennung zwischen Subjekt und Objekt anhand der Theorien Hobbes’, Kants, Hegels, Husserls und Habermas’ zur Sprache gebracht hat, seine Resultate anhand eines nach oben geöffneten Dreiecks: Während Subjekt und Objekt ursprünglich – das heißt zu Beginn der Philosophie – eng miteinander verbunden sind, treten sie zu Beginn der Moderne in eine immer größere, einem nicht mehr zu überbrückenden Abgrund gleichende Distanz zueinander. Der Versuch, Subjekt und Objekt wieder miteinander zu verbinden, resultiert paradoxerweise darin, dass sich die Länge ihres Abstands stets vergrößert. Die „Postmoderne“, für Latour vor allem durch Jean-François Lyotard repräsentiert, konstatiert schließlich nur noch eine „Hyper-Inkommensurabilität“ von Subjekt und Objekt, ohne sich auch nur im Entferntesten an einer Überbrückung des Abgrunds zu versuchen. Zur Darstellung dieses Dreiecks vgl. Latour, Bruno. 2015. Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 79.

  36. 36.

    Derrida. Grammatologie, S. 124.

  37. 37.

    Vgl. Abschn. 2.1.

  38. 38.

    Derrida. Grammatologie, S. 124.

  39. 39.

    Es lassen sich innerhalb der Geschichte der Philosophie jedoch auch monistische Theorien finden, die sich der hegemonialen Struktur der Metaphysik, um deren Problematisierung es Derrida geht, entziehen. Das prominenteste Beispiel ist hierbei Baruch de Spinoza, dessen Philosophie nur eine Art von Substanz kennt und gemeinhin in der Formel zusammengefasst wird: ‚Gott oder Natur‘ (vgl. Spinoza, Baruch de. 2006. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Hamburg: Meiner). Spinoza gebraucht den Substanzbegriff anders als Aristoteles; er behauptet, dass alles, was es gibt, sowohl etwas Göttliches als auch etwas Natürliches darstellt, und zwar als Verschränkung zwischen Geistigem und Natürlichem. Für Spinoza existiert nichts unabhängig voneinander, kein Element liegt in Präsenz vor, sondern affiziert stets andere Elemente und wird von ihnen affiziert. Im 20. Jahrhundert hat vor allem Gilles Deleuze an Spinozas monistische Theorie angeschlossen und sie politisch radikalisiert (vgl. Deleuze, Gilles. 1993. Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. München: Fink). Wir werden uns in Abschn. 3.3.1 mit Theorien auseinandersetzen, die auch an Spinoza anschließen und deren Potenzial für eine Kritik an Hierarchien offenlegen.

  40. 40.

    ‚Vermeintlich‘ sind diese Eigenschaften deshalb, weil sie wiederum nichts anderes als Begründungsfiguren darstellen, welche die Beziehungshaftigkeit von menschlichen Wesen verstellen.

  41. 41.

    Der Terminus der Materialität muss hier in Anführungszeichen gesetzt werden, weil nach Derrida ‚Materialität‘ gerade nicht mehr anhand der Achse zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen verteilt werden kann. Keinem Wesen kommt ein Mehr oder ein Weniger an Materialität zu, alle sind gleichermaßen jenem materiell-diskursiven Produktionsprozess unterworfen. Im Anschluss an Derrida hat vor allem Karen Barad die ontologische Tragweite dieser Annahme ausgearbeitet (vgl. Barad. Agentieller Realismus; Barad, Karen. 2010. Quantum Entanglements and Hauntological Relations of Inheritance. Dis/continuities, SpaceTime Enfoldings, and Justice-to-Come. In Derrida Today 3 (2), S. 240–268).

  42. 42.

    Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara. 2011. Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert. 2. Auflage. Stuttgart: Reclam.

  43. 43.

    Vgl. Koselleck, Reinhart. 2015. Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit. In Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 9. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 17–37; Koselleck, Reinhart. 2015. Wie neu ist die Neuzeit? In Zeitschichten. Studien zur Historik. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 225–239; Gumbrecht, Hans Ulrich. 2006. Modern, Modernität, Methode. In Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München: Fink, S. 37–80.

  44. 44.

    Vgl. Wittrock, Björn; Heilbron, Johan und Magnusson, Lars. 1998. The Rise of the Social Sciences and the Formation of Modernity. In The Rise of the Social Sciences and the Formation of Modernity. Conceptual Change in Context, 1750–1850, hrsg. Johan Heilbron, Lars Magnusson und Björn Wittrock. Dordrecht: Springer Netherlands, S. 1–33; Porter, Theodore M. 2003. Genres and Objects of Social Inquiry, from the Enlightenment to 1890. In The Modern Social Sciences. Band 7, hrsg. Theodore M. Porter und Dorothy Ross. Cambridge: Cambridge University Press, S. 13–39.

  45. 45.

    Vgl. Wagner, Peter. 2021. Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870–1980. 2. Auflage. Frankfurt am Main, New York: Campus; Tenbruck. Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie.

  46. 46.

    Vgl. Wagner, Peter. 1998. Certainty and Order, Liberty and Contingency. The Birth of Social Science as Empirical Political Philosophy. In The Rise of the Social Sciences and the Formation of Modernity. Conceptual Change in Context, 1750–1850, hrsg. Johan Heilbron, Lars Magnusson und Björn Wittrock. Dordrecht: Springer Netherlands, S. 241–263.

  47. 47.

    Derrida. Die différance, S. 52.

  48. 48.

    Derrida bezieht sich im hier interessierenden Aufsatz vorwiegend auf Lévi-Strauss. Das wilde Denken; Lévi-Strauss. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft und Lévi-Strauss, Claude. 2000. Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  49. 49.

    Derrida. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 424, erste Herv. von uns, ME/FM.

  50. 50.

    Vgl. Derrida. Grammatologie, S. 26.

  51. 51.

    Das Bestreben, die moderne Gesellschaft in ihrer Grundstruktur begreifen zu wollen, hält sich durch alle Debatten- und Reflexionslagen der soziologischen Gesellschaftstheoriebildung bis mindestens in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein durch. Als plakatives Beispiel vgl. nur Münch, Richard. 1984. Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Einen beispielhaften Debattenüberblick über Differenzierung oder Ungleichheit als ‚eigentlichere‘ Grundstruktur gibt Schroer, Markus. 2010. Funktionale Differenzierung versus soziale Ungleichheit. Ein Beitrag zur Debatte über die Grundstruktur der modernen Gesellschaft. In Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, hrsg. Georg Kneer und Stephan Moebius. Berlin: Suhrkamp, S. 291–313.

  52. 52.

    Vgl. Derrida. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 422.

  53. 53.

    Ebd., S. 423.

  54. 54.

    Vgl. Luhmann, Niklas. 1998. Die Wissenschaft der Gesellschaft. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Luhmann, Niklas. 1997. Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Bourdieu, Pierre. 1992. Homo academicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Bourdieu, Pierre. 2001. Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  55. 55.

    Derrida. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 423.

  56. 56.

    Ebd., S. 422.

  57. 57.

    Vgl. zur Iterabilität im Allgemeinen Abschn. 2.3.2 und für die hervorbringende Kraft des konstitutiven Außen im Falle der Subjektivität im Besonderen Abschn. 2.4.3.

  58. 58.

    Reckwitz, Andreas. 2013. Moderne. Der Kampf um die Öffnung und Schließung von Kontingenzen. In Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, hrsg. Stephan Moebius und Andreas Reckwitz. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 226–244, hier S. 226.

  59. 59.

    Vgl. Marx, Karl. 1982. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Berlin: Dietz; Weber, Max. 1988. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1. 9. Auflage. Tübingen: UTB, S. 17–206; Durkheim, Émile. 1992. Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  60. 60.

    Reckwitz. Moderne, S. 226 f., Herv. von uns, ME/FM.

  61. 61.

    So schlagen beispielsweise Rosa et al. in einer einführenden Bestandsaufnahme vor, soziologische Theorien historisch und systematisch danach zu unterscheiden, ob sie die Domestizierung der Naturverhältnisse, die Rationalisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche, deren Differenzierung oder die Individualisierung als das entscheidende Merkmal der mit der Moderne einsetzenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse schwerpunktmäßig betonen (vgl. Rosa, Hartmut; Strecker, David und Kottmann, Andrea. 2007. Soziologische Theorien. Konstanz: UVK, S. 19–22). Müller hingegen kartiert klassische Gesellschaftstheorien dahingehend, auf welche ökonomischen, politischen und kulturellen Transformationen der modernen Gesellschaft sie zeitdiagnostisch reagiert haben und unterscheidet dadurch Industrialisierung, Demokratisierung und Individualisierung als ihre grundlegenden Themenbezüge (Müller, Hans-Peter. 2021. Krise und Kritik. Klassiker der soziologischen Zeitdiagnose. Berlin: Suhrkamp, S. 18–24). Die Liste an Beispielen ließe sich beliebig erweitern. Entscheidend ist für unsere Belange, dass sich klassische Theorien der modernen Gesellschaft nach den Strukturprinzipien ordnen lassen, die sie für die moderne Gesellschaft als wesentlich bescheinigen.

  62. 62.

    Derrida. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 422.

  63. 63.

    Mit anderen Worten und auf die logisch-textförmige Gestalt von Gesellschaftstheorien fokussierend können wir davon ausgehen, dass Begründungsfiguren in Gesellschaftstheorien als „theoretische[r] beziehungsweise argumentative[r] Kern“ fungieren, von dem dann ein „abstraktes Kräftefeld konzeptueller und argumentativer Ressourcen, ein Gravitationsfeld von Begriffsformen“ ausgeht (Stamm, Marcelo. 2005. Konstellationsforschung – Ein Methodenprofil: Motive und Perspektiven. In Konstellationsforschung, hrsg. Martin Mulsow und Marcelo Stamm. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 31–73, hier S. 35 f.).

  64. 64.

    Spencer, Herbert. 1898. The Principles of Sociology. Volume 2. In The Principles of Sociology. In three Volumes. New York: Appleton and Company, hier S. 568–642; Durkheim. Über soziale Arbeitsteilung; Tönnies, Ferdinand. 2005. Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 4. Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

  65. 65.

    Srubar, Ilja. 2015. Wozu Geschichte der Soziologie? Die Soziologiegeschichte als historische Wissenssoziologie. In Soziologiegeschichte. Wege und Ziele, hrsg. Christian Dayé und Stephan Moebius. Berlin: Suhrkamp, S. 465–487, hier S. 474.

  66. 66.

    Derrida. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 422.

  67. 67.

    Reckwitz. Moderne, S. 229, Herv. von uns, ME/FM.

  68. 68.

    Vgl. Ebd.

  69. 69.

    Derrida. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 423.

  70. 70.

    Weber. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus; Weber, Max. 1988. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. In Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1. 9. Auflage. Tübingen: UTB, S. 237–573.

  71. 71.

    Weber, Max. 1988. Vorbemerkung. In Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1. 9. Auflage. Tübingen: UTB, S. 1–16, hier S. 10. Vgl. Schwinn, Thomas. 2004. Von der historischen Entstehung zur aktuellen Ausbreitung der Moderne. Max Webers Soziologie im 21. Jahrhundert. In Berliner Journal für Soziologie 14, S. 527–544.

  72. 72.

    Vgl. Hall, Stuart. 1996. The West and the Rest: Discourse and Power. In Modernity. An introduction to modern societies. Malden, Mass.: Blackwell, S. 184–227. So fällt bereits bei Auguste Comte die Begründung der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft der Gesellschaft mit der Idee des Westens bzw. Europas zusammen, vgl. Varouxakis, Georgios. 2019. The Godfather of „Occidentality“. Auguste Comte and the Idea of „The West“. In Modern Intellectual History 16 (02), S. 411–441. Auf diesen (post-)kolonialistischen Gestus Europas kommen wir in Abschn. 4.3.3 zu sprechen. Für einen kompakten Überblick über die Kritik der postkolonialen Theorie bzw. der postcolonial studies an diesen Begründungs- und Gleichsetzungsgesten vgl. Reuter, Julia und Villa, Paula-Irene. 2009. Provincializing Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung. In Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention, hrsg. Julia Reuter und Paula-Irene Villa. Bielefeld: Transcript, S. 11–46.

  73. 73.

    Im unmittelbaren Anschluss an Derridas Kritik des Logozentrismus vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty. 2011. Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia + Kant.

  74. 74.

    Vgl. Bayly, Christopher Alan. 2009. The birth of the modern world 1780–1914. Global connections and comparisons. 15. Auflage. Malden, Mass.: Blackwell; Osterhammel, Jürgen. 2020. Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. 3. Auflage. München: C.H. Beck.

  75. 75.

    Derrida. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 423, letzte Herv. von uns, ME/FM.

  76. 76.

    Vgl. Sombart, Werner. 1987. Der moderne Kapitalismus. Dritter Band. Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus. München: Deutscher Taschenbuch Verlag; Habermas, Jürgen. 2015. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. 13. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Giddens, Anthony. 1992. Kritische Theorie der Spätmoderne. Wien: Passagen Verlag.; Reckwitz, Andreas. 2019. Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp.

  77. 77.

    Vgl. Osrecki, Fran. 2019. Zeitdiagnosen. Funktionen und Krisen eines Genres. In Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven, hrsg. Heiner Hastedt. Bielefeld: Transcript, S. 35–47, hier S. 35–41.

  78. 78.

    Dimbath, Oliver. 2016. Soziologische Zeitdiagnostik. Stuttgart: UTB, S. 84, Herv. von uns, ME/FM.

  79. 79.

    So folgt beispielsweise in Ulrich Becks Risikogesellschaft, eine der wohl prominentesten deutschen soziologischen Gegenwartsdiagnosen, verzeitlichend der ‚ersten‘ Moderne eine ‚zweite‘ Moderne. Ganz im Sinne eines gründenden Strukturprinzips wird das Wesen der ersten Moderne an der Industrialisierung, das Wesen der zweiten Moderne hingegen an den Folgerisiken der Individualisierung festgemacht. Und im Sinne der Verräumlichung kennzeichnet diese zweite Moderne letztendlich ihre nationalstaatliche Grenzen überschreitende Ausdehnung hin zur Weltrisikogesellschaft. Vgl. Beck, Ulrich. 1986. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Beck, Ulrich. 2007. Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  80. 80.

    Osrecki, Fran. 2015. Constructing Epochs: The Argumentative Structures of Sociological Epochalisms. In Cultural Sociology 9 (2), S. 131–146.

  81. 81.

    Vgl. Meier, Christian und Koselleck, Reinhart. 1975. Fortschritt. In Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 2, hrsg. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 351–423; Koselleck. Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit.

  82. 82.

    Vgl. Salomon, Albert. 1955. The tyranny of progress. Reflections on the origin of sociology. New York: Noonday Press.

  83. 83.

    Vgl. Alexander, Jeffrey C. 1994. Modern, Anti, Post, and Neo. How Social Theories Have Tried to Understand the „New World“ of „Our Time“. In Zeitschrift für Soziologie 23 (3), S. 165–197, hier S. 168–175.

  84. 84.

    Derrida. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 436.

  85. 85.

    Ebd., S. 436 f.

  86. 86.

    Ebd., S. 437.

  87. 87.

    Vgl. Abschn. 2.1 und 2.3.

  88. 88.

    Luhmann. Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 705.

  89. 89.

    Marchart, Oliver. 2013. Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp.

  90. 90.

    Ebd., S. 28 f.

  91. 91.

    Vgl. Ebd., S. 29–36. Für einen über die Moderne hinausreichenden Überblick über Kontingenz als Semantik in der Geschichte der Philosophie und Sozialwissenschaften vgl. Makropoulos, Michael. 2004. Kontingenz. Aspekte einer theoretischen Semantik der Moderne. In European Journal of Sociology 45 (3), S. 369–399.

  92. 92.

    Reckwitz. Moderne, S. 232 f. Vgl. Bauman, Zygmunt. 2005. Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Hamburger Edition.

  93. 93.

    Marchart. Das unmögliche Objekt, S. 35. Die von Marchart diskutierten, in diesem Sinne ‚postfundamentalistischen‘ Gesellschaftstheorien gruppieren sich weder um ein Fundament herum noch verzichten sie in einem antifundamentalistischen Sinne auf jede Gründungsgeste; sie begreifen Gründungen vielmehr als vorläufig, partial und stets widerstreitenden Kräften ausgesetzt.

  94. 94.

    Derrida. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 432.

  95. 95.

    Vgl. Luhmann. Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 705.

  96. 96.

    Derrida. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, S. 441. Uns begegnet hier Derridas Strategie wieder, die mittels der Dekonstruktion problematisierten Begriffe nicht einfach aufzugeben und neue Begriffe einzusetzen. Wie wir bereits im Rahmen der Infragestellung der ‚Identität‘ durch die Denkfigur der Iterabilität (vgl. Abschn. 2.3.1) nachvollziehen konnten, entscheidet sich Derrida stattdessen dafür, die Unmöglichkeit einer ‚einfachen‘ oder ‚reinen‘ Identität durch die Verwendung des Begriffs der ‚Nicht-Identität‘ anzuzeigen. Derrida verfährt hier auf dieselbe Weise, um mit ‚Nicht-Zentrum‘ auf die Unmöglichkeit eines einzelnen und eindeutigen Zentrums hinzuweisen.

  97. 97.

    Saar, Martin. 2013. Klasse/Ungleichheit. Von den Schichten der Einheit zu den Achsen der Differenz. In Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, hrsg. Stephan Moebius und Andreas Reckwitz. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 194–207, hier S. 198, Herv. von uns, ME/FM.

  98. 98.

    Derrida. Limited Inc a b c …, S. 76.

  99. 99.

    Vgl. Farzin, Sina und Laux, Henning. 2014. Gründungsszenen soziologischer Theorie. Wiesbaden: Springer VS.

  100. 100.

    Farzin, Sina und Laux, Henning. 2014. Was sind Gründungsszenen? In Gründungsszenen soziologischer Theorie, hrsg. Sina Farzin und Henning Laux. Wiesbaden: Springer VS, S. 3–11, hier S. 6. Für die Philosophiegeschichte lässt sich hier an Hans Blumenbergs Versuch denken, sich einer Ursprungsgeschichte der Philosophie dadurch anzunähern, indem der über die Zeit wandelnde metaphorische Gehalt einer solchen Szene ideengeschichtlich verfolgt wird. Vgl. Blumenberg, Hans. 1987. Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  101. 101.

    Farzin, Laux. Was sind Gründungsszenen?, S. 5–8. So lässt sich beispielsweise zeigen, dass vermittelt über das Börsenparkett als empirische Fallminiatur des Finanzhandels im späten 19. Jahrhundert die spannungsvolle Unterscheidung zwischen vertraglich geregelten und nicht-vertragsförmigen sozialen Beziehungen in die frühen Gesellschaftstheorien der Soziologie als fachliche Problemstellung eingeht (vgl. Langenohl, Andreas. 2014. Börsenhandel als Gründungsszene soziologischer Theorieauseinandersetzung. In Gründungsszenen soziologischer Theorie, hrsg. Sina Farzin und Henning Laux. Wiesbaden: Springer VS, S. 125–137). Paradigmatische bzw. Modell-Fälle prägen nicht nur die Fachdiskussion ganzer Forschungszweige der Soziologie, sondern funktionieren dabei ganz im Sinne von Derridas Problematisierung der Begründungsfiguren als deren Fundierung und Zentrierung: „Studies about doctors are foundational for the sociology of professions, studies about Chicago are foundational to urban sociology and urban ethnography, and studies of the French Revolution are central to comparative-historical sociology“ (Krause, Monika. 2016. ‘Western Hegemony’ in the Social Sciences: Fields and Model Systems. In The Sociological Review 64 (2), S. 194–211, hier S. 199, Herv. von uns, ME/FM; vgl. Krause, Monika. 2021. Model Cases. On Canonical Research Objects and Sites. Chicago: University of Chicago Press).

  102. 102.

    Blumenberg, Hans. 1981. Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 152.

  103. 103.

    Binder, Werner. 2014. Die Robinsonade. In Gründungsszenen soziologischer Theorie, hrsg. Sina Farzin und Henning Laux. Wiesbaden: Springer VS, S. 139–154.

  104. 104.

    Berger, Peter L. und Luckmann, Thomas. 2010. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 23. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer, S. 62.

  105. 105.

    Vgl. Berger, Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 34.

  106. 106.

    Vgl. Ebd., S. 81 f.

  107. 107.

    Vgl. Ebd., S. 67 f., 82 und 88 f.

  108. 108.

    Vgl. Ebd., S. 71–73 und 82.

  109. 109.

    Ebd., S. 56, Herv, von uns, ME/FM.

  110. 110.

    Ebd., S. 56. Wir verfahren im Folgenden eng am Originaltext, möchten aber bereits an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es sich beim Einsamen und all seinen Variationen nicht zufällig um eine männliche Figur handelt. Hier stoßen wir nämlich auf einen philosophiegeschichtlich typischen Gestus der Universalisierung, der seine geschlechtliche Markierung zugleich unkenntlich macht. ‚Männlich‘ ist diese Figur deshalb, weil sie sich die Semantik von ‚Männlichkeit‘ als nicht in Beziehungen existierend und also potenziell ‚einsam‘ zu eigen macht. Der dekonstruktiven Kritik dieses Gestus wenden wir uns in Abschn. 3.3.2 zu.

  111. 111.

    Ebd., S. 57.

  112. 112.

    Ebd., S. 51 f.

  113. 113.

    Ebd., S. 59.

  114. 114.

    Ebd., S. 60.

  115. 115.

    Ebd.

  116. 116.

    Vgl. Ebd., S. 66 f.

  117. 117.

    Wir werden dafür häufig und ausführlich aus der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit zitieren. Dieses Vorgehen entspricht der textkritischen Arbeitsweise Derridas, der seine dekonstruktive Problematisierung von Begriffen, Denkfiguren und Argumentationsgängen nicht nur eng am Original, sondern immer auch mit Blick auf die textuellen Zusammenhänge entwickelt, in denen sie stehen. Anders formuliert: Die dekonstruktive Problematisierung zielt immer auch auf den Gesamtzusammenhang, in den einzelne Signifikanten eingeschrieben sind.

  118. 118.

    Ebd., S. 33, Herv. von uns, ME/FM.

  119. 119.

    Ebd., S. 56, Herv. von uns, ME/FM.

  120. 120.

    Ebd., S. 56 f., Herv. von uns, ME/FM.

  121. 121.

    Ebd., S. 57 f., Herv. von uns, ME/FM.

  122. 122.

    Wie gleich zu Beginn der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit geklärt wird, sind es Soziolog*innen und nicht Philosoph*innen, die bei diesem Problem Zweifel anmelden könnten: Die Soziologie ist ein „empirische[s] Fach“ und wirft damit – gemeinsam mit anderen „Unruhestiftern der empirischen Wissenschaften“ – methodologische Probleme auf, die nicht „in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich“ der Soziologie, sondern nur durch die Philosophie geklärt werden können (ebd., S. 15). Für Philosoph*innen sei „aus professionellen Gründen gar nichts gewiss“ und sie sind es, die im Gegensatz zu Soziolog*innen „eine Trennungslinie zwischen gültigen und ungültigen Aussagen über die Welt ziehen [müssen]“ (ebd., S. 2). Für Soziolog*innen bedeutet dies aber nicht nur, gelegentlich die Aussagen des ‚Manns auf der Straße‘ in Anführungszeichen zu setzen, sondern auch „[z]u gewissen Gelegenheiten“, darunter in „philosophische[r] Betrachtung“ an deren Gültigkeit zu zweifeln, allerdings den Ernst solcher Zweifel in Anführungszeichen zu setzen, bzw. „solche Zweifel […] ‚nicht ernst zu nehmen‘“ (ebd., S. 45). Dabei gelte aber für alle, dass an der Gültigkeit des „Wissens in der und über die Alltagswelt“ nur „bis zu dem Augenblick“ unernst gezweifelt wird, „in dem ein Problem auftaucht, welches nicht im ‚gültigen‘ Sinne gelöst werden kann“ (ebd.).

  123. 123.

    Vgl. ebd., S. 58.

  124. 124.

    Ebd., S. 59, Herv. von uns, ME/FM.

  125. 125.

    Ebd. Die von Berger und Luckmann auch hier verwendeten Anführungszeichen verweisen uns darauf, dass wir an dieser Aussage zumindest in philosophischer Betrachtungsweise Zweifel anmelden dürfen. Mit Derrida soziologisch zu denken hält dazu an, diese Zweifel ernst zu nehmen. Einen solchen Zweifel antizipierend verweisen die Autoren darauf, dass von Fällen, in denen einer oder beide der auf der Insel Zusammentreffenden nicht ‚sie selbst‘ waren und sind, „für den Augenblick ab[gesehen]“ wird (ebd., S. 59). So soll beispielsweise von „Adam und Eva“ abgesehen werden (ebd.). Allerdings intensiviert diese Geste des Aufschubs die damit einhergehende Problematik noch weiter, insofern gerade die „Kirche“ den Ort oder besser die umgrenzte Provinz im Unterschied zur „obersten Wirklichkeit“ der „Alltagswelt“ darstellt, in der nicht nur die Frage nach dem Zusammentreffen dieser beiden gestellt wird, sondern in der neben der philosophischen Betrachtung mehr oder weniger ernsthaft gezweifelt wird (ebd., S. 45 und S. 59).

  126. 126.

    Ebd., S. 60.

  127. 127.

    Ebd., S. 60, Herv. von uns, ME/FM.

  128. 128.

    Ebd., S. 61, Herv. von uns, ME/FM.

  129. 129.

    Ebd., S. 76, Herv. von uns, ME/FM. Eindeutig wird an dieser Stelle allerdings, dass nicht der in eigener Gesellschaft habitualisierende Einsame als Ursprung gelten kann, wohl aber bereits die Robinsonade, in der A und B noch eine Überlebensgemeinschaft bilden: „Voraussetzung dafür ist, dass man mit anderen bestimmte Ziele und Phasen der Verrichtung gemeinsam hat, dass nicht nur Einzelhandlungen, sondern auch Handlungsverläufe […] typisiert werden. Das heißt: nicht nur ein einzelner Akteur vom Typus X, der eine Aktion vom Typus X wiederholt, wird wiedererkannt“ (ebd., S. 76, Herv. von uns, ME/FM). Der Ursprung der Ursprünge wäre ausgeschlossen, wenn – wie wir erinnern möchten – der Einsame nicht bereits in-Gesellschaft gewesen wäre, um er selbst sein zu können.

  130. 130.

    Ebd., S. 63.

  131. 131.

    Ebd., S. 62, Herv. von uns, ME/FM.

  132. 132.

    Ebd.

  133. 133.

    Ebd., S. 63.

  134. 134.

    Ebd., S. 66.

  135. 135.

    Ebd., Herv. von uns, ME/FM.

  136. 136.

    Ebd., S. 62, Herv. von uns, ME/FM.

  137. 137.

    Ebd., S. 62, Herv. von uns, ME/FM.

  138. 138.

    In dekonstruktiv sensibilisierter Lektüre ließe sich nun weiterfragen, inwiefern nicht nur die hier behandelte Gründungsszene, sondern das gesamte Argumentationsgefüge der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit auf einem von der (Sozial-)Phänomenologie übernommenen Fundament der Metaphysik der Präsenz ruht, um deren Zersetzung es Derrida geht. In Die Stimme und das Phänomen setzt sich Derrida ausführlich mit der Phänomenologie Husserls auseinander und führt vor, wie die dekonstruktive Lektüre der Gründung von Subjektivität in reiner Präsenz nachspürt. Mit Blick auf die bei Berger und Luckmann gelegentlich „in der ganzen Fülle seines Ausdrucksvermögens“ auftretende Figur „mein Freund Henry“ (ebd., S. 34) lässt sich jedenfalls bemerken, dass in der Vis-á-vis-Situation – der „fundamentale[n] Erfahrung des Anderen“ und dem „Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktion“, von dem „[j]ede andere Interaktionsform […] abgeleitet ist“ – das „Subjekt-Sein“ an die „Fülle von Anzeichen“ in lebendiger Gegenwärtigkeit gebunden ist (ebd., S. 31).

  139. 139.

    Derrida. Grammatologie, S. 140.

  140. 140.

    Vgl. als einschlägige Sammelbände, die für eine erste Orientierung hilfreich sind: Coole, Diana und Frost, Samantha. 2010. New Materialisms. Ontology, Agency, and Politics. Durham: Duke University Press; Dolphijn, Rick und van der Tuin, Iris. 2012. New materialism. Interviews & cartographies. Ann Arbor: Open Humanities Press. Im deutschsprachigen Kontext lässt sich auf die einführende Monographie von Katharina Hoppe und Thomas Lemke verweisen, auch wenn das hier zusammengestellte Feld der Autor*innen keineswegs unumstritten ist: Hoppe, Katharina und Lemke, Thomas. 2021. Neue Materialismen zur Einführung. Hamburg: Junius.

  141. 141.

    So schreibt Barad: „Diskurspraktiken und materielle Phänomene stehen nicht in einer Beziehung der Äußerlichkeit zueinander; vielmehr sind das Materielle und das Diskursive wechselseitig in die Dynamik der Intraaktivität einbezogen. Die Beziehung zwischen dem Materiellen und dem Diskursiven ist eine Beziehung der wechselseitigen Implikation“ (Barad. Agentieller Realismus, S. 41).

  142. 142.

    Bennett. Lebhafte Materie, S. 40.

  143. 143.

    Vgl. Abschn. 2.1.

  144. 144.

    Kants Moralphilosophie ist eine sehr eindrückliche Demonstration dieses Sachverhalts, denn Materialität kontaminiert in Form von Affekten die Reinheit moralischer Urteilsfähigkeit und muss daher aus der Begründung der Moral ausgeschlossen werden. Der Kategorische Imperativ ist ein Prüfverfahren für die Moralität von Handlungen, das rein auf Formalität gründet und materielle Komponenten ausschließen soll (vgl. Abschn. 3.1.1).

  145. 145.

    So beschreibt etwa Bennett ihr methodologisches Vorgehen wie folgt: „Ich werde von der Sprache der Erkenntnistheorie zu der der Ontologie wechseln, vom Fokus auf eine schwer fassbare, zwischen Immanenz und Transzendenz schwebende Widerspenstigkeit (das Absolute) zu dem auf eine aktive, erdige, nicht-ganz-menschliche Weite (lebhafte Materie)“ (Bennett. Lebhafte Materie, S. 30). Die auf der Trennung zwischen einem erkennenden Subjekt und einem zu erkennenden Objekt gründende Erkenntnistheorie widmet sich nach Bennett letztlich einem theologischen Absoluten (wir haben dieses in den beiden vorherigen Abschnitten im Sinne der Begründungsfiguren ausgewiesen) und muss daher in Hinblick auf eine Ontologie überschritten werden, die ‚erdig‘ bleibt, weil sie sich allen Materialitäten ‚dieser‘ Welt widmet. Während die Erkenntnistheorie somit zwischen Immanenz und Transzendenz schwankt und sich daher nicht von allem theologischen Ballast freizumachen vermag, versucht Bennett eine konsequente Theorie der Immanenz auszuarbeiten. Im Hintergrund steht auch hier die Annahme Derridas, dass ein vollständiger Bruch mit der Metaphysik, dem Logozentrismus und mit transzendenten Philosophien nicht möglich, sondern vielmehr eine stets zu erneuernde Abarbeitung an dieser abendländischen Tradition vonnöten ist.

  146. 146.

    Vgl. zum Begriff der Intraaktion etwa Barad. Agentieller Realismus, S. 19 f.

  147. 147.

    Vgl. Abschn. 2.2.2.

  148. 148.

    Ein für die Soziologie spannender Satz Barads lautet in diesem Kontext: „Das Gesellschaftliche und das Naturwissenschaftliche werden gemeinsam konstituiert“ (ebd., S. 69).

  149. 149.

    Baruch de Spinoza war der erste, der eine umfassende monistische Ontologie ausgearbeitet hat (vgl. vor allem Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt). Spinoza wird, wie auch Descartes, dem ‚Rationalismus‘ zugeordnet, weil für ihn Erkenntnis primär auf der Vernunft und nicht auf den Sinnen gründet. Jedoch lässt sich Spinozas Philosophie aufgrund ihrer radikalen Verweigerung eines dualistischen Denkens und ihres Ausgangs von einer Symmetrie zwischen Vernunft und Affektivität als Gegenentwurf zum rationalistischen Paradigma des 17. Jahrhunderts auffassen. Innerhalb der Neuen Materialismen wird Spinoza vielfach als Referenzautor eines Materialismus angesehen, der auf basaler Ebene nicht zwischen verschiedenen Arten von Sein und unterschiedlichen, ‚höheren‘ und ‚niedrigeren‘, Lebensformen unterscheidet. Vgl. Bennett. Lebhafte Materie, S. 12 und S. 56–58; Braidotti, Rosi. 2002. Metamorphoses. Towards a materialist theory of becoming. Cambridge: Polity Press, S. 105 und S. 134 f.

  150. 150.

    Wir setzen in diesem Satz „getrennt“ kursiv, weil es sehr wohl neumaterialistische Ansätze gibt, die dem ‚Immateriellen‘ oder ‚Unkörperlichen‘ innerhalb ihrer Theorien einen Ort zuweisen, jedoch stets als mit dem Materiellen oder Körperlichen verschränkt. Vgl. Grosz, Elizabeth. 2017. The incorporeal. Ontology, ethics, and the limits of materialism. New York: Columbia University Press.

  151. 151.

    Vgl. Abschn. 2.4.3.

  152. 152.

    Bennett. Lebhafte Materie, S. 70.

  153. 153.

    Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Donna Haraway und Latour: Haraway, Donna. 1995. Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. In Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main: Campus, S. 33–72; Latour. Wir sind nie modern gewesen.

  154. 154.

    Bennett. Lebhafte Materie, S. 41.

  155. 155.

    Oder wie es Barad formuliert: „[V]ielmehr ist Materie Substanz in ihrem intraaktiven Werden – kein Ding, sondern eine Tätigkeit“ (Barad. Agentieller Realismus, S. 40).

  156. 156.

    Bennett. Lebhafte Materie, S. 71 f.

  157. 157.

    Eine ganz ähnliche Richtung verfolgt Derridas dekonstruktive Lektüre der Phänomenologie Husserls, die unter anderem bei der Selbstpräsenz des Sinns ansetzt. Vgl. Derrida. Die Stimme und das Phänomen sowie überblicksweise Kap. 5.

  158. 158.

    Bennett geht davon aus, dass Affektivität die ‚Substanz‘ eines jeden Körpers ausmacht: „Organische und anorganische Körper, natürliche und kulturelle Gegenstände (diese Unterscheidungen sind hier nicht so bedeutend) sind sämtlich affektiv. Ich beziehe mich hier auf eine spinozistische Vorstellung von Affekt, die auf allgemeine Weise die Fähigkeit eines beliebigen Körpers meint, zu agieren und zu reagieren“ (Bennett. Lebhafte Materie, S. 15). Während für die Philosophen der Aufklärung – außer für Spinoza – die immaterielle ‚Rationalität‘ das entscheidende Kriterium für (menschliche) Subjektivität darstellt, besteht die Materialität von (menschlichen und nicht-menschlichen) Wesen nach Bennett in ihrer Affektivität. In Spinozas Ethik heißt es entsprechend: „Denn ein jeder handhabt alles von seiner Affektivität her“ (Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, S. 119).

  159. 159.

    Die Bindung der Möglichkeit an die Unmöglichkeit einer vollständigen Realisierung behandeln wir in Abschn. 4.1. Auf das ‚Versprechen‘ gehen wir in einem anderen Kontext ein, und zwar in Hinblick auf das Versprechen der Demokratie, das beinhaltet, für die Affizierung durch Andere stets offen zu sein (vgl. Abschn. 4.3.3).

  160. 160.

    Bennett. Lebhafte Materie, S. 72.

  161. 161.

    Ebd.

  162. 162.

    Vgl. Abschn. 2.4.2.

  163. 163.

    Durch die Kritik an der exzeptionellen Stellung des Menschen in der Welt wird dann auch die vermeintliche Trennung von Natur- und Sozialwissenschaften unterlaufen. So wird beispielsweise Charles Darwin als für das Theoriespektrum der Neuen Materialismen anschlussfähiger Autor entdeckt. Eine affirmative Lektüre samt einer Fruchtbarmachung für zeitgenössische feministische Fragestellungen hat insbesondere Elizabeth Grosz vorgelegt (vgl. Grosz, Elizabeth. 2008. Darwin and Feminism. Preliminary Investigations for a Possible Alliance. In Material feminisms, hrsg. Stacy Alaimo und Susan J. Hekman. Bloomington: Indiana University Press, S. 23–51; Grosz, Elizabeth. 2011. Becoming undone. Darwinian reflections on life, politics, and art. Durham: Duke University Press).

  164. 164.

    Der Dualismus zwischen Humanismus und Antihumanismus wird in seiner historischen Dimension sehr klar von Rosi Braidotti herausgearbeitet (vgl. Braidotti, Rosi. 2014. Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt am Main: Campus, S. 19–36). Auch Braidotti entwickelt eine Version des Posthumanismus, die sich diesem Dualismus entzieht. Sie unterscheidet sich jedoch von Barad, indem sie keine dezidierte Ontologie ausarbeitet, sondern sich eher an beunruhigenden gegenwärtigen politischen Situationen – wie Biopolitik, Nekropolitik, der kapitalistischen Besetzung von Leben und der Situation der Geisteswissenschaften – abarbeitet.

  165. 165.

    Barad. Agentieller Realismus, S. 13.

  166. 166.

    Vgl. Abschn. 2.2.2.

  167. 167.

    Diesen Trennungs- und Veräußerlichungsprozess im Sinne einer agentiellen Separierung setzt Barad in einem späteren Aufsatz explizit in Beziehung zu Derridas Bewegung der Différance: „There is no pure external position, only agential separability, differences within, différance“ (Barad, Karen. 2012. Nature’s Queer Performativity. In Kvinder, Køn & Forskning (1–2), S. 25–53, hier S. 47). Den Konzepten Barads und Derridas ist gemeinsam, dass die Bewegung einer basalen dynamischen Differenzierung als der Konstitution von differenzierten Entitäten vorgängig betrachtet wird. Es muss also zunächst eine Arbeit der Separierung bzw. ein verzeitlichter und verräumlichter Prozess der Differenzierung stattfinden, damit es Wesen gibt, die wir als menschlich oder nicht-menschlich identifizieren können. In diesem Sinne gibt es kein radikales Außen – „no pure external position“ – weil die Grenze zwischen Innen und Außen erst agentiell gezogen werden muss.

  168. 168.

    Barad schreibt hierzu: „Wie ich ihn hier verstehe, ist der Posthumanismus nicht auf den Menschen abgestimmt; im Gegenteil, es geht bei ihm darum, den Ausnahmestatus des Menschen aufs Korn zu nehmen, wobei er zugleich die Rolle erklären soll, die wir bei der unterschiedlichen Konstitution und unterschiedlichen Positionierung des Menschlichen inmitten anderer Geschöpfe (sowohl der belebten als auch der unbelebten) spielen“ (Barad. Agentieller Realismus, S. 13).

  169. 169.

    Vgl. Abschn. 2.3.2.

  170. 170.

    Barad. Agentieller Realismus, S. 52 f.

  171. 171.

    Vor allem Barad markiert ihre Arbeit dezidiert als Beitrag zur feministischen Theorie (vgl. Barad, Karen. 2007. Getting Real: Technoscientific Practices and the Materialization of Reality. In Meeting the universe halfway. Quantum physics and the entanglement of matter and meaning. Durham: Duke University Press, S. 189–222).

  172. 172.

    Irigaray, Luce. 1991. Ethik der sexuellen Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  173. 173.

    Haraway, Donna. 1995. Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main: Campus, S. 73–97; Haraway. Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften.

  174. 174.

    Harding, Sandra G. 1999. Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht. 3. Auflage. Hamburg: Argument.

  175. 175.

    Braidotti, Rosi. 1994. Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York: Columbia University Press.

  176. 176.

    Grosz, Elizabeth. 2004. The nick of time. Politics, evolution, and the untimely. Durham: Duke University Press; Grosz, Elizabeth. 2005. Time travels. Feminism, nature, power. Durham: Duke University Press.

  177. 177.

    Wilson, Elizabeth A. 2004. Psychosomatic. Feminism and the neurological body. Durham: Duke University Press; Wilson, Elizabeth A. 2015. Gut Feminism. Durham: Duke University Press.

  178. 178.

    Wilson. Gut Feminism, S. 175. „Gut“ bezeichnet im Englischen den „Darm“ und Wilson geht es auch in wichtiger Hinsicht um die Rolle des Darms innerhalb affektiver, neurologischer und kognitiver Subjektivierungsprozesse. Weil sich ihr Buch aber auch immer wieder um eine Kritik an einer feministischen Theorie dreht, der es um die Identifizierung eines reinen „Guten“ geht, bekommt die deutsche Semantik des Wortes hier eine besondere Note.

  179. 179.

    Derrida versucht in seiner langen Auseinandersetzung mit Platons Dialog Phaidros nachzuweisen, dass sich die ambivalente Struktur des Pharmakons innerhalb einer ganzen „Pharmazie“ entwickelt, die für die Metaphysik des Abendlandes äußerst grundlegend werden sollte. Platons Text stellt nach Derrida nämlich das Unterfangen dar, eine exakte Trennlinie zwischen der heilenden und der schädlichen Wirkung des Pharmakons zu ziehen und diese dann auf die Schrift zu übertragen. Das Resultat ist die Trennung zwischen einer ‚guten‘, ‚natürlichen‘ Schrift, die an die Sprache gebunden bleibt, und einer ‚schlechten‘, ‚künstlichen‘ Schrift, die in einem Intervall zur Sprache existiert. Eine Dekonstruktion dieser Trennungslinien ermöglicht es schließlich, die ‚ursprüngliche‘ Spannung des Pharmakons und damit die Untrennbarkeit einer vorgängigen fundamentalen Separierung von Heilen und Schaden offenzulegen.

  180. 180.

    Wilson. Gut Feminism, S. 144.

  181. 181.

    Ebd., S. 145, Herv. von uns, ME/FM. Wilsons Argumentation ähnelt nicht nur Derridas Denkbewegung der Iterabilität, sondern sie bezieht sich mit ihrem Argument explizit auf die an Derrida anschließenden Positionen von Barad und Kirby, vgl. Barad, Karen. 2007. Meeting the universe halfway. Quantum physics and the entanglement of matter and meaning. Durham: Duke University Press; Kirby. Quantum Anthropologies.

  182. 182.

    Wilson. Gut Feminism, S. 146.

  183. 183.

    Vgl. Abschn. 2.4.3.

  184. 184.

    Butler. Das Unbehagen der Geschlechter, S. 18.

  185. 185.

    Haraway. Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften, S. 46. Haraway führt ihre Kritik im Genaueren am „radikalen Feminismus“ Catherine MacKinnons aus.

  186. 186.

    Haraway schreibt angesichts dessen: „Jenseits der problematischen oder der positiven Beiträge dieser beiden Argumentationsweisen haben weder marxistische noch radikalfeministische Standpunkte den Status partieller Erklärungsansätze einzubeziehen versucht, beide wurden regelrecht als Totalität konstituiert. […] Das peinliche Schweigen über Rasse bei weißen, radikalen und sozialistischen Feministinnen war eine entscheidende, verheerende politische Konsequenz davon“ (ebd., S. 47). Eine sehr aktuelle Antwort auf das Problem des Ausschlusses von ‚Rasse‘ bei gleichzeitiger Vermeidung einer Identitätspolitik stellt Sara Ahmeds Konzeption eines lesbischen Feminismus dar (Ahmed, Sara. 2021. Feministisch leben! Manifest für Spaßverderberinnen. 3. Auflage. Münster: Unrast, S. 270–298).

  187. 187.

    Den Begriff der Intersektionalität hat ein Jahr vor dem Erscheinen von Das Unbehagen der Geschlechter, und zwar im Jahr 1989, Kimberlé Krenshaw in den feministischen Diskurs eingeführt. Vgl. Crenshaw, Kimberlé. 2022. Das Zusammenrücken von Race und Gender ins Zentrum rücken: Eine Schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas, der feministischen Theorie und antirassistischer Politiken (1989). In Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, hrsg. Natasha A. Kelly. 2. Auflage. Münster: Unrast, S. 143–184.

  188. 188.

    Der Marxismus muss nach Butler deshalb als Reproduktion eines solchen hierarchischen Denkens erachtet werden, weil er von vornherein der Klassenzugehörigkeit einen Primat bei der Analyse von Subjektivierungsformen und sozialer Praktiken zuweist. Butler begreift eine solche Kritikform als „vertikales Modell“, weil keine Symmetrie unterschiedlicher Komponenten bzw. Modalitäten von Subjektivität angenommen, sondern von vornherein von einer Hierarchie ausgegangen wird: „Ein vertikales Modell wäre jedoch ebenso unzureichend, weil sich die verschiedenen Formen der Unterdrückung nicht kurzerhand hierarchisch anordnen, kausal verknüpfen oder auf verschiedene Ebenen des ‚Ursprünglichen‘ und des ‚Abgeleiteten‘ aufteilen lassen“ (Butler. Das Unbehagen der Geschlechter, S. 33).

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Eldracher, M., Meyhöfer, F. (2023). Die dekonstruktive Kritik an Begründungsfiguren und Hierarchien. In: Soziologisch denken mit Jacques Derrida. Philosophische Grundlagen der Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41802-1_3

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