Endsieg-Fiktionen

Vergangenheitsentwürfe als kontrafaktische Spielräume einer nationalsozialistischen Zeitgeschichte in The Man in the High Castle und SS-GB.

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Dystopien in Serie
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Zusammenfassung

„Das déjà vu ist jetzt historisch“ wissen die Einstürzenden Neubauten zu singen (Ich gehe jetzt, 2004). Und das gilt vielleicht auch für eine besondere Form der Dystopie: die kontrafaktische Erzählung. Sie entwirft keine Zukunftsvision, sondern ein verändertes Bild der Vergangenheit, das ganz anders ist – aber doch seltsam vertraut. In der Literatur, dem Film und der Serien sind vor allem solche Szenarien verbreitet, in denen Hitler den Krieg gewinnt – oder zumindest die Schlacht um England. Wie sähe es aus, wenn die Nazis die USA oder Großbritannien regierten? Solche Endsieg-Fiktionen bestimmen Serien wie The Man in the High Castle (USA 2015–2019) und SS-GB (GB 2017).

„Es wird wie’s war und wahr wird nichts“ (Ich gehe jetzt, Einstürzende Neubauten 2004): In Abgrenzung zur Geschichtsfälschung und zu fake news, aber auch zu Alternativweltgeschichten und Zeitreisenarrativen diskutiert der Beitrag den Möglichkeitsraum alternate histories vor dem Hintergrund ihres Gegenwartsbezugs.

„Was ist ist

Was nicht ist ist möglich

Nur was nicht ist ist möglich“

Was ist ist.

(Einstürzende Neubauten (1996))

„Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche.“

(Weber 1988 [1906], S. 287)

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Notes

  1. 1.

    Hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe 1987 (S. 55; Auflage unbekannt). Hans W. Geißendörfer verfilmte den Roman 1993 als deutsch-schweizer Koproduktion.

  2. 2.

    Dürrenmatt liefert mit seinem Fortsetzungsroman Der Verdacht (1951/52, Buchausgabe 1953) ein schönes Beispiel dafür (hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe von 1998; Auflage unbekannt), wenn der bereits aus Der Richter und sein Henker (1950/51, Buchausgabe 1952) bekannte Kommissär Bärlach über das Mögliche sinniert: „Wir haben zusammen verschiedene Thesen aufgestellt. Alle sind möglich. Dies ist der erste Schritt. Der nächste wird sein, daß wir von den möglichen Thesen die wahrscheinlichen unterschieden. Das Mögliche und das Wahrscheinliche sind nicht dasselbe; das Mögliche braucht noch lange nicht das Wahrscheinliche zu sein.“ (S. 169) Als sein Gegenüber schließlich davon überzeugt ist, dass Bärlach ihm „die Wahrheit bewiesen“ habe, entgegen dieser aber: „Wir dürfen jetzt nicht übertreiben […] Ich habe dir nur die Wahrscheinlichkeit meiner Thesen bewiesen. Aber das Wahrscheinliche ist noch nicht das Wirkliche.“ (S. 176)

  3. 3.

    Das gilt aus theoretischer Perspektive selbst für den Dokumentarfilm.

  4. 4.

    Der Titel ist eine Anspielung auf Sinclair Lewis Roman It Can’t Happen Here/Das ist bei uns nicht möglich (1935), der 1968 von Network-Sender ABC als Pilotfilm einer nie realisierten Serie unter dem Titel Shadow on the Land (Richard C. Sarafian) verfilmt wurde. Das Buch entwirft den Aufstieg eines Populisten zum Präsidenten – und Diktatoren Amerikas. Nach Donald Trumps Amtsantritt wurde der Roman vielfach als visionär beschrieben.

  5. 5.

    Zuweilen wird dafür (insbesondere für die Vergangenheitsutopie/-dystopie) auch der auf Charles Renouviers Uchronie. Utopie dans lHistoire (1856/7) zurückgehende Begriff Uchronie benutzt (vgl. Evans 2014: 24). Der Text erschien 1856 und 1857 in zwei Teilen in La Revue philosophique et religieuse (vgl. Terzi <CitationRef CitationID="CR15" >2021</Citation Ref>). In der Regel wird auf die erweiterte Buchausgabe, die 1876 unter dem Titel Uchronie (lutopie dans lhistoire), esquisse historique apocryphe du développement de la civilisation européenne tel quil na pas été, tel quil aurait pu être erschien, verwiesen.

  6. 6.

    Dies liegt auch daran, dass den Figuren der Wechsel in eine andere Dimension nur möglich ist, wenn ihr dortiges Ich nicht mehr lebt.

  7. 7.

    Obwohl im Rahmen der Serien von einer Vielzahl von miteinander verbundenen Dimensionen gesprochen wird, ist in der Diegese nur die Dimension unserer Realität (die Nebenwelt) für einzelne Figuren erreichbar. Die narrativen Möglichkeiten des Multiversums werden so – anders als bspw. in Sliders – nicht ausgespielt.

  8. 8.

    Auch diese werden in der Regel aufgrund der intendierten Ähnlichkeit mit der irdischen (historischen) Realität alt Alternativweltgeschichten wahrgenommen.

  9. 9.

    Im ‚Kleinen‘ geht es auch in Quantum Leap/Zurück in die Vergangenheit (USA 1989–1993; ein Remake läuft seit 2022) um das Korrigieren der Vergangenheit (allerdings vor allem auf der Ebene persönlicher Schicksale). Hier greift der ‚Zeitreisende‘ Dr. Samuel „Sam“ Beckett (Scott Bakula) – mehr oder weniger unkontrolliert von einer Zeit in die andere springend (ein Motiv, das sich bereits in The Time Tunnel/Time Tunnel, USA 1966–1967; findet) – aber in die Ereignisse ein, um von der ursprünglichen Realität abweichende, wünschenswerte (moralisch ‚gute‘ bzw. ‚richtige‘) Veränderungen in der Geschichte (zumindest einzelner Menschen) zu erreichen. Diese ‚Korrekturen‘ ermöglichen ihm, getrieben durch eine unerklärte Macht (Gott?), den Sprung auf eine neue Zeitebene, in der Hoffnung, irgendwann wieder ‚zuhause‘ (also in ‚seiner‘ Zeit) anzukommen. – Anders gelagert ist die Zeitreiseserie Seven Days/Seven Days – Das Tor zur Zeit (USA/CAN 1998–2001). In ihr gelingt der Zeitsprung nur für sieben Tage. Daher werden nur aktuelle ‚Fehlentwicklungen‘ (Katastrophen, Terroranschläge etc.) in der Gegenwart rückwirkend verhindert.

  10. 10.

    Zeitreisenarrative des letzten Falles zählen allerdings in der Regel nicht zu kontrafaktischen Erzählungen, da in der Vergangenheit zukünftige Ereignisse verhindert werden sollen. Die ‚Vergangenheit‘ stellt in ihnen unsere Gegenwart dar (siehe z. B. das Terminator-Franchise seit 1984 oder Travelers/Travelers – Die Reisenden, USA/CAN 2016–2018).

  11. 11.

    Zeitreisenarrative spielen mit den in der Zeitphilosophie bekannten Ordnungsreihen (vgl. Steinfath und Clausen <CitationRef CitationID="CR12" >2023</Citation Ref>) früher – später – gleichzeitig sowie vergangen – gegenwärtig – zukünftig: Oft muss in ihnen sichergestellt werden, dass etwas geschehen wird, das schon längst geschehen ist. Für solche Erzählungen gilt eben nicht, „dass wir die Zeit als einen Fortgang vom Früheren zum Späteren oder als eine Transition vom ‚noch nicht‘ zum ‚nicht mehr‘ erleben“ (Steinfath und Clausen <CitationRef CitationID="CR12" >2023</Citation Ref>, S. 11). Hier kann auch gelten: „Es gibt sie gestern nicht mehr // und morgen noch nicht.“ (Die Interimsliebenden, Einstürzende Neubauten 1993) – Eher unreflektiert wird mit Zeitreisen in Kinder- und Jugendserien umgegangen, die einen starken ‚Bildungsauftrag‘ haben (und in erster Linie geschichtliches Wissen vermitteln wollen, siehe bereits Captain Z-RO, USA 1951–1956).

  12. 12.

    Kings Roman wurde 2016 als achtteilige Miniserie für den Streamingdienst Hulu verfilmt (11.22.63/11.22.63 – Der Anschlag).

  13. 13.

    „In diesen Deutungen wird ersichtlich, wie eine bestimmte Zeit auf einen Punkt in der Vergangenheit zurückschaut und sich gleichsam an diesen erinnert, ihn reaktualisiert. Daraus folgt ein nahezu didaktischer Ansatz, denn es geht nicht nur um die Ausstaffierung dessen, was hätte anders sein können, sondern gleichzeitig um die Handlungsfähigkeit (und Handlungsmacht) des Individuums, dessen Wirkmacht auf die und in der Geschichte ihm so (zurück)gegeben wird.“ (Haupts <CitationRef CitationID="CR5" >2016</Citation Ref>, S. 149 f.) In der Science Fiction kann eine solche Vorstellung ihrerseits konterkariert werden, wenn z. B. in der Folge Lullaby/Schlaflied (USA 2016; Steven A. Adelson) der Zeitreiseserie 12 Monkeys die Zeit selbst eingreift, damit die Erfindung der Zeitreise nicht verhindert wird. In anderen Folgen wird auch das Schicksal-kann-man-nicht-verhindern-Narrativ aufgerufen: Egal was die Zeitreisenden tun, bestimmte Figuren sterben immer zu einem festgelegten Zeitpunkt. Selbst der verfrühte Tod Hitlers, der in Zeitreisenarrativen in der Regel vermieden wird, um den Weltenlauf nicht zu verändern (Staffel 4, Folge Die Glocke/Die Glocke, USA 2018; David Grossman), zeitigt in 12 Monkeys keine große Wirkung auf die Historie.

  14. 14.

    Im Unterschied dazu ist bereits It happened here eine Vergangenheitsfiktion.

  15. 15.

    Wenn Rauch (<CitationRef CitationID="CR9" >2019</Citation Ref>, S. 202) den Tod Brunis (Franziska Oehme) als symbolische Bestrafung ihrer „Rassenschande“ interpretiert, dann zeigt sich daran die besondere Schwierigkeit mit diesem Film, der als verharmlosend und relativierend oder gar revisionistisch gelesen werden könnte. Davor ‚schützt‘ ihn die jüdische Herkunft von Drehbuchautor Leo Lehman(n) und Regisseur Michael Kehlmann, sodass man ihm wohl kaum eine solche Intention unterstellen möchte.

  16. 16.

    In gewisser Weise spielt der Film 36 Hours/36 Stunden (USA 1964; George Seaton) mit einem solchen Zeitverlauf. Hier wird innerhalb der Diegese – der Film spielt vor der Invasion der Alliierten in der Normandie – einem Kriegsgefangenen eine Zukunft nach dem Sieg über Nazi-Deutschland vorgespielt, damit dieser die Angriffspläne verrät. Aber auch diese mögliche Zukunft liegt in der Vergangenheit der Entstehungszeit des Films.

  17. 17.

    Putins Größenwahn, Trumps Naivität sowie beider Rachsucht und Beratungsresistenz führen in dieser Zukunftsvision (unweigerlich) zum Dritten Weltkrieg.

  18. 18.

    Zitiert nach der deutschsprachigen Erstveröffentlichung, die als Taschenbuch 1984 bei Heyne erschienen ist.

  19. 19.

    Solche Zukunftsszenarien können sich in ihrem appellativen Charakter deutlich unterscheiden. Oft ist er – wie hier – eher schwach ausgeprägt. Leser und Zuschauer sollen quasi selbst ihre Schlüsse ziehen.

  20. 20.

    Rückblickend erinnert der Roman auch daran, dass der Kriegseintritt der USA keinesfalls selbstverständlich war – und die Vergangenheit sich auch in Europa hätte anders entwickeln können.

  21. 21.

    Hier sind dann auch die medialen Unterschiede von Buch und Film interessant: Während es im Buch offen bleibt, ob es Sturmbannführer Xavier March/Xaver März gelingt, Beweise für den Holocaust von seiner Geliebten in die Schweiz schmuggeln zu lassen, gelingt es ihm in der Verkörperung durch Rutger Hauer im Film, die Unterlagen dem amerikanischen Präsidenten Joseph P. Kennedy zuzuspielen – und damit das Ende von Germania zu besiegeln.

  22. 22.

    Auch in der Geschichtswissenschaft gibt es kontrafaktisches Erzählen als nicht unumstrittene Methode (vgl. bspw. Evans 2014; Gallagher <CitationRef CitationID="CR3" >2018</Citation Ref>). Im Rahmen dieses Aufsatzes wird dieser Aspekt ausgeklammert. Er zeigt aber die grundlegende erkenntnistheoretische Dimension des Verfahrens als ‚Gedankenexperiment‘ (Kirchmann <CitationRef CitationID="CR7" >2019</Citation Ref>, S. 17), die mehr oder weniger explizit auch in den entsprechenden Filmen und Serien aufscheint.

  23. 23.

    Gerade das macht oftmals den Reiz solcher Erzählungen und das Vergnügen an ihnen aus. So spielt bspw. X-Men: First Class/X-Men Erste Entscheidung (USA/GB 2011; Matthew Vaughn) mit dem historischen Hintergrund der Kubakrise 1962.

  24. 24.

    Evans (<CitationRef CitationID="CR1" >2014</Citation Ref>, S. 63 f.) kritisiert dabei, dass Zufälle und die Handlungsmacht Einzelner gegenüber systemischen Zusammenhängen und komplexen Konstellationen (insbesondere aus konservativer Sicht) in der kontrafaktischen Geschichtsschreibung oft überbetont/überinterpretiert würden.

  25. 25.

    Dies trifft auch auf Thriller wie Operation Napoleon/Gletschergrab (IS/D 2023; Óskar Þhór Axelsson) zu, bei denen eine vertuschte Verschwörung der Vergangenheit (hier: die USA – zumindest einzelne Vertreter aus Wirtschaft, Militär und Regierung – wollten Hitler am Ende des Krieges die Flucht ermöglichen) in der Gegenwart aufgedeckt wird. Der Umstand der Verschwörung (die Buchvorlage Napóleonsskjölin/Gletschergrab von Arnaldur Indriðason erschien 1999) hat aber offenbar keinerlei Auswirkungen auf den Geschichtsverlauf. Dies fällt im Roman umso mehr auf, da dort die Schlusspointe offenbart, dass Hitler die Flucht nach Südamerika gelungen sei – während dies im deutsch co-produzierten Film nicht der Fall ist; oder sein darf (hier wird nur eine Karte gefunden, die das Versteck eines sagenumwobenen Nazi-Schatzes zeigt). Solche Thriller (siehe z. B. auch die Dan Brown-Romane und -Verfilmungen) spielen mit historischen Mythen und Verschwörungstheorien, sind aber keine kontrafaktischen Erzählungen in dem hier betrachteten Sinne.

  26. 26.

    Von der italienischen Vorlage Quel maledetto treno blindato/Ein Haufen verwegener Hunde (I 1978; Enzo G. Castellari) weicht Tarantinos Version wesentlich ab. Insbesondere bezüglich des Attentats auf Hitler.

  27. 27.

    Anders gesagt: Nicht jede historische Fiktion ist als Uchronie zu begreifen, da sich historische Fiktionen grundsätzlich vor einem geschichtlichen Hintergrund entfalten; das macht einen großen Teil ihres Reizes aus (siehe z. B. die Bernhard Gunther-Krimis von Philip Kerr, die zwischen 1993 und 2019 veröffentlicht wurden, oder die seit 2008 erscheinenden Gereon Rath-Romane von Volker Kutscher, die die Vorlage für Babylon Berlin sind). Selbst wenn Figuren und ein Großteil des Erzählten fiktiv sind, so sind solche Narrative ihrer Intention nach nicht kontrafaktisch.

  28. 28.

    Dass Hitler am Ende stirbt, überrascht in der Fiktion ja gerade deshalb, weil wir wissen, dass der reale Hitler sämtliche Attentatsversuche überlebt hat. Wir warten daher auch im Film darauf, dass er sich – wissentlich oder nicht – der Gefahr wieder einmal entziehen wird.

  29. 29.

    Man kann Der 21. Juli daher als Mock-Format-Film (Mundhenke <CitationRef CitationID="CR8" >2011</Citation Ref>) bzw. im weiteren Sinne als fiktive Dokumentation (vgl. Hißnauer <CitationRef CitationID="CR6" >2010</Citation Ref>) begreifen. Gegenüber Filmen und Serien sind Vergangenheitsfiktionen dieser Darstellungsform wie Der Dritte Weltkrieg (D 1998; Robert Stone) oder C.S.A. – The Confederate States of America (USA 2004; Kevin Willmot) oftmals in ihrem Anspruch journalistischer.

  30. 30.

    Meines Erachtens sollte man diese Differenzierung idealtypisch betrachten.

  31. 31.

    ‚Reale Personen‘ (bzw. darauf basierende Figuren) stellen in ihnen oftmals nur Rand- bzw. Nebenfiguren dar, die das Szenario authentifizieren.

  32. 32.

    Die eher als alternative Gegenwartsentwürfe zu verstehen sind.

  33. 33.

    Iron Sky ist dabei ein gutes Beispiel dafür, dass die Dämonisierung auch mit einer satirisch-parodistischen Überspitzung einhergehen kann, wie dies auch in der völlig freidrehenden Agenten-, Superhelden- und Horrorfilmparodie Danger 5 (AUS 2011/2012–2015) der Fall ist, in der eine Gruppe von Agenten in einem 1960er-Jahre (1. Staffel) bzw. 1980er-Jahre (2. Staffel) Setting versuchen, Hitler zu töten.

  34. 34.

    Vor dieser Folie seien mindestens „drei spezifische Merkmale“ (Rhein et al. <CitationRef CitationID="CR10" >2019</Citation Ref>, S. 16) identifizierbar, die aktuelle Alternativweltgeschichten ausmachten. Die geraten m. E. aber auch recht allgemein: Erfolg – eine ironisch-provokative Haltung gegenüber den kulturellen Codes und Verweissystemen – Digitalisierung und Webkultur.

  35. 35.

    Wenn Himmler (Kenneth Tigar) im Finale der 3. Staffel feierlich die Freiheitsstatue sprengen und das Jahr Null als ‚Beginn einer neuen Ära‘ ausrufen lässt, so ist dies ein direkter Verweis auf Lightning in the Night: Hier sinniert Hitler bei seinem Besuch in New York: „Die Freiheitsstatue bezeichnete er verächtlich als ‚das Geschenk eines untergegangenen Frankreichs an ein untergehendes Amerika‘. Vor seiner Rückreise nach Deutschland versprach er: ‚Dieses Symbol eines dekadenten Konzepts wird bald durch ein passendes männliches Denkmal der deutschen Jugend ersetzt werden.‘“ (S. 238) – Was Hitler im Roman nicht gelingt, weil die USA die vollständige Eroberung noch abwenden und einen Frieden mit dem Großdeutschen Reich erzwingen können, wird in der Serie aufwändig visualisiert.

  36. 36.

    ‚Nazis‘ gehen natürlich auch in der deutschsprachigen Literatur immer. So finden sich auch hier Alternativweltgeschichten wie bspw. Otto Basils Wenn das der Führer wüßte (1966) oder Andreas Eschbachs NSA – Nationales Sicherheits-Amt (2018).

  37. 37.

    In einer sehr eindringlichen Szene sieht man aber bereits zu Beginn der Serie (Folge 2: Sunrise/Die Plage der Heuschrecke, USA 2015; Daniel Percival), als Takeshi Kido (Joel de la Fuente), Chef der Militärpolizei in San Francisco, Frank Frinks (Rupert Evans) Schwester und deren Kinder im Kempeitai-Gebäude in einer als Warte-/Aufenthaltsraum getarnten Kammer vergasen lässt, dass Juden auch in den japanischen Pazifikstaaten jeder Zeit bedroht sind.

  38. 38.

    Poniewozik, James, 2015: Review: ‘The Man in the High Castle’ Imagines America Ruled by 2 Foreign Powers. New York Times vom 19. November 2015 (https://www.nytimes.com/2015/11/20/arts/television/review-the-man-in-the-high-castle-imagines-america-ruled-by-2-foreign-powers.html).

  39. 39.

    Moritz Fink diskutiert die Serie hingegen als Post-9/11-Fiktion, die auf das Why-We-Fight-Narrativ im Zweiten Weltkrieg anspielt: „But this fear is kept in check by the (safe) reasoning that High Castle presents an alternative course of history that we know to be fictional. Thus, in a post-postmodernist (and quite patriotic) sense, the series makes the argument that fiction might become reality were it not for a strong American government that is willing to adopt an active role in the course of history – with all the misconduct this might entail.“ (Fink <CitationRef CitationID="CR2" >2016</Citation Ref>, S. 145)

  40. 40.

    Saraiya, Sonja, 2015: Visions of a Nazi America: How “The Man in the High Castle” both sharpens and blurs the lines between “us” and “them”. The television adaptation of the Philip K. Dick novel departs from the book but asks even darker questions. Salon.com vom 25. November 2015 (https://www.salon.com/2015/11/25/visions_of_a_nazi_america_how_the_man_in_the_high_castle_both_sharpens_and_blurs_the_lines_between_us_and_them/).

  41. 41.

    Im Buch wird die Abweichung zur ‚realen‘ Geschichte explizit beschrieben (bspw. die Vormachtstellung Großbritanniens).

  42. 42.

    Zitiert nach der 4. Auflage (2004) der ungekürzten Neuübersetzung, die erstmals im Jahr 2000 als Taschenbuchausgabe bei Heyne erschienen ist. – Deutlicher als in der Serie wird die Nebenwelt im Roman als Utopie herausgestellt (und bezeichnet): „‚Weißt du, was er getan hat‘ fiel Joe ihr ins Wort. ‚Er hat das Beste vom Nazismus übernommen […] und wem schreibt er es zu? Dem New Deal. Und das Schlimmste hat er ausgelassen, die SS, die rassischen Säuberungen und die Rassentrennung. Das ist eine Utopie! […] Er behauptet, man hätte all das Gute und nichts von dem Schlechten …‘“ (S. 203) In der Serie gewinnen die Filmstreifen ihren utopischen Charakter aus der Vorstellung, dass die Nazis besiegt werden könnten, weniger aus der Darstellung einer besseren Gesellschaft. Diese wird letztendlich nur von wenigen Figuren im Rahmen der narrativen (Alternativ-)Wirklichkeit erlebt.

  43. 43.

    Von Haft und Krankheit gezeichnet, kaum noch in der Lage zu sprechen, würde er kein ‚gutes Bild‘ für ein kämpferisches, heldenhaftes und starkes England abgeben.

  44. 44.

    Peter Waldmann (<CitationRef CitationID="CR17" >2003</Citation Ref>, S. 40) folgend kann man Terrorismus daher auch als „Spezialfall des Handlungsprinzips ‚Provokation‘“ verstehen: „Der tiefere Sinn der Provokation und des Terrorismus als einer Spezialform desselben liegt darin, in den Augen des Publikums einen Rollenwechsel zu inszenieren: vom Angreifer zum Angegriffenen zu werden und den Angegriffenen als den Angreifer hinzustellen.“ (Waldmann <CitationRef CitationID="CR17" >2003</Citation Ref>, S. 41)

  45. 45.

    James, Clive, 2017: ‘I’ve been going deaf for years, so wouldn’t have been able to hear SS-GB anyway.’ After the first episode, I was wi** the blood from my ears with Kleenex. The Guardian vom 4. März 2017 (https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2017/mar/04/clive-james-going-deaf-years-hear-ss-gb-television).

  46. 46.

    O’Toole, Fintan, 2018: The paranoid fantasy behind Brexit. In the dark imagination of English reactionaries, Britain is always a defeated nation – and the EU is the imaginary invader. The Guardian vom 16. November 2018 (https://www.theguardian.com/politics/2018/nov/16/brexit-paranoid-fantasy-fintan-otoole).

  47. 47.

    Boyle, Nicholas und Sascha Zastiral, 2017: „Die Engländer halten sich für einzigartig.“ England hat nie gelernt, anderen Staaten auf Augenhöhe zu begegnen, sagt der britische Germanist Nicholas Boyle. Das zeigt sich im Brexit und im Umgang mit Schottland. Zeit online vom 25. März 2017 (https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-03/brexit-grossbritannien-referendum-theresa-may-eu/komplettansicht).

  48. 48.

    O’Toole, Fintan, 2018: The paranoid fantasy behind Brexit. In the dark imagination of English reactionaries, Britain is always a defeated nation – and the EU is the imaginary invader. The Guardian vom 16. November 2018 (https://www.theguardian.com/politics/2018/nov/16/brexit-paranoid-fantasy-fintan-otoole); Herv. CH.

  49. 49.

    Unsere Realität bleibt in The Man in the High Castle ein Imago, da nur diejenigen in diese Welt wechseln können, deren dortiges alter ego bereits verstorben ist.

  50. 50.

    Zu räumlichen Aspekten der dystopischen Serialität siehe den Beitrag von Franz Kröber in diesem Band.

  51. 51.

    Man mag es daher fast als ironischen Kommentar lesen, dass eine der Hauptfiguren, Frank Frink, sein Geld mit gefälschten Artefakten der US-amerikanischen Geschichte verdient, deren Originalität er stets beteuert.

  52. 52.

    „Filme können gar nicht anders“, so Wahl (<CitationRef CitationID="CR16" >2019</Citation Ref>, S. 68), „als andere Filme zu zitieren, weshalb Filme mit historischen Themen immer die vielschichtige Vermitteltheit jeglicher Annäherung an die Vergangenheit zum Thema hat.“ So erinnert der Kommandoraum in Berlin nicht von ungefähr an Stanley Kubricks Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb/Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (GB/USA 1964). Die visuelle ‚Oberfläche‘ ist darüber hinaus in Filmen und Serien selten – insbesondere nicht in kontrafaktischen Vergangenheitsentwürfen – ‚reine‘ Oberfläche: Sie reflektiert, „wie wir diese Epochen seit Jahrzehnten medial vermittelt imaginieren und wie wir sie auf unsere heutige Situation und die gegenwärtigen Möglichkeiten beziehen“ (Wahl <CitationRef CitationID="CR16" >2019</Citation Ref>, S. 65).

  53. 53.

    Gleichwohl mag es möglich sein, sich vom Nazi-Chic und seiner Ästhetik verführen und faszinieren zu lassen (grundlegend dazu Stiglegger <CitationRef CitationID="CR13" >2011</Citation Ref>, <CitationRef CitationID="CR14" >2016</Citation Ref>).

  54. 54.

    Allerdings ließe sich diskutieren, ob nicht Serien wie Hollywood (USA 2020) oder Bridgerton (USA 2020– ) unter diversity-Aspekten als utopische Vergangenheitsentwürfe verstanden werden könnten (vielen Dank an Mark Schweda für den Hinweis).

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Hißnauer, C. (2024). Endsieg-Fiktionen. In: Hißnauer, C., Klein, T., Schlösser, L., Stiglegger, M. (eds) Dystopien in Serie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41677-5_16

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-41677-5_16

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-41676-8

  • Online ISBN: 978-3-658-41677-5

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