Zusammenfassung
Mit dem Begriff des „natürlichen Willens“ wird in der Medizin- und Pflegeethik auf das Phänomen rekurriert, dass Patienten in Grenzsituationen auch unterhalb der Ebene reflektierter verbaler Willensbekundung Präferenzen und Erwartungen zum Ausdruck bringen können, deren normativer Status insbesondere dann strittig sein kann, wenn die „natürliche“ Willensbekundung in Konflikt mit früheren eigenen Festlegungen in einem „vorausverfügten Willen“ geraten. Der aktuellen Tendenz, dem „autonomen“ Willen dabei den Vorrang gegenüber dem „natürlichen“ Willen zuzusprechen, steht dabei eine andere Tendenz im Betreuungsrecht gegenüber, die sich inzwischen verstärkt zugunsten einer Beachtlichkeit des „natürlichen Willens“ Geltung verschafft hat. Der vorliegende Beitrag zeigt auf, dass eine Lösung der hier auftretenden Streitfragen leichter herbeigeführt werden kann, wenn man sich auf die Differenzierungen besinnt, die eine inzwischen mehr als 2000-jährige Begriffsgeschichte des „natürlichen Willens“ entfaltet hat. Dabei wird zum einen deutlich, dass es unterschiedliche Konzeptionen des „natürlichen Willens“ gibt, die von naturalistischen Deutungen bis zu theologischen Dimensionen des Begriffs reichen. Zugleich wird es möglich, zwischen dem natürlichen und dem freien Willen nicht notwendig eine strikte Opposition zu sehen, sondern eine Komplementarität zu denken, die der menschlichen Ganzpersonalität besser gerecht wird als Reduktionismen aller Art. Insbesondere stellt sich die Frage, ob der natürliche Wille nicht als ein auf Autonomie hin gerichtetes Wollen verstanden werden kann, in dem sich eine ursprüngliche Selbstbejahung des Individuums vollzieht.
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Notes
- 1.
Die Feststellung von Jox aus dem Jahre 2006 ist inzwischen bezüglich „Gesetz und Jurisdiktion“ einzuschränken; cf. dazu unten Fn. 11 und 12.
- 2.
Für das für alle Erkenntnistheorie nicht nur beiläufige, vielmehr immer wieder auch aporetische Problem eines nicht-propositionalen Wissens sei hier exemplarisch auf Hogrebe (1996) verwiesen.
- 3.
Cf. in diesem Sinne außer der in Fn. 1 bereits genannten Publikation auch den für einen größeren Adressatenkreis bestimmten Text von Ralf J. Jox et al. (2014).
- 4.
Von einer Beachtlichkeit des Einzelwillens geht in der Rechtssphäre eher das Zivilrecht als das öffentliche Recht aus; Theorien über den „Gesellschaftsvertrag“ versuchen sodann, sie auch auf die öffentlich-rechtliche Ebene zu heben. Die Beachtlichkeitsthese bleibt dabei freilich solange eine dogmatische Setzung, wie nicht aufgezeigt werden kann, dass das Recht selbst seinen Ursprung und seine eigentliche Existenz n der Selbstaffirmation der Freiheit gerade auch unter empirischen Bedingungen hat. Dies aufgezeigt zu haben, ist das entscheidende Verdienst der Rechtsphilosophien Kants, Fichtes und Hegels.
- 5.
Das Recht kennt auch weitere Figuren, so etwa den „hypothetischen“ oder den „fingierten“ Willen, auf die wir hier jedoch nicht weiter eingehen werden.
- 6.
Dworkin hat in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen den „critical interests“ einer rational selbstbestimmten Person und den bloßen „experimental interests“ einer kranken getroffen und gefordert, dass im Zweifel die ersteren die letzteren ausstechen sollen: der zu einem bestimmten Zeitpunkt gegenständlich niedergelegte und als wohlerwogen geltende „Wille“ soll gegenüber dem aktuellen subjektiven „Wollen“ höherrangig sein. Die notwendige Diskussion mit Dworkin eröffnet hat dann Rebecca Dresser (1995).
- 7.
- 8.
Cf. dazu z. B. den Beitrag in der Berliner Morgenpost vom 20.7.2009 „Walter Jens: Bitte nicht totmachen!“.
- 9.
Cf. die Erinnerungen von Tilman Jens (Demenz: Abschied von meinem Vater, 2010, 153 f. u. ö.). An anderer Stelle verweist Tilmann Jens auf „einen Hauch jener Freude“, die sein Vater „einst als das zentrale Lebenselixier beschrieb“ und die er offenbar auch als Dementer „verspürt“ (145). Damit ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass nicht auch ein Todeswunsch im Modus des „natürlichen Willens“ artikuliert werden kann, ja sogar eine „Dialektik“ von Haben und Nichthaben dieses Wunsches beobachtet werden kann (cf. ibd.).
- 10.
Der Bereich der Psychiatrie ist für die Frage schon deshalb von besonderem Interesse, weil in ihm Behandlungen regelmäßig auch mit intensiven gegenläufigen Äußerungen eines natürlichen Willens konfrontiert sind, die bei allem Anschein nach fehlender Einsicht in Sinn und Zweck der Behandlung in ganz anderer Weise „real“ sind, als es eine in der Vergangenheit „einsichtsvoll“ getroffene, jetzt in Papierform vorliegende Verfügung sein kann. Das philosophische Problem lässt sich dahin zuspitzen, dass beide Willensmanifestationen als Ausdruck eines Selbstbehauptungswillens verstanden werden können, was wiederum darauf verweist, dass das personale Selbst nur als dialektische Einheit von substantieller (lebendiger) und rationaler Selbstidentifikation zu denken ist. Darin liegt zugleich die Warnung, personale Identität nicht reduktionistisch nur nach der einen oder der anderen Seite aufzufassen. Die Person ist weder alleine „materialistisch“ (als organischer Vollzug) noch „idealistisch“ (als abstrakter Bezugspunkt der Reflexion) zu verstehen, sondern in letzter Instanz als anthropologisch-biographische Einheit beider Aspekte zu denken.
- 11.
Der Begriff des natürlichen Willens wurde in das BGB (cf. dort § 1906a) erstmals 2013 aufgenommen; dazu Neuner (2018). Den sich in der Norm findenden definitorischen Gehalt fasst Neuner rein negativ zusammen: „De lege lata ist unter dem „natürlichen Willen“ somit eine Willensäußerung zu verstehen, die von keiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit geleitet wird. […] Der Betroffene ist mangels Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit nicht in der Lage, sein unmittelbares Wollen zu bewerten“ (15). Cf. außerdem etwa Lipp (2017).
- 12.
Im Blick auf neuere BGH-Entscheidungen cf. Magnus (2018).
- 13.
- 14.
Hegel (1821, § 11): „Der nur erst an sich freie Wille ist der unmittelbare oder natürliche Wille“. Der Inhalt des natürlichen Willens ist damit zugleich nur erst „an sich vernünftig“ und noch nicht in die „Form der Vernünftigkeit“ gesetzt, d. h. als vernünftig vermittelt und mitteilbar geworden; der „natürliche Wille“ ist auf Grund dieser Form-Inhalts-Diskrepanz „in sich endlicher Wille“. – Der natürliche Wille begegnet bei Hegel übrigens auch in der Psychologie (cf. Hegel 1830, § 473). – Zu der enzyklopädischen Abfolge fühlender Wille/überlegender Wille/sich selbst wollender Wille cf. Bergés (2012).
- 15.
Der Wille ist bei Hegel auch nicht (wie bei Kant) vom Kausalschema her gedacht, sondern vom freien Selbstbesitz her. Wenn es bei Kant (1790, AA V, 172) heißt: „Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt“, ist bei Hegel (1821, § 4) „die Freiheit“ die „Substanz und Bestimmung“ des Willens und die „Willensidee“ überhaupt als das „Selbstbestimmende“ zu denken, das den Inhalt „in sich selbst hat“ (Hegel 1813, 231). – Formal gibt es hier übrigens Parallelen zur Lehre von der „eingeborenen Freiheit“ bei Bernhard von Clairvaux („ubi voluntas, ibi libertas“); cf. dazu Ramelow (2004, 33).
- 16.
Wolff (1732, II, 1 § 880) definiert z. B. in der Psychologia empirica die „voluntas“ als „appetitus rationalis“; in § 886 folgt der ausdrückliche Bezug auf Aristoteles und die gegen Goclenius gerichtete Bestreitung der Möglichkeit, einen „Willen“ in diesem Sinne auch den Tieren beizulegen. Freilich klingt die These bei Goclenius (1977, 537) im 1609 erschienen Conciliator Philosophicus noch versöhnlicher: „Populariter loquendo, quomodo & Aristoteles interdum: Hoc velle est naturale appetere, propendere, inclinari, non consultò. Sic populari consuetudini dicuntur etiam bestiae velle libenter vel non libenter […] Hoc autem velle est appetitus sensitivi seu sensuum, & rectius appetere dicitur“.
- 17.
In der Stoa kann die
ganz aristotelisch als
, also als „wohlüberlegtes Streben“ bestimmt werden; cf. SVF III, 41,33 und 105, 20.
- 18.
Die Transformation im Vorverständnis dürfte hier schon in der Verschiebung von boúlhsiv zu lat. voluntas zu finden sein: aus dem „Ereignis“ wird hier ein „Etwas“, womit seinerseits wieder die Tradition der Willenshypostasierung anheben kann.
- 19.
Einen nicht schon durch einen Inhalt gebundenen „Willen“ gibt es bei Aristoteles nicht, daher weder ein „liberum arbitrium“ noch einen gänzlich unbestimmten, „unendlichen“ Willen.
- 20.
Der Dyotheletismus bzw. die Zwei-Willen-Lehre besagt, daß Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott auch über „zwei natürliche“ (
/naturales voluntates, d. h. der jeweiligen Natur gemäße) „Willen und natürliche Energien“ verfüge, dies jedoch so, daß sich der „menschliche Wille dem göttlichen und allmächtigen Willen nicht entgegenstellt, sondern ihm nachfolgt uns sich ihm unterordnet“ (cf. Denzinger und Schönmetzer 1976, n. 556).
- 21.
Cf. dazu die bereits genannte begriffsgeschichtliche Übersicht von Ramelow (2004) in Fn. 15; die folgenden Hinweise in diesem Abschnitt sind zum großen Teil dieser Studie entnommen.
- 22.
Zu Thomas insgesamt und auch seiner frühen Rezeption (etwa bei Walter von Brügge) cf. die Dissertation von Kim (2007). – Erwähnt sei hier noch die terminologische Klärung bei Armandus de Belvézer (14. Jhd.), der auf der einen Seite den immer eher instinktartigen „appetitus“ strikt von jeder Art „voluntas“ scheidet, auf der anderen aber eine „voluntas naturalis“ kennt, die „sequitur simplicem apprehensionem intellectus“; dieser steht eine „voluntas deliberativa“ gegenüber, die dem Intellekt frei und aus Überlegung folgt. Die „voluntas naturalis“ und die „voluntas deliberativa“ sind hier explizit nicht real unterschieden, sondern unterscheiden sich nur der Aktform des Willens, also der Modalität nach (cf. Armandus de Belvézer 1607, 240 f.). Auch bei Altenstaig wird es später heißen, dass der „natürliche“ Wille sich vom „freien“ Willen insoweit nicht unterscheidet, als beide Willensformen darauf gerichtet sind, eine bestimmte „perfectio“ zu erhalten, die ihr von Geburt an zugehörig ist (cf. Altenstaig und Tytz 1619, 977).
- 23.
Dies gilt insbesondere für Ockham, bei dem nun auch der Wille den Primat gegenüber der Vernunft besitzt; dazu Ramelow (2004, 51).
- 24.
Von Thomas her gedacht ist – summarisch gesprochen – Margos aktuale Lebensfreude Ziel und Zweck in sich selbst, während ihre Patientenverfügung nur der Ausdruck eines Versuchs der Mittelbestimmung war, der immer der Prüfung durch Dritte unterliegen kann.
- 25.
Wir begnügen uns zu dem prominenten Thema hier mit einem einzigen Hinweis auf eine Äußerung aus Luthers Tischreden vom 17. März 1539, wo es heißt: „Voluntas autem theologica est quaestio divinitatis, ubi omnes sumus peccatores, haben einen bosen Willen ab Adam. De illa voluntate theologica neque Aristoteles neque iuristae quid sentiunt, ideo merito excluduntur extra forum theologicum“ (Luther 1539, Nr. 4409, 298 f.). „Aristoteles“ steht hier für den teleologischen Willen, die Juristen für den „freien“; die Theologie behauptet quer zu beiden Perspektiven die Bosheit jeder Willensregung coram Deo.
- 26.
Ibd. Der Lutheraner Scherzer verweist in diesem Zusammenhang übrigens durchgängig auf den Aquinaten als seinen Gewährsmann.
- 27.
Cf. Spinoza, Ethica III, Prop. 9, Scholium, wo es auch heißt: „cupiditas est appetitus cum ejusdem conscientia“. Für den Gesamtzusammenhang cf. Bartuschat (1992, bes. 133–150).
- 28.
Cf. dazu noch einmal Ramelow (2004, 61 f.).
- 29.
Anders als bei Kant steht der „Naturwille“ bei Fichte dem „sittlichen Willen“ nicht einfach gegenüber: „Der Naturwille wird durch den sittlichen Willen nicht etwa beschränkt, geleitet, oder des etwas, (wie es Einige gern möchten;) sondern er wird als Wille, als letztes Bewegendes gänzlich aufgehoben, und wird Zweites, bloße zu bestimmende Kraft“ (ibd.).
- 30.
Cf. zum hier vorausgesetzten Verständnis Hoffmann (2016).
- 31.
Wobei freilich nicht zu übersehen ist, dass die Nietzschesche, immer auch experimentelle Rede vom „Willen zur Macht“ intellektuell wesentlich anspruchsvoller ist als das eher plumpe Willens-Postulat Schopenhauers. Nietzsche (1974, 62) weiß z. B., dass er mit dem Begriff „Willen“ bereits einer „falschen Verdinglichung“ aufsitzen kann; cf. dazu Simon (1989, 114 f.).
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Hoffmann, T.S. (2023). Voluntas naturalis. Geschichte und normative Dimensionen des Begriffs des „natürlichen Willens“. In: Fuchs, M.J., Hähnel, M., Simmermacher, D. (eds) Der Patientenwille und seine (Re-)Konstruktion. Philosophische Herausforderungen der angewandten Ethik und Gesundheitswissenschaften/ Philosophical Challenges of Applied Ethics and Health Sciences. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40192-4_2
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