Schlüsselwörter

Freiheit und Gleichheit, diese beiden Werte werden oft als die großen Gegenpole in westlichen politischen Systemen dargestellt. „Rechts“ will man mehr Freiheit, oft verstanden als Abwesenheit staatlicher Eingriffe, „links“ geht es um Gleichheit, die mit staatlichen Maßnahmen durchgesetzt werden muss. Doch dieses Bild wird der komplexen politischen Wirklichkeit heutiger Gesellschaften kaum noch gerecht (siehe auch Nassehi 2017). Und es übersieht, dass es die Demokratie selbst ist, die bestimmte Formen gleicher Freiheit zwingend erfordert.

Auf die Frage, auf welchen Freiheiten die Demokratie gründet, welche sie gefährdet, und welche sie fördert, gibt es viele mögliche Antworten – doch am fundamentalsten scheint mir der Zusammenhang zwischen Demokratie und einer bestimmten Form von Freiheit: der, als Gleiche:r unter Gleichen zu leben. Diese Freiheit ist selbst voraussetzungsreich, sie verlangt, dass bestimmte Abwehrrechte und damit „negative Freiheiten“ gegeben sind, und sie erfordert, dass die gesellschaftlichen Strukturen allen Mitgliedern der Gesellschaft das nötige Mindestmaß an materiellen Ressourcen sichern, was manchmal als „positive Freiheit“ verstanden wird (Herzog 2013). Die Freiheit, sich als Gleiche:r unter Gleichen zu erleben, ist nicht an Homogenität gebunden, im Gegenteil: sie ermöglicht und stützt die Vielfalt an Hintergründen und Lebensformen, die unser gesellschaftliches Leben bereichert. Aber sie zieht klare Grenzen für die Arten und Ausmaße von Ungleichheit, die eine Demokratie zulassen kann. Denn jenseits dieser Grenzen wird diese Form von Freiheit verunmöglicht und Demokratie untergraben.Footnote 1

Es ist ein interessantes Gedankenexperiment, sich auszumalen, wie die Begegnung zwischen den reichsten und den ärmsten Einwohner:innen eines Landes in verschiedenen Demokratien aussehen würde – „Gedankenexperiment,“ weil derartige Begegnungen leider kaum stattfinden. Aber wenn es sie gäbe, wie würden die Beteiligten es empfinden? Würden diese Menschen sich auf Augenhöhe begegnen? Könnten sie sich ehrlich die Meinung sagen? Oder wäre die Begegnung von Angst und Unterwürfigkeit auf der einen Seite und Überheblichkeit und Arroganz auf der anderen geprägt? Wie sähe es aus, wenn ein Rechtskonflikt oder ein Kampf um die öffentliche Meinung zwischen diesen beiden Parteien ausbräche? Wären Liebesbeziehungen zwischen Angehörigen dieser Gruppen möglich, wie sähe es mit beruflichen Partnerschaften aus? Und was sagen die Ergebnisse dieses Gedankenexperiments darüber aus, wie tief demokratische Werte und Prinzipien wirklich in unseren Gesellschaften verankert sind?

Die Tradition der republikanischen Freiheit

Wer die Freiheit, als Gleiche:r unter Gleichen zu leben, verteidigt, sieht sich sofort dem Vorwurf ausgesetzt, damit im Namen der Freiheit einen anderen Wert einschmuggeln zu wollen. Doch dieser Vorwurf verkennt, dass diese Freiheit im Zentrum einer der ältesten Traditionen des westlichen politischen Denkens steht: der republikanischen Tradition. Denn die Freiheit, als Gleiche:r unter Gleichen zu leben, ist die andere Seite der Medaille, nicht unter der willkürlichen Herrschaft eines Dritten zu stehen, zum Beispiel eines Tyrannen (siehe z. B. Pettit 1997; Skinner 1998). Von der Willkür eines/einer anderen abhängig zu sein, ist auch dann eine Form der Freiheitseinschränkung, wenn diese Person einem viel Spielraum lässt. Dieses Argument wird oft mit dem Beispiel des nachlässigen Sklavenhalters illustriert, der seinen Sklav:innen viele Freiheiten im Sinne der Abwesenheit von Hindernissen zugesteht – und der diese Zugeständnisse dennoch jederzeit rückgängig machen könnte. Sklav:innen sind aufgrund ihres Status unfrei. Der Gegensatz dazu ist der Status der freien Bürgerin oder des freien Bürgers, die nur den gemeinsam erlassenen Gesetzen der Gemeinschaft unterworfen sind, die sie selbst mitgestalten, und gleichzeitig durch basale Bürgerrechte vor einer möglichen „Tyrannei der Mehrheit“ geschützt sind.

Natürlich ist die Umsetzung dieser Freiheit in großen, komplexen Gesellschaften institutionell aufwendig. Es führt nicht weiter, eine Art Rousseau’schen Gemeinwillen zu postulieren und damit die komplexen Prozesse gesellschaftlicher Meinungsbildung auszublenden – und auch die vielen Probleme von Ungleichheit und Ausschluss, die dabei entstehen können. Vielmehr muss es darum gehen, die Institutionen von Rechtsstaat und Demokratie so auszugestalten, dass das Prinzip der Gleichheit aller Bürger:innen in ihnen bestmöglich zum Ausdruck kommt. Das verlangt unterschiedliche Formen von Repräsentation und Mitsprachemöglichkeiten, aber auch „checks and balances“, die zuverlässig verhindern, dass in die Rechte einzelner unverhältnismäßig eingegriffen wird. Gleichzeitig muss die Funktionalität von politischen Institutionen gewahrt bleiben, indem zum Beispiel klare Regeln für das Zustandekommen von Entscheidungen bestimmt werden.

Dieses Verständnis von Demokratie gesteht zu, dass die Abwägung unterschiedlicher Freiheiten ein komplexer Prozess ist. Das ist angesichts der zahlreichen sozialen Beziehungen, in denen Menschen untereinander stehen, aber auch nicht anders zu erwarten. Gerade ein „negatives“ Verständnis von Freiheit, das vor allem die Abwehr staatlicher Eingriffe betont, baut oft implizit auf einer atomistischen Vorstellung des Menschen auf, die vernachlässigt, dass die Verwirklichung von Freiheit gerade in sozialen Beziehungen stattfindet – wenn diese entsprechend ausgestaltet sind. Gleichzeitig gesteht es gegenüber normativ noch anspruchsvolleren Vorstellungen von „sozialer“ Freiheit (z. B. Honneth 2011) zu, dass nicht alle menschlichen Beziehungen im Sinne einer positiven Komplementarität ausgestaltet werden können, in der die Freiheit der einen die Freiheit des anderen konstitutiv voraussetzt.

Situationen des Konflikts sind angesichts natürlicher Knappheiten unvermeidlich; für sie müssen friedliche Lösungsmechanismen gefunden werden. Intensive, nach dem Modell der Liebesbeziehung oder Familie verstandene Beziehungen können nur in kleineren Gruppen, nicht auf der Ebene ganzer Gesellschaften, stattfinden. Allerdings können auch die Mitglieder ganzer Gesellschaften sich dafür einsetzen, dass die gleichen Rechte und der gleiche Status anderer Gesellschaftsmitglieder gegen Bedrohungen geschützt werden. Sie müssen sich als potentielle Partner:innen in gemeinsamen Projekten, zum Beispiel zur Organisation politischer Veranstaltungen, sehen können – oder auch als gleichberechtigte Gegner:innen, die aber die Grundprinzipien der Demokratie dennoch gemeinsam tragen. Diese Art von egalitärer Solidarität ist für Demokratien unverzichtbar.

Die republikanische Tradition hat eine natürliche Affinität zu einem Verständnis von Demokratie als nicht nur repräsentativ, sondern auch partizipativ (z. B. Pateman 1970). Ohne die Bedeutung repräsentativer Strukturen leugnen zu wollen, betont diese Richtung demokratischen Denkens die Einbindung aller Bürger:innen in demokratische Prozesse, nicht nur im politischen Geschehen auf großer (sprich nationaler) Bühne, sondern auch auf allen Ebenen föderaler Strukturen und auch in Bereichen des Lebens, die oft nicht als „politisch“ im engeren Sinne gefasst werden, zum Beispiel der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft. Denn nur, wenn Demokratie im Alltag der Einzelnen, in ihren Begegnungen untereinander und in der Gestaltung ihrer gemeinsamen Praktiken und Regeln verwurzelt ist, kann eine wirklich demokratische Haltung entstehen, die das Versprechen einlöst, nicht der Willkür anderer unterworfen zu sein.

Eine weitere Affinität besteht zu „epistemischen“ Theorien der Demokratie (z. B. Landemore 2013). Diese betonen, dass durch demokratische Prozesse – des Wählens, vor allem aber der vorangehenden gemeinsamen Deliberation – das „Wissen der Vielen“ in den politischen Prozess eingebracht werden kann. Die Vielfalt an Perspektiven erlaubt es, politische Probleme unterschiedlich zu beleuchten, oder sie überhaupt erst als Probleme zu artikulieren und ihnen eine diskursive Form zu geben, in der sie bearbeitbar werden. Wenn nur bestimmte Gruppen oder soziale Klassen an der politischen Diskussion teilnehmen, fallen die Interessen der anderen allzu leicht unter den Tisch. Dasselbe droht, wenn ungleiche Machtverteilung den Diskurs verzerrt: dann bekommen manche Positionen übermäßiges Gewicht, während andere aus Angst oder Frustration heraus überhaupt nicht geäußert werden. Können dagegen Bürger:innen aus ganz unterschiedlichen Hintergründen und mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten ihre Argumente in die Debatte einbringen, erhöht das die Chance, dass blinde Flecken vermieden, gute Ideen aufgegriffen, und die bestmöglichen Kompromisse gefunden werden. Das wiederum erhöht die Legitimität demokratischer Entscheidungen, die auch für diejenigen akzeptabler werden, die in einem konkreten Fall eine Niederlage erleiden.

Die wirtschaftlichen Voraussetzungen gleicher republikanischer Freiheit

Allerdings drohen all diese schönen Ideale – für die man durchaus auf gewisse Realisierungsansätze in der politischen Wirklichkeit verweisen kann – zu scheitern, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen einer Gesellschaft gleichberechtigte Verhältnisse unter ihren Bürger:innen unterminieren. Je nach historischer und geographischer Lage kommen die Bedrohungen dabei aus unterschiedlichen Richtungen. Mal sind es religiöse Vorurteile gegenüber Minderheiten, mal sind es jahrhundertealte Konflikte zwischen verschiedenen Ethnien, mal die von populistische Politiker:innen angeheizten Spannungen eines kulturpolitischen „wir“ gegen „die,“ und an den unterschiedlichsten Stellen, selbst in den scheinbar aufgeklärtesten Kreisen, halten sich hartnäckig sexistische und rassistische Strukturen und Vorurteile.

Ich möchte vor allem auf die Bedrohungen gleicher republikanischer Freiheit genauer eingehen, die sich durch eine immer stärker wachsende soziale Ungleichheit ergeben. Ein ungezügelter Kapitalismus – wirtschaftliche Freiheit vor allem für diejenigen, die sie rücksichtslos gebrauchen – gefährdet die Demokratie, weil er ihre sozialen Grundlagen unterminiert. Die ökonomischen und soziologischen Fakten variieren zwischen unterschiedlichen demokratischen Ländern, doch die Tendenzen der letzten Jahrzehnte gleichen sich (Piketty 2014). Während die Löhne und Gehälter der mittleren Einkommensklassen in den letzten 30 Jahren kaum gewachsen sind, konzentrieren sich hohe Einkommen und Vermögen bei einer kleinen Klasse von „Superreichen.“ Am unteren Ende der Einkommensskala herrschen prekäre Arbeitsverhältnisse vor, wobei Alleinerziehende (typischerweise Frauen) aufgrund mangelnder Kinderbetreuungsmöglichkeiten oft besonders schwer der Teilzeit- und Niedriglohnfalle entkommen können. Im Bereich der Normalverdienenden tut sich die Kluft auf zwischen denjenigen, die Vermögen, zum Beispiel in Form von Immobilien, erben, und denen, die dies nicht tun. In Europa wird durch steuerliche Umverteilung und wohlfahrtsstaatliche Unterstützung die Ungleichheit etwas reduziert, zumindest ihr Anstieg konnte zeitweise abgebremst werden. Trotzdem hat sich die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg offenbar bis weit in die Mittelschicht hineingefressen.

Die sich daraus ergebenden Formen von Ungleichheit kann man in vielen Fällen als ungerecht kritisieren; nicht zuletzt macht wachsende materielle Ungleichheit es tendenziell auch schwieriger, die Chancengleichheit in zukünftigen Generationen zu erhalten (z. B. Walton und Camia 2013). Doch ich möchte hier vor allem betonen, dass es auch aus demokratietheoretischer Sicht problematisch ist, wenn die materiellen Verhältnisse sich immer weiter auseinanderentwickeln und sich die unterschiedlichen Milieus so verfestigen, dass zwischen ihnen die Kontakte immer geringer werden – außer in Rollen, in denen es eine klare Über- und Unterordnung gibt, etwa in Form von Putzpersonal, das über eine App ins Haus bestellt wird. Das verringert nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass Individuen sich als Gleiche unter Gleichen empfinden. Es birgt auch das Risiko, dass das allgemeine Vertrauen in die Mitbürger:innen sinkt. Wie zahlreiche Studien bestätigen, sind ökonomisch ungleiche Gesellschaften mit höherer Wahrscheinlichkeit auch sogenannte „low trust“-Gesellschaften, in denen die Menschen angeben, dass man anderen, außerhalb von Familie und Freundeskreis, grundsätzlich nicht vertrauen könnte (Rothstein und Uslaner 2005). Nun müssen und können, wie oben schon erwähnt, die Bürger:innen einer Demokratie keine familiären Verhältnisse untereinander entwickeln. Ein gewisses Vertrauen stärkt jedoch die Chance, dass Menschen miteinander ins Gespräch kommen oder sich gemeinsam für politische Anliegen engagieren – und dies sind Dinge, die Demokratien dringend brauchen.

Eine weitere Gefahr ist, dass materielle Ungleichheiten in Ungleichheiten anderer Art übersetzt werden, die zentrale Werte des demokratischen Zusammenlebens unterminieren. Polemisch gesagt: wäre alles, was die Reichen mit ihrem Geld tun, davon Schweizer Uhren zu kaufen, wäre das demokratietheoretisch harmlos. Doch sie können davon auch teure Anwält:innen, den Zugang zu politischen Kreisen, Privatschulen für ihre Kinder oder mediale Aufmerksamkeit bezahlen. Und selbst, wenn sie dies nicht beabsichtigen sollten, gefährden sie damit den gleichen Status und die Handlungsmöglichkeiten weniger betuchter Gesellschaftsmitglieder. Denn viele der Güter, um die es hier gibt, haben positionale Züge, das heißt ihr Wert hängt ganz oder teilweise davon ab, wo auf der Skala bestimmter Güter man steht (z. B. Frank 2011). Wie viel die Anwältin „wert“ ist, die man sich mit einem normalen Einkommen leisten kann, hängt teilweise davon ab, wie gut die Anwälte sind, die sich der juristische Gegner leisten kann. Nur zehn Prozent der Kinder können auf die zehn Prozent „besten“ Schulen (wie auch immer man das genau verstehen möchte) gehen, und wenn das Geld mancher Eltern hier Vorsprünge verschafft, haben andere das Nachsehen – zum Beispiel weil dann teure Freizeitaktivitäten oder Auslandsaufenthalte zur Voraussetzung für den Einstieg in bestimmte Berufe werden.

Kritik an sozialer Ungleichheit lässt sich von daher nicht nur aus der Perspektive abstrakter Gerechtigkeitsideale formulieren. Jede:r, der und die es mit der Demokratie ernst meint, muss sich die Frage stellen, wie viel Ungleichheit mit der Freiheit aller, sich als Gleiche:r unter Gleichen zu erleben, kompatibel ist. Politikwissenschaftler:innen bescheinigen vor allem den USA, in dieser Hinsicht längst eine Oligarchie zu sein, in der nicht nur politischer Einfluss käuflich ist (z. B. Gilens 2005), sondern auch in zahlreichen anderen Feldern der Einfluss des Geldes schon viel zu groß geworden ist, zum Beispiel durch die soziale Praxis der außergerichtlichen Vergleiche auch im Rechtswesen. Europäische Demokratien müssen sich viel klarer, als sie das bisher getan haben, gegen ein derartiges Abgleiten in „postdemokratische“ (Crouch 2004) Zustände stemmen.

Ein dritter Punkt in diesem Zusammenhang betrifft die konkreten Formen des Zusammenlebens in der Arbeitswelt, die in demokratischen Gesellschaften vorherrschen. Gerade in Gesellschaften, in denen sich die sozialen Milieus immer stärker voneinander entfernen, ist es oft die Arbeitswelt, die Menschen miteinander in Berührung bringt (und wie viel verlorengeht, wenn dies nur noch vom „Homeoffice“ aus über den Bildschirm passiert, haben viele von uns während der Corona-Lockdowns am eigenen Leib erlebt, auch wenn es ein Privileg ist, sich vor gesundheitlichen Risiken schützen zu können). Aber wie begegnen sie sich dort – als grundsätzlich Gleiche, die trotz unterschiedlicher Rollen alle bestimmte Rechte genießen und Mitspracherechte bei der Ausgestaltung der Arbeitswelt haben? Oder in Verhältnissen, die, wenn nicht denen von Sklavenhalter:innen und Sklav:innen, dann doch denen feudaler Abhängigkeitsverhältnisse gleichen?

Wie man sich selbst und andere in der Arbeitswelt erlebt, hat bei vielen Menschen einen prägenden Einfluss auf ihre grundlegende Selbstsicht und ihr Bild von der Gesellschaft. Wenn man acht (oder mehr!) Stunden am Tag Untergebene:r ist und sich als passiv und abhängig erleben muss, wie kann man dann den Bürger:innensinn entwickeln, der zur gleichberechtigten Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen befähigt? Umgekehrt hat die partizipative Demokratietheorie schon lange postuliert, dass es einen „spillover“-Effekt zwischen demokratischen Praktiken in der Arbeitswelt und der demokratischen Beteiligung von Bürger:innen in Zivilgesellschaft und Politik gibt (z. B. Pateman 1970). Die grundlegende Idee ist einfach: wer im eigenen Alltag erlebt und erlernt, gemeinsam mit anderen Projekte anzugehen, Prozesse zu gestalten und Entscheidungen zu treffen, kann diese Fähigkeiten auch in anderen Bereichen einsetzen. Auch das Verständnis dafür, dass Politik ein komplizierter Prozess ist, in dem um die besten und gerechtesten Lösungen hart gerungen werden muss, kann dadurch verbessert werden.

Verschiedene Studien haben versucht, diese These empirisch zu untermauern, was jedoch methodische Schwierigkeiten aufwirft (für einen Überblick siehe Carter 2006). Zumindest, was demokratische Haltungen angeht, sind einige neuere Daten aus Deutschland besonders interessant. In der 2020er Leipziger Autoritarismusstudie haben die Autor:innen das Konstrukt der „industrial citizenship“ verwendet, um den Zusammenhang zwischen dem Erleben der Arbeitswelt und demokratischen Positionen zu erforschen (Decker und Brähler 2020). Dieses Konstrukt setzt sich aus den Antworten auf vier Aussagen zusammen, die im Fragebogen erfasst werden: „Ich fühle mich bei Entscheidungen im Arbeitsalltag übergangen“, „In meinem Betrieb kann ich offen über Betriebsräte und Gewerkschaften sprechen, ohne Nachteile befürchten zu müssen“, „Probleme oder Konflikte im Betrieb löse ich am besten gemeinsam mit den Kollegen und Kolleginnen“, und „Wenn ich in meinem Betrieb aktiv werde, kann ich etwas zum Positiven verändern.“ (ebda, S. 130–131) Wer sich im Arbeitsalltag respektiert fühlt und eigene Handlungsfähigkeit erleben kann, bei dem ist es statistisch gesehen viel wahrscheinlicher, dass er oder sie prodemokratische Haltungen teilt und rechtsextreme Einstellungen und Ungleichwertigkeitsideologien (z. B. Sexismus) ablehnt (ebda, S. 135–138).

Gleichheit sichernde Institutionen, Gleichheit sichernde Kultur

Die Freiheit, sich als Gleiche:r unter Gleichen zu erleben, benötigt zahlreiche Institutionen, die vor Willkür und Abwertung schützen. Wenn zum Beispiel eine ungerechtfertigte Kündigung ausgesprochen wird, muss es Möglichkeiten des Einspruchs und notfalls auch der gerichtlichen Klärung geben. Und es darf dabei keine Rolle spielen, ob es sich um eine Person mit oder ohne Migrationshintergrund, mit oder ohne privilegierte Herkunft handelt. Traurigerweise ist es so, dass diejenigen Menschen, die auch anderweitig schon benachteiligt sind, oft in Positionen arbeiten, in denen ihnen diese Art von Schutz versagt bleibt. Wenn eine Uber-Fahrerin eine schlechte Bewertung bekommt und ihr Account gesperrt wird, weil sie auf die Avancen eines betrunkenen Fahrgastes nicht eingeht, stellt sich kein Betriebsrat dagegen und die Möglichkeiten des Einspruchs sind oft aufwendig und wenig erfolgversprechend. Gerade in vielen Bereichen der plattform-basierten Dienstleistungsarbeit muss die institutionelle Einbettung der Arbeitsverhältnisse dringend nachgebessert werden.

Doch Institutionen können nur so stark sein wie die Menschen, die die Rollen in ihnen ausfüllen. Deswegen braucht es auch eine Kultur gleichen Respekts, die von einer hinreichend großen Zahl an Menschen mitgetragen wird. Dazu gehört, dass die Unterschiedlichkeit von beruflichen und gesellschaftlichen Rollen in ihren gegenseitigen Ergänzungsverhältnissen gesehen wird, anstatt dass ständig in Hierarchien gedacht wird. Statt Arbeitswelt und Gesellschaft ausschließlich in Kategorien „oben“ und „unten“ zu sehen, müsste es vielmehr das „Nebeneinander“ sein, das zählt: jede einzelne Person kann ihre Aufgaben nur erledigen, weil andere Personen andere Aufgaben erfüllen, und das gilt vom Putzpersonal bis zum CEO oder der Behördenchefin. Es wäre freilich einfacher, diese horizontale Logik zu verinnerlichen, wenn auch die Gehälter weniger weit auseinanderklaffen würden – ein Punkt, der radikal klingen mag, sich aber sowohl aus der gegenseitigen Abhängigkeit unterschiedlicher beruflicher Rollen als auch aus dem Verständnis von Demokratie als einer Gesellschaft der Gleichen zwingend ergibt.

Heißt das, dass es keinerlei unterschiedliche Bezahlung und keinerlei Hierarchien mehr geben sollte? Das folgt daraus nicht – die Frage ist vielmehr, wie viel davon zur Erreichung bestimmter funktionaler Ziele, zum Beispiel als Anreiz für das Inkaufnehmen längerer Ausbildungsphasen, notwendig und gleichzeitig mit einer grundsätzlichen Kultur des gleichen Respekts vereinbar ist. Viel hängt von der konkreten Ausgestaltung ab: so ist zum Beispiel völlig klar, dass bestimmte Rollen nur von denjenigen eingenommen werden können, die über bestimmte Fähigkeiten verfügen, oder dass zum Lösen von Konflikten und zur Koordination von Aufgaben bestimmte – vielleicht auch nur temporäre – hierarchische Rollen hilfreich sein können. Aber das bedeutet nicht, dass nicht trotzdem in Bezug auf manche Aspekte der Aufgaben die Chefin oder der Chef den Angestellten Rechenschaft schuldig sein sollte, dass er oder sie von den Angestellten gewählt werden könnte, und dass es passende Formen der Mitsprache und Interessenvertretung geben sollte. Je demokratischer die Wirtschaft gestaltet wird, desto eher kann sie mit den Werten und Prinzipien der politischen Demokratie kompatibel gehalten werden.

Und es würde auch helfen, wenn sich gelegentlich umkehrt, wer „oben“ und wer „unten“ steht. In einer wirklich demokratischen Gesellschaft, mit einer Kultur der Gleichheit, wäre es nicht so, dass die immer gleichen „üblichen Verdächtigen“ in allen gesellschaftlichen Bereichen das Sagen hätten. Stattdessen gäbe es eine Durchmischung der Beziehungen: diejenige, die im Betrieb die Chefin ist, ist zum Beispiel im Sportverein oder der Ortsgruppe der Partei einfaches Team-Mitglied, unter Leitung von jemand, der im Beruf selbst nicht besonders weit „oben“ ist. Vielleicht könnte es irgendwann sogar gelingen, dass „oben“ und „unten“ überhaupt nicht mehr die Kategorien wären, in denen die Mitglieder einer Gesellschaft über ihre Rollen nachdenken – dann wäre eine wirklich demokratische Kultur erreicht.