Zusammenfassung
Studierendenverbindungen sind ein erziehungswissenschaftlich bislang kaum erschlossener, aber interessanter Untersuchungsgegenstand. Was bewegt junge Menschen dazu, in eine Verbindung einzutreten? Wie bewerten sie die dortigen Traditionen? Welche Bildungsprozesse finden dort statt? Diesen Fragen wird in dem vorliegenden Beitrag exemplarisch anhand der Interpretation zweier qualitativer Interviews mit Verbindungsstudenten nachgegangen. Die untersuchte pflichtschlagende Verbindung erweist sich als eine traditionsreiche und zugleich für die spätmoderne, kapitalistische (Berufs-)Welt funktionale Enklave, in der Bewährungs- und Selbstoptimierungsprozesse in verdichteter Form ablaufen.
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Notes
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Wir verwenden den Begriff „Studentenverbindungen“, wenn sich unsere Aussagen auf Männerbünde beziehen, die quantitativ betrachtet das Gros aller Verbindungen bilden und im Fokus der bisherigen Forschung standen. Von „Studierendenverbindungen“ oder „Korporationen“ ist immer dann die Rede, wenn auch gemischtgeschlechtliche und Damenverbindungen miteinbezogen sind.
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In diesem primär qualitativ ausgerichteten Projekt wurden bisher junge Erwachsene, die in Parteien, Studentenverbindungen und anderen Engagementbereichen aktiv sind, zur Entwicklung ihres politischen Interesses und Engagements sowie zu ihren Vorstellungen von Gesellschaft, Politik und Demokratie mittels qualitativer und narrativer Interviews befragt. Genauere Informationen zum Projekt sind unter https://www.allgemeine-erziehungswissenschaft.uni-mainz.de/files/2019/03/Projekt_Politisches-Engagament_Weyers-2017.pdf verfügbar. Im Gegensatz zu einer anderen im Rahmen des Projekts untersuchten, zutiefst politischen Studentenverbindung stellte sich die in diesem Beitrag thematische pflichtschlagende Verbindung als explizit unpolitisch heraus. Dieses zeigte sich daran, dass die beiden Befragten ihre Verbindungstätigkeiten zwar als eine Form des internen sozialen, jedoch keineswegs politischen Engagements auffassten. Sie erklärten, dass in ihrer Verbindung insgesamt ein „unpolitischer Ton“ herrsche und wenig über politische Inhalte diskutiert werde, obgleich sich jeder persönlich politisch bilden könne. Für den Projektfokus des politischen Engagements erwies sich dieses Material zwar als untauglich, doch ist angesichts der spannenden Daten das weiterführende Interesse an der erziehungswissenschaftlichen Erforschung des Lebensraums Studierendenverbindungen entstanden. In diesem Beitrag werden dazu erste Erkenntnisse aus den Analysen vorgestellt.
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Die Interviews fanden auf Basis einer informierten Zustimmung (Hopf 2016) statt. Alle personenbezogenen Daten wurden anonymisiert.
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Aus einer historischen Perspektive auf Studierendenverbindungen lassen sich Arbeiten über folgende Themengebiete finden: Entwicklung und Bedeutung von Studierendenverbindungen im Laufe der Zeit (u. a. Brandt und Stickler 1998; Zillner 2005); Einfluss von Studierendenverbindungen in unterschiedlichen Epochen (u. a. Jakob 2002; Magenschab 2011); Historie einzelner Typen von Studierendenverbindungen (u. a. Herrlein 2012); die Rolle von Studierendenverbindungen im Nationalsozialismus (u. a. Weber 1998; Herrlein 2015; Schindler 1988; Rürup 2008).
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Neben der Bewährung in der Mensur lassen sich auch andere Bewährungssituationen, z. B. als Senior oder in der Erfüllung des „Mehr-Machens“, finden.
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Rollmann, O., Kirchner, A., Benedetti, S. (2022). Von einer Selbstoptimierungs- und Bewährungsenklave. Erkundung einer schlagenden Studentenverbindung. In: Rollmann, O., Kirchner, A., Benedetti, S., Brück, N., Köbel, N. (eds) Moral – Menschenrechte – Demokratie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37698-7_12
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