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1 Zum Stand der Forschung: Zahlreiche Einzelfälle?

Die seit Längerem geführte Diskussion über Rassismus und Rechtsextremismus in der deutschen Polizei gewann im Kontext der internationalen Black Lives Matter-Demonstrationen im Jahr 2020 noch einmal deutlich an Dynamik.Footnote 1 In dieser Debatte zeigte sich, dass man in Deutschland sehr wenig über die Verbreitung rassistischer und extrem rechter Einstellungen in der Polizei oder die Zahl der Ermittlungsverfahren gegen Polizist:innen in diesem Zusammenhang weiß. Deshalb wurden viele Stimmen laut, die eine Studie zu Rassismus und Rechtsradikalismus in der Polizei forderten. Dabei blieb leider unklar, was genau untersucht werden sollte.Footnote 2 Insbesondere die Frage, inwieweit es strukturellen, institutionellen und/oder latenten Rassismus bei der Polizei gebe, führte und führt zu politischen wie wissenschaftlichen Kontroversen. So gehen Thomas Feltes und Holger Plank davon aus, dass es keinen strukturellen Rassismus in der Polizei gebe, weil Strukturen an sich nicht rassistisch seien – „wenn, dann sind diejenigen, die diese Strukturen ausfüllen, rassistisch oder sie handeln entsprechend“Footnote 3. Ähnlich äußerte sich der Gewalt- und Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer.Footnote 4 Auch Rafael Behr sieht Rassismus nicht als institutionelle Konstante der Polizei, obwohl er dort eine quasi institutionalisierte Ausprägung von Xenophobie zugibt.Footnote 5 Strukturelle Zusammenhänge zwischen diskriminierendem Recht und einer rassistischen polizeilichen Praxis sieht Rafael Behr zwar, benennt diese aber nicht als strukturellen Rassismus.Footnote 6 Rassismus verortet er primär auf der individuellen Ebene, was insgesamt typisch für die deutsche Polizeiforschung ist. So zeigen Daniela Hunold und Maren Wegner, dass sich die deutsche Forschung zu Rassismus und Rechtsradikalismus in der Polizei bisher überwiegend mit Fragen innerpolizeilicher Einstellungsmuster beschäftigt hat und kaum mit den Funktionsweisen von institutionellem und strukturellen Rassismus im Kontext der Polizei.Footnote 7 An dieser Stelle hat die deutsche Polizeiforschung bisher einen blinden Fleck, weil sie die Erkenntnisse der Rassismusforschung ignoriert und sich schwertut mit den Begriffen von institutionellem und strukturellen Rassismus.Footnote 8 Deshalb möchten wir in diesem Beitrag die Begriffe des strukturellen und institutionellen Rassismus im Kontext Polizei schärfen und dabei auch darstellen, wie individueller, institutioneller und struktureller Rassismus in diesem Feld miteinander verwoben sind.

2 Rassismus: Versuch einer Begriffsklärung

In Anschluss an Stuart Hall verstehen wir Rassismus als den Ausschluss bestimmter Gruppen vom Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen und/oder die Anwendung von Gewalt gegen diese Gruppen, welche durch die Konstruktion einer ethnischen und/oder kulturellen Differenz legitimiert werden.Footnote 9 Wir unterscheiden zwischen drei Dimensionen: Rassismus als Einstellung bzw. individuellem Rassismus im Sinn einer individuellen rassistischen Disposition (2.1), institutionellem Rassismus als einer sich wiederholenden sozialen Praxis, welche handlungsleitend wirkt (2.2) und strukturellem bzw. systemischemFootnote 10 Rassismus als einer feldübergreifenden, interinstitutionellen Wirkung rassistischer Diskriminierung (2.3). Die Trennung dieser Ebenen verläuft entlang der von Joe R. Feagin entworfenen Typologie, die rassistische Diskriminierung hinsichtlich ihres Grads der Einbettung in Institutionen sowie ihrer Abhängigkeit von Intentionalität unterscheidet.Footnote 11 Dieses Modell wurde jüngst von Martin Herrnkind für die Polizeiforschung fruchtbar gemacht.Footnote 12

Wir entwickeln im Folgenden in Anlehnung an Feagin und Herrnkind eine Heuristik des polizeilichen Rassismus, modifizieren diese leicht (indem wir die Nebeneffektdiskriminierung weniger als institutionellen denn als strukturellen Rassismus fassen) und erweitern sie um die Perspektive der Autoritarismusforschung, um die Vermittlung zwischen den drei Ebenen zu fassen. Die drei Ebenen des Rassismus sind relativ autonom: Sie sind in ihrer jeweiligen Reproduktion zwar grundsätzlich voneinander abhängig, aber sie können in bestimmten Fällen über einen gewissen Zeitraum unabhängig voneinander fortbestehen: So kann ein individueller Rassismus in manchen Kontexten wirkmächtig sein, ohne dass dieser in einen institutionellen oder strukturellen Rahmen eingebettet wäre, während umgekehrt auch strukturelle und institutionelle Diskriminierungen Ausschlüsse hervorbringen können, ohne dass die handelnden Akteure rassistische Einstellungen haben müssen. Allerdings erscheint Rassismus als Einstellung umso legitimer, je stärker er in strukturelle und institutionelle rassistisch legitimierte Herrschaftsverhältnisse eingebettet ist – und umgekehrt.

2.1 Rassismus als Einstellung

Individueller Rassismus meint diskriminierende Haltungen und Praktiken der Subjekte. Er besteht auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Einstellung und Haltung einerseits und der Handlung andererseits. Auf Einstellungsebene ist damit die subjektive Abwertung bestimmter sozialer Gruppen entlang der Zuschreibung ethnischer oder kultureller Differenzen gemeint. Wenn Einzelne Aussagen wie „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“ oder „Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden“Footnote 13 „eher“ oder „voll und ganz“ zustimmen, so kann von einer individuellen rassistischen Disposition bzw. Einstellung gesprochen werden.Footnote 14 Für die Polizei werden seit den 1990er Jahren solche Einstellungsmuster erhoben, aber nicht regelmäßig und auch nur auf Länderebene.Footnote 15

Neben den Einstellungen können auch Handlungen unter den individuellen Rassismus gefasst werden: Feagin charakterisiert individuellen Rassismus daher als „isolate discrimination“, also eine „injurious action taken in violation of prevailing organizational or social norms by a bigoted individual against members of subordinate groups“Footnote 16, bspw. wenn weiße Beamte schwarze Inhaftierte bei jeder Gelegenheit, die sich ihnen bietet, schlagen würden. Diese Definition bedarf unserer Meinung nach insofern einer kleinen Korrektur, als auch Formen der Diskriminierung, welche zwar unabhängig von organisationalen Regeln durchgeführt werden, aber nicht unmittelbar gegen diese verstoßen, unter individuellen Rassismus subsumiert werden können. Unter organisationale Regeln fassen wir sowohl formale als auch informale Organisationskulturen, die verbindliche (Erwartungs-)Erwartungen produzieren und damit die Kohäsion der Organisation garantieren.Footnote 17 Für die Polizei thematisierte Rafael Behr dies bspw. als Widerstreit zwischen formalisierter Polizeikultur und informaler Cop Culture.Footnote 18 Einzelne Beamte der Polizei können also auf Ebene der Einstellung rassistische Dispositionen besitzen oder rassistisch handeln, ohne dass diese in (formal oder informal) institutionalisierte Praktiken bzw. institutionalisiertes Wissen überführt werden. Dies gilt etwa, wenn Polizist:innen dem NS-Denken nahestehen und trotzdem ihren Job als Personenschützer:innen des Vorstehers der Jüdischen Gemeinde Deutschlands professionell nachkommen.Footnote 19 Ein Verstoß gegen in-/formale organisationale Normen läge erst dann vor, wenn die NS-Affinität von diesen Beamt:innen offen artikuliert bzw. sie dieser entsprechend handeln würden (wobei auf individuelle Einstellungen nicht notwendig individuelle Handlungen folgenFootnote 20).

Wir halten es zudem für sinnvoll, auch sporadische rassistische Diskriminierung durch Gruppen („sporadic group discrimination“Footnote 21) als eine Form von aggregiertem individuellem Rassismus zu verstehen, sofern diese nicht in handlungsleitende (zunächst in der Regel informale) Handlungserwartungen überführt werden. Dies wäre bspw. der Fall, wenn Beamt:innen gemeinsam über den Wandkalender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) aus dem Jahr 2012 lachen, der mithilfe rassistischer Schenkelklopfer den Dienstalltag karikieren sollteFootnote 22.

Die informale Diskriminierung durch Gruppen ist, so vermuten wir, ein Grenzfall zwischen institutionalisiertem und individuellem Rassismus: Durch die in der Gruppe geteilten normativen und kognitiven Erwartungen wiederholen sich bestimmte habitualisierte Handlungen und werden, als geteilte Wissensvorräte, tendenziell institutionalisiert. Wir sprechen jedoch erst von institutionellem Rassismus, wenn dieser auch dann handlungsleitend für Beamt:innen wirken kann, wenn diese auf Ebene der Einstellung keine rassistische Disposition aufweisen. Das Teilen rechtsradikaler Inhalte in dienstlichen Chatgruppen ist daher eine Form von informalem, aggregiertem individuellem Rassismus, mit einer Tendenz zu dessen Institutionalisierung. Rassismus ist allerdings auf Ebene der Einstellung kein biographischer „Zufall“, sondern hat seinen Grund in der Gesellschaft selbst: Decker et al. versuchen bspw. in den Leipziger „Mitte“-Studien die soziale Bedingtheit des Ressentiments als eine Reaktion auf soziale EntsicherungFootnote 23 bzw. die permanente Krise des KapitalismusFootnote 24 und dessen securitizationFootnote 25 zu begreifen. Um diese Ebenen zu verschränken, greifen sie daher auf Konzepte wie dasjenige des Autoritarismus (vgl. 2.4) zurück.

2.2 Institutioneller Rassismus

Der Begriff des institutionellen Rassismus taucht erstmals in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der USA in den 1960er Jahre in Abgrenzung zum individuellen Rassismus aufFootnote 26: Während letzterer offen zutage trete, wirke erstere subtil, etwa durch den erschwerten Zugang zu Essen, medizinischer Versorgung oder Wohnungen für schwarze Menschen.Footnote 27 In den 1970er Jahren wurde schließlich von Joe R. Feagin eine Differenzierung zwischen systemischem/strukturellem und institutionellem Rassismus eingeführt. An diese Differenzierung wollen wir anknüpfen.

Um die Sache zunächst zu verkomplizieren, muss festgehalten werden, dass Rassismus nie ein rein individuelles, sondern stets ein soziales Produkt, und daher notwendig in sozialen Institutionen i.w.S. verankert ist.Footnote 28 Es ist dennoch möglich, den in der Polizei institutionalisierten Rassismus von Formen des Rassismus als einer individuellen Einstellung analytisch zu trennen. Eine soziale Institution ist in unserem Verständnis eine reziproke Typisierung habitualisierter Handlungen.Footnote 29 Sie ist also, mit Emile Durkheim, „jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt“Footnote 30. Wir können also von einem institutionalisierten Rassismus in der Polizei sprechen, wenn eine diskriminierende Differenzierung anhand der Zuschreibung ethnischer Kriterien in der Organisation der Polizei für Einzelne, unabhängig von deren Intention bzw. der Einstellung, handlungsleitend wird. Institutioneller Rassismus ist also nicht einfach „Rassismus in der Institution“.Footnote 31 Das gilt bspw., wenn Polizist:innen aufgrund zugeschriebener ethnischer Kriterien Fahrzeug- und Personenkontrollen durchführen, weil sie die Insassen als „typisches Clanmilieu“ wahrnehmen, oder in einem grenzüberschreitenden Zug den ersten „Nigerianer“ kontrollieren, „welchen man sieht“Footnote 32, da „man ja wisse, dass junge Männer mit schwarzer Haarfarbe am Steuer eines teuren Autos Clanmitglieder, oder schwarze Menschen wohl eher keine deutschen Staatsbürger*innen seien“. Ein weiteres prominentes Beispiel ist das massenhafte Racial Profiling in der Silvesternacht 2016/17 in Köln, wo die angenommene nordafrikanische Herkunft ausreichte, um als potentieller Sexualstraftäter und/oder Taschendieb zu gelten und polizeilich kontrolliert zu werden.Footnote 33

Die Polizei geht in diesen Fällen davon aus, entlang äußerer, quasi ethnischer Kriterien die Mitglieder einer Gruppe erkennen zu können, der sie eine Nähe zu strafbarem Verhalten zuschreibt. Diese Zuschreibung ist für Menschen, welche die Polizei dieser Gruppe zurechnet, nachteilig. Sie erfolgt entlang von Kriterien, die innerhalb der Institution der Polizei, d. h. unabhängig von den Einstellungen der einzelnen Polizisten, normativ, also handlungsleitend wirken. Nach Feagin lässt sich diese Form des institutionalisierten Rassismus als direkte institutionalisierte Diskriminierung fassen. Der direkte institutionalisierte Rassismus lässt sich definieren als „socially prescribed actions which by intention have a differential and adverse impact on members of subordinate groups“Footnote 34. Dabei ist es irrelevant, ob die als Normen institutionalisierten rassistischen Differenzierungen formal oder informalFootnote 35 gelten; ob sie also als Lagebilder formalisiert sind oder unter Kolleg:innen als informale Wissensbestände zirkulieren. Denn informale Erwartungen nehmen bisweilen die Form von polizeilichen Narrativen bzw. Mythen an; Helden- und anderen Geschichten, welche von Generation zu Generation, oder von Dienstgruppe zu Dienstgruppe weitergegeben werden – und damit handlungsleitend werden.Footnote 36 Es handelt sich im Fall des direkt institutionalisierten Rassismus weniger um moralische als um kognitive institutionalisierte Erwartungen und Normen. Salopp formuliert: „Wir wissen zwar, dass man eigentlich nicht unterstellen darf, dass bestimmte Gruppen krimineller seien als andere, aber tatsächlich erkennen wir unsere Schweine am Gang.Footnote 37 Daraus folgt, dass einzelne Beamt:innen entlang dem direkten institutionalisierten Rassismus rassistisch handeln können, obwohl sie auf der individuellen Einstellungsebene keine rassistischen Ressentiments hegen, und ohne dabei gegen in-/formale Regeln verstoßen.

Der direkten institutionalisierten Diskriminierung stellen wir in Anschluss an Feagin die indirekte institutionalisierte Diskriminierung zur Seite: Feagin definiert indirekte institutionalisierte Diskriminierung als eine Reihe gefestigter Praktiken, die einen nachteiligen bzw. diskriminierenden Effekt für eine bestimmte Gruppe haben, die aber ihrer Erscheinung bzw. Form nach fair und nicht unmittelbar diskriminierend seien.Footnote 38 Der rassistischen Diskriminierung liegt nicht notwendig ein Ressentiment zugrunde.Footnote 39 Feagin unterscheidet hinsichtlich der indirekten institutionalisierten Diskriminierung zwischen side-effect discrimination und past-in-present discrimination.Footnote 40 Erstere ist unserer Meinung nach richtiger als struktureller Rassismus zu fassen, weshalb wir diese separat behandeln werden (s. u.). Past-in-present discrimination meint das Fortwirken diskriminierender Effekte bei Praktiken, welche der Form nach neutral oder fair erscheinen.Footnote 41 Dies deckt sich in etwa mit der Definition für institutionalisierten Rassismus, welche Robert Miles vorschlägt: „[…] the concept of institutional racism does not refer to exclusionary practices per se but to the fact that a once present discourse is now absent and that it justified or set in motion exclusionary practices that therefore institutionalise that discourse“Footnote 42. Indirekter institutionalisierter Rassismus existiert in der Polizei in der Fortsetzung diskriminierender Praktiken unter egalitärem Vorzeichen; als einer formell an der Strafverfolgung bzw. Gefahrenabwehr ausgerichteten, de jure also korrekten, de facto aber diskriminierenden Fokussierung polizeilicher Maßnahmen auf bestimmte ethnisierte Gruppen.

Ein prägnantes Beispiel für indirekten institutionalisierten, past-in-present Rassismus in der bundesdeutschen Polizei ist der labelling-Prozess von Sinti und Roma durch die deutschen Behörden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann die deutsche Polizei auf dem zugrunde gelegten Konzept der „Zigeunerkriminalität“ Personenkarteien anzulegen.Footnote 43 Diese wurden teilweise bruchlos(!) bis in die 2000er Jahre weitergeführt. Markus End stellt fest, dass die Polizei in verschiedenen Karteien sprachlich korrektere Umcodierungen vorgenommen hat: statt von „Zigeunern“ war von „mobilen ethnischen Minderheiten“, „wechselt häufig Aufenthaltsort“ oder „RuBus“Footnote 44 die Rede.Footnote 45 Die Verfolgung von Sinti und Roma durch die Polizei orientiert sich dabei zwar an tatsächlich strafbaren Handlungen (wie bspw. Wohnungseinbruchsdiebstählen). Diese codieren die Beamt:innen jedoch ethnisch, sodass häufiger Angehörige der Sinti und Roma in den Fokus polizeilicher Ermittlungstätigkeit geraten.Footnote 46

Am Beispiel der Clankriminalität zeigt sich, dass die analytische Trennung zwischen direktem und indirektem institutionalisierten Rassismus in der Empirie häufig nicht eineindeutig aufrechterhalten werden kann.Footnote 47 So weisen die Landeskriminalämter Berlin und NRW zwar drauf hin, dass die Zugehörigkeit von Einzelpersonen oder Familien zu einer bestimmten Ethnie ausdrücklich keine Subsumtion unter den Begriff „Clankriminalität“ begründen könne. Dennoch findet sich in den Berichten eine intersektionale Stigmatisierung durch rassistische Zuschreibungen und Diskriminierung aufgrund des sozialen Status.Footnote 48 Ein weiteres Beispiel ist die Broschüre Arabische Familienclans – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung. des Polizeipräsidium EssenFootnote 49, in der zwar drauf hingewiesen wird, dass keineswegs alle Clanmitglieder kriminell seien. Dennoch unterstellt die Broschüre „eine Aversion vor regulärer Arbeit für jemand anderen als die eigene Gemeinschaft“, „ein bestimmtes Ehrverständnis“ oder „Anspruchsdenken in den Familien generell“ (indirekter institutionalisierter Rassismus). Sie empfiehlt bestimmte polizeiliche Praktiken auf der Grundlage rassistischer Zuschreibungen: Die Beamt:innen sollen bspw. Hunde zu Einsätzen mitnehmen, weil diese im sunnitischen Islam als unrein gelten würden (direkter institutionalisierter Rassismus).

2.3 Struktureller Rassismus

Die häufig synonyme Verwendung der Begriffe von strukturellem und institutionellem Rassismus verdeckt unseres Erachtens die Ebene der Interdependenz verschiedener Institutionen zueinander. Diese begreifen wir als strukturelle Dimension des Rassismus. Die Wechselwirkung zwischen direkter und indirekter, zwischen rechtlicher und politischer, ökonomischer und polizeilicher, etc. Diskriminierung ist keine, welche unmittelbar institutionalisiert wäre, sondern kann mit Janet Chan (und in Anschluss an Pierre Bourdieu) als Kontext des polizeilichen FeldsFootnote 50 bezeichnet werden: Praktiken sowie normative und kognitive Erwartungen anderer Felder transformieren das Feld der Polizei; rechtliche und ökonomische Diskriminierung können polizeiliche Praktiken verändern. Feagin bezeichnet diese Diskriminierung als Nebeneffektdiskriminierung.Footnote 51 Struktureller Rassismus, begriffen als ein Verhältnis zwischen den Institutionen, äußert sich in der Praxis als indirekter oder direkter institutioneller Rassismus, weshalb zwischen den Ebenen häufig nicht unterschieden wird. Eine Differenzierung ist jedoch wie folgt möglich:

Die nationalstaatlich organisierte kapitalistische Produktionsweise erzeugt notwendig Ausschlüsse vom gesellschaftlichen ReichtumFootnote 52 sowie eine Konkurrenz unter den Subjekten, die ihre Arbeitskraft als Ware (unter der Bedingung ihrer tendenziell voranschreitenden Entwertung) verkaufen müssen.Footnote 53 Unter diesem Vorzeichen legitimiert der Rassismus den Ausschluss bestimmter, ethnisch und/oder kulturell definierter Gruppen von diesem ReichtumFootnote 54, ihre Benachteiligung auf dem Wohnungs-Footnote 55 und ArbeitsmarktFootnote 56, oder ihre überdurchschnittliche AusbeutungFootnote 57. Dies ist hinsichtlich indirekter (1.) als auch hinsichtlich direkter institutioneller Diskriminierung (2.) relevant:

1.:

Die polizeiliche Arbeit erfasst häufiger Formen sog. Armutskriminalität als etwa sog. White Collar Crime.Footnote 58 Rassistische Ausschlüsse vom Wohn- oder Arbeitsmarkt führen dazu, dass Angehörige ethnisierter Gruppen aufgrund ihrer sozialräumlichen LageFootnote 59 schneller in den polizeilichen Blick geraten. Ein Beispiel dafür ist das policing von (häufig wohnungslosen) Männern aus Osteuropa auf dem Tagelöhnermarkt: Aufgrund der Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sind diese Männer sowohl sozialstrukturell als auch durch ihre Präsenz in der Öffentlichkeit einem stärkeren Polizeikontakt ausgeliefert.Footnote 60 Hier handelt es sich um eine Form von indirekter institutioneller Diskriminierung aufgrund des strukturellen Rassismus.

2.:

Auch in dem Fall, man würde die Einteilung der Welt in Nationalstaaten für eine unumgehbare und nichtrassistische Notwendigkeit halten, lässt sich konstatieren, dass bestimmte Momente des europäischen und auch deutschen Migrationsregimes rassistische Diskriminierungen erzeugen. Ein solches Moment ist die sog. Residenzpflicht.Footnote 61 Geflüchtete dürfen sich nach § 56 AsylG nur in einem ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bewegen. Die polizeiliche Durchsetzung der Residenzpflicht ist eine Form der direkten institutionellen Diskriminierung, die aber abhängt von polizeiexternen rechtlichen Normierungen hinsichtlich der Aufenthaltsbedingungen Geflüchteter. Dies gilt auch für die Konstruktion des sog. „Fremdschlafens“ in Bayern: Geflüchteten ist es verboten, in anderen Unterkünften als der ihnen zugewiesenen zu nächtigen. Ein solches „Fremdschlafen“ wird entsprechend von der bayerischen Polizei als Hausfriedensbruch geahndet. Der Verdacht auf die Anwesenheit von Fremdschlafenden konstituiert einen dringenden Tatverdacht, nach welcher es der bayerischen Polizei möglich ist die Unterkünfte Geflüchteter zu betreten – was die bayerische Polizei häufig nutzt, um Kontrollen von Unterkünften zu legitimieren.Footnote 62

2.4 Keine Struktur ohne Praxis

Die von Feagin entworfene und von uns hier weiterentwickelte analytische Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen und Ebenen des Rassismus bietet eine Heuristik, welche hilft die verschiedenen Grade von Intentionalität und Institutionalisierung rassistischer Zuschreibungen zu begreifen.Footnote 63 Wie wir jedoch ebenfalls zeigen konnten, sind diese Ebenen in der rassistisch diskriminierenden Praxis häufig gleichzeitig präsent: Es sind einzelne Menschen, welche Strukturen und Institutionen handelnd reproduzieren, und umgekehrt verleihen Strukturen und Institutionen den singulären Handlungen einen spezifischen Sinn. Um Handlung und Struktur nicht schroff einander gegenüberzustellen, bedürfen sie einem vermittelnden Begriff. Ähnlich wie Bourdieu diese Vermittlung im Habitus suchteFootnote 64, wollen wir hier vorschlagen, das Konzept des Autoritarismus für die Polizeiforschung fruchtbar zu machen.

Die Kritische Theorie verstand den Autoritarismus als eine Reaktion auf die permanente Krise der warenproduzierenden Gesellschaft.Footnote 65 Im Sinn einer Kritik des verdinglichenden BewusstseinsFootnote 66 stellt die Kritische Theorie dar, dass soziale Hierarchien im Kapitalismus nicht als solche erscheinen, sondern als ökonomische und/oder politische Sachzwänge, denen sich die Einzelnen „fast lustvoll“Footnote 67 unterwerfen. Unter das autoritäre Syndrom zählten Adorno et al. daher Aspekte wie Konventionalismus, autoritäre Unterwürfigkeit und Aggression, die Abwehr von Sensibilität und Schwäche, Aberglaube und Stereotypie, Machtdenken, Destruktivität und Zynismus, Projektivität (im Sinn eines irrationalen Gefahrenbewusstseins!), und die übermäßige Beschäftigung mit der Sexualität.Footnote 68 Der autoritäre Charakter unterwirft sich Institutionen und sozialen Instanzen mit quasi-väterlichen Qualitäten (wie bspw. der Institution der Polizei oder der GefahrengemeinschaftFootnote 69), ohne jedoch seine Aggression in den eigenen Charakter integrieren zu können, und externalisiert sie in Gewalt gegen die Fremdgruppe – umso mehr, wenn diese als „minderwertig“ oder „schwach“ erscheintFootnote 70: gegen (vermeintliche) „Ausländer“, „Sozialschmarotzer“ oder linke „Zecken“. Durch die rassistische/antisemitische/sexistische/homophobe/etc. Projektion aggressiver Triebregungen auf den Anderen können diese zugelassen werden. Der Begriff der Charakterstruktur als einer „Struktur im Individuum, etwas, das selbst zum Handeln gegenüber der sozialen Umwelt und zur Auswahl unter den mannigfaltigen von ihr ausgehenden Stimuli fähig ist; das, wenn es auch modifizierbar bleibt, gegen tiefgreifende Veränderungen häufig sehr resistent ist“Footnote 71, weist Parallelen zu Bourdieus Begriff des Habitus als einer vermittelnden Instanz zwischen Struktur und Subjekt auf.Footnote 72 Die Kritische Theorie bzw. die Autoritarismusstudien sind daher anschlussfähig für eine Polizeiforschung, die sich explizit an Pierre Bourdieus Praxistheorie orientiert.Footnote 73

Die Studien zum Autoritären Charakter werden missverstanden, wenn sie als individualpsychologische Untersuchungen begriffen werden.Footnote 74 Die Perspektive der Kritischen Theorie erlaubt, trotz gewisser Einschränkungen, eine Vermittlung von Makro-Soziologie und SozialpsychologieFootnote 75, welche daher auch für die Polizei- und Sicherheitsforschung fruchtbar gemacht werden kann. Insbesondere im Feld des polizeilichen Rassismus eröffnet sie die Möglichkeit, strukturellen, institutionellen und individuellen Rassismus als durch die Institution der Polizei vermittelte zu verstehen: Der Rassismus erscheint dann als Teilsyndrom eines polizeilichen autoritären Charakters, dessen Träger sich aufgrund der Loyalitätsanforderungen der Gemeinschaft mit den (rassistischen) Herrschaftsstrukturen identifizieren. Sie richten ihre dabei entstehende Aggression in der Folge gegen Fremdgruppen, welche gleichzeitig als gefährlich und als (sozial) schwach imaginiert werden. Ichstarke Polizist:innen wiederum, welche auch institutionelle und strukturelle Anforderungen kritisch hinterfragen, dürften, der Kritischen Theorie folgend, weniger anfällig für rassistische Einstellungen sein.

2.5 Gibt es also institutionellen Rassismus in der Polizei?

In Anlehnung an Cengiz Barskanmaz glauben wir, dass ohne ein Verständnis von Rassismus als einer Struktur und einer Institution Bemühungen, Rassismus in der Polizei zu bekämpfen, unwirksam bleiben.Footnote 76 Deshalb haben wir die verschiedenen Begrifflichkeiten für die deutsche Polizeiwissenschaften fruchtbar gemacht und konnten zeigen, dass es institutionellen Rassismus in der Polizei gibt, der einerseits von strukturellem Rassismus außerhalb des Feldes abhängt und andererseits durch die handelnden Akteure in der Institution wirkmächtig wird. Wir hoffen, dass dadurch ein Verständnis für die verschiedenen Ebenen des Rassismus in der deutschen Polizei und den deutschen Polizeiwissenschaften geschaffen werden kann. Zukünftige Untersuchungen sollten alle Ebenen in den Blick nehmen und nicht nur auf der Ebene der Einstellungs- und Vorurteilsforschung verbleiben. Denn bei einem Phänomen, das so deutlich politische, historische und kollektive Bezüge aufweist wie der Rassismus, lässt sich leicht zeigen, dass die individuumszentrierte Forschung den Gegenstand in nicht zu rechtfertigender Weise verkürzt.Footnote 77 Damit ist keinem geholfen; schon gar nicht einer Polizei die sich den Menschenrechten verpflichtet fühlt und nicht rassistisch handeln möchte.