Schlüsselwörter

1 Einleitung

Polizei und Rassismus markieren aktuell zwei hoch relevante und hoch umstrittene Themenfelder, umso mehr, wenn sie aufeinander bezogen werden. Es stellt sich die Frage, ob das Interesse an beiden Themen auch deshalb so ausgeprägt ist, weil sie Kernaspekte eines derzeit akuten gesellschaftlichen Selbstvergewisserungsprozesses berühren. Da es in diesen Reflexionsprozessen auch um Wandlungen der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung und deren Wahrnehmung geht, ist die Polizei als Vertreterin des staatlichen Gewaltmonopols nach innen ein zentraler Bestandteil dieser Kontroversen. Während die Debatten um robustere polizeiliche Einsätze kaum zu führen sind, ohne dabei das Verhältnis zu den militärischen Ursprüngen der Polizei (im 19. Jahrhundert) mitzudenken, geht es im Streit um rassistische Praktiken auch darum, ob bzw. inwieweit sich der für die Entstehung der Polizei maßgebliche Vorrang der Polizierung der Arbeiterschaft/Unterschichten verschiebt in Richtung eines rassistisch codierten Anderen. Die erstaunlich intensive öffentliche Aufmerksamkeit sowie die deutlichen (partei-)politischen Abwehrhaltungen deuten auf diese oder andere tieferliegende Spannungsfelder hin – wenngleich die direkten Auslöser solcher Debatten andere sind: vor allem rechte und rassistische Netzwerke und Aktivitäten in Polizei und Bundeswehr sowie der Tod von George Floyd im Mai 2020. Ließe sich zugespitzt fragen: Gibt es Berührungspunkte zwischen den außenpolitischen Kontroversen um Kolonialismus (Gewaltkontinuitäten, Restitution) und den innenpolitischen Debatten um die Polizei? In beiden Fällen, wobei die Grenzen zwischen innen- und außenpolitisch ohnehin fließend sind, geht es auch um die historische Reflexion rassistischer (Gewalt-)Praktiken.Footnote 1

Ein Ziel des vorliegenden Bands ist die „Übersetzung der Befunde der Rassismusforschung in Richtung Polizei“. Dieser Aufsatz möchte geschichtswissenschaftliche Perspektiven und Erkenntnisse in diesen sozialwissenschaftlich geprägten Kontext einbringen. Angestrebt wird eine transnational ausgerichtete und transferoffene Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, die getragen wird von einer geschichtswissenschaftlich fundierten kooperativ-reflexiven Interdisziplinarität. Die Kultur der Polizei steht im Zentrum der so ausgerichteten Analyse. Das auf diese Einleitung folgende zweite Kapitel resümiert die geschichtswissenschaftliche Erforschung des Themenfelds Polizei und Rassismus in der bundesdeutschen Gesellschaft und empfiehlt, in Zukunft explizit den Rassismusbegriff zu verwenden und dessen Verankerung in dezentralen racial projects einzubeziehen, wenn es um die Analyse von Differenzzuschreibungen geht. Das dritte Kapitel analysiert Aspekte der Kultur der bundesdeutschen Polizei, benennt fünf Problemkomplexe als Ansatzpunkte für die Suche nach rassistischen Praktiken und skizziert so (ebenso wie das folgende Kapitel) geschichtswissenschaftliche Impulse für den eben angesprochenen interdisziplinären Untersuchungsansatz. Angesichts der Bedeutung des Begriffs Institutioneller Rassismus auch für deutsche Polizeidebatten nimmt das vierte Kapitel die zeitgenössische Erforschung der englischen Polizei der 1980/90er Jahre in den Blick. Hier wurde der Terminus Institutioneller Rassismus, dessen Wurzeln in den US-amerikanischen Protestbewegungen der 1960er Jahre liegen, definiert und auf die Polizei angewendet.Footnote 2 Ausgehend von zeitgenössischen Studien zum Verhältnis von Polizei und urbaner Bevölkerung werden Vor- und Nachteile dieses Begriffs diskutiert. Eingebettet ist dies in polizeibezogene Problematisierungen postkolonialer Wandlungen in der englischen Gesellschaft und in ihrer Wahrnehmung.

2 Polizei, Rassismus und Gesellschaft: Forschungsstand und Forschungsprobleme

Die soziologische Forschung zur deutschen Polizei, oft ethnografisch informiert, befindet sich im Aufschwung, das zeigt auch der vorliegende Band.Footnote 3 Interessanter Weise wird der Begriff Rassismus erst allmählich von der deutschen zeitgeschichtlichen Forschung auch für Analysen der deutschen Geschichte nach 1945 benutzt.Footnote 4 Diese Studien verdeutlichen nachdrücklich, „Rasse“ ist keine Eigenschaft, sondern eine rassistisch codierte Zuschreibung und damit ein „soziales Verhältnis“, also auch ein Machtprozess.Footnote 5 Wie der Blick auf die Tabuisierung des Begriffs Rassismus seit Ende der NS-Herrschaft in Deutschland gezeigt hat, gab es vor allem im Umgang mit „Gastarbeiter:innen“ kulturell verklärende Formeln der Abwertung.Footnote 6 Zwar ist die deutsche Polizei als wichtige Akteurin in der rassistisch motivierten NS-Vernichtungspolitik inzwischen geschichtswissenschaftlich gut erforscht. Diese Studien sind breit rezipiert worden und haben Eingang in die polizeiliche Ausbildung gefunden. Auch über das Fortwirken rassebiologischer Konzepte in der Polizei nach der NS-Herrschaft sowie über die Nachkriegskarrieren ehemaliger NS-Polizisten sind wir gut informiert.Footnote 7 Jedoch war die explizite Untersuchung von „Rassismus“ auch ein blinder Fleck der seit den frühen 2000er Jahren erschienenen zeithistorischen Arbeiten zur Polizei nach 1945. Immerhin bieten die an einer kulturgeschichtlich erweiterten Gesellschaftsgeschichte orientierten Polizeistudien mit ihrem Blick u. a. auf Wahrnehmungen, Zuschreibungen, geschlechtliche Codierungen gute Anknüpfungsmöglichkeiten, um das Verhältnis von Polizei und Rassismus im Rahmen einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit zu analysieren.Footnote 8

Die (zeithistorische) Erforschung von Rassismus sollte Impulse der beiden US-amerikanischen Wissenschaftler Michael Omi und Howard Winant stärker aufgreifen.Footnote 9 Sie plädieren dafür, Rassismus und seine Konstruktionsmuster dezentral zu analysieren und als historisch wandelbar zu verstehen. Wie die Autoren betonen, gibt es keinen gesellschaftlich einheitlichen Rassismus. Vielmehr ist dieser eingebettet in verschiedene durchaus unterschiedliche und wandlungsfähige racial projects, deren Inhalte und soziale Ordnungsfunktionen jeweils genau zu bestimmen sind.

Die analytischen Vorteile des Begriffs Rassismus gegenüber Differenzbegriffen wie „Ausländerfeindlichkeit“ oder „Fremdenhass“ liegen auf drei Ebenen, gebündelt unter den Stichpunkten: Gesellschaftsbezug; internationale Anschlussfähigkeit und Vernetzung; Kontextualisierung/Historisierung sektoraler Differenzkonzepte. Erstens: Gesellschaftsbezug. Der Rassismusbegriff bezieht sich auf gesellschaftliche Ordnung. Es geht nicht allein um individuelle Aktivitäten und sektorale Abwertungen. Durch diesen Bezug auf die Ordnung des Sozialen kann vor allem ein dezentral gefasster Rassismusbegriff nicht nur verschiedene sektorale Konzepte des Othering (siehe unten), sondern vor allem soziale Ordnungspraktiken verschiedener Akteure analytisch erfassen. Dazu gehören staatliche Institutionen ebenso wie eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteur:innen (von Expert:innen über Medien bis hin zu Artefakten) sowie die mit diesen Aktivitäten jeweils verbundenen Machtprozesse. Zweitens: Internationale Anschlussfähigkeit und Vernetzung. Untersuchungen, die gesellschaftliche Ordnung und darauf bezogene Machtprozesse mit dem Begriff Rassismus sowie mit zugrundeliegenden Konzepten analysieren, sind sehr gut anschlussfähig und vernetzbar mit der internationalen Forschung. Hierfür eignen sich besonders die oft interdisziplinär angelegten angloamerikanischen Studien zum Themenfeld „race“ und „whiteness“. Drittens: Kontextualisierung und Historisierung sektoraler Differenzkonzepte. Die in den beiden vorherigen Punkten skizzierte Rassismusforschung kann die Erklärungskraft und Reichweite sektoraler, zumeist enger gefasster Differenzbegriffe wie „Ausländerfeindlichkeit“ breiter kontextualisieren und auch historisieren.

Wird Rassismus innerhalb verschiedener Polizeizweige untersucht und kategorisiert, bleibt zu fragen, mit welchen anderen Berufsgruppen oder Organisationen wird die Polizei bzw. das Agieren von Polizist:innen verglichen?Footnote 10 Was sind also die genauen Vergleichs- und Beurteilungskriterien, um über viel oder wenig Rassismus entscheiden zu können – wann ist dieses Glas halb voll oder halb leer? Die breite und zeitlich längerfristig orientierte Einbettung der Forschungsergebnisse zur Polizei in eine Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit könnte hier weiterhelfen. Eine so ausgerichtete Analyse sollte zwei miteinander gekoppelte Besonderheiten beachten: Die Polizei ist eine bürokratische Organisation, und sie ist – zumindest in westlichen Staaten – die Inhaberin des staatlichen Gewaltmonopols nach innen.Footnote 11 Die Polizei als bürokratisch geprägte Verwaltungsorganisation ist einerseits geprägt von hohen öffentlichen Erwartungshaltungen, der starken Präsenz schriftlicher Dokumentation, dichten Regel- und Kontrollnetzwerken und komplexen Hierarchien. Die hohen Erwartungen an die Polizei als Inhaberin des staatlichen Gewaltmonopols nach innen steigern den Erfolgsdruck innerhalb dieser Organisation, lassen zugleich eine genaue Supervision sowie eine ausgeprägte Selbstreflexion der Organisationsmitglieder als angemessen erscheinen. Andererseits ist die Polizei ähnlich wie andere bürokratische Organisationen durchzogen von mikropolitischen Grau- und Unsicherheitszonen und deren Veränderungen im Zeitverlauf. Dass die Polizei eine Organisation ist, bedeutet aber auch, dass sich ihr Binnenleben nicht angemessen verstehen lässt, wenn nur auf individuelles Handeln oder gar nur auf Organigramme geblickt wird. Organisationen entwickeln kulturelle Codes als Elemente einer vielschichtigen Organisationkultur, die nicht polizeiweit einheitlich sein muss. Diese Organisationskultur gewährleistet das Funktionieren, den Zusammenhalt und damit auch die Abgrenzung von einem Außen.

Somit sind eventuell vorhandene rassistische Praktiken mehr als nur individuelle Aktivitäten, sondern eingebettet in eine Kultur der Polizei. Sie umfasst informelle Verhaltenscodes (auch geschlechtlich codierte), Bedeutungszuschreibungen und Ordnungsvorstellungen ebenso wie Symbole und Rituale, aber auch die polizeiliche Sprache mit ihren Redewendungen, Metaphern und Erzählungen sowie materielle Elemente wie Formulare und Masken für EDV-Einträge sowie die darin vorgegebenen Kategorien. Wie zahlreiche Studien zeigen, ist die Kultur der Polizei relativ stabil und kann organisatorische und technische Veränderungen überdauern.Footnote 12

3 Geschichtswissenschaftliche Impulse für die Erforschung rassistischer Praktiken in der Kultur der Polizei

Angesichts der eingangs skizzierten tiefgreifenden, auch historisch beeinflussten Wandlungen gesellschaftlicher Institutionen und darauf bezogener Wahrnehmungen erscheint die Wiederannäherung zwischen Geschichts- und Sozialwissenschaften notwendig. Bisher gibt es von beiden Seiten nur vorsichtige Sondierungen. Einen ersten Ansatzpunkt dafür bietet die Reflexion und zeitgemäße Reaktualisierung der bis in die frühen 2000er Jahre durchaus vorhandenen Kooperation zwischen (Kriminal-)Soziologie und Geschichtswissenschaft.Footnote 13 Ganz allgemein könnte die Erforschung der Polizei ein gutes Beispiel sein, um den analytischen Mehrwert einer kooperativ-reflexiven und geschichtswissenschaftlich grundierten Interdisziplinarität zu verdeutlichen. Besonders die zeithistorisch ausgerichtete Fundierung aktualitätsbezogener Polizeistudien wäre sehr sinnvoll, auch, aber nicht nur, aufgrund der zeitlichen Nähe zu den Themen sozialwissenschaftlicher und kriminologischer Studien. Wie können Geschichtswissenschaftler:innen konkret dazu beitragen, diese kooperativ-reflexive Interdisziplinarität in der Polizeiforschung auf dem Weg zu einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit mit Leben zu füllen?

Erstens können geschichtswissenschaftliche Arbeiten die von zeitgenössischen Studien zu und in verschiedenen Zeiträumen erarbeiteten Ergebnisse zur Polizei wieder in den wissenschaftlichen Diskurs einspeisen. Durch diese Reaktualisierung kann Wissen gesichert, kontextualisiert und historisiert, d. h. in zeitgenössische Kontexte sowie in längerfristig wirkende Entwicklungen eingeordnet werden. Zweitens kann das so gesicherte und reaktualisierte, kontextualisierte und historisierte Material für die Erarbeitung von Fragen genutzt werden, die auf die heutige Situation der Polizei ausgerichtet sind, aber historische Entwicklungen einbeziehen. Zu eng auf das jeweilige Heute sowie auf die unmittelbar davor liegenden Jahre bezogene Perspektiven, aber auch scheinbare Neuentdeckungen können so im Sinne einer größeren analytischen Tiefenschärfe vermieden werden. Durch eine kooperativ-reflexive Interdisziplinarität lassen sich Wandlungen, Umschlagspunkte und Zäsuren klarer benennen – auch durch den Vergleich mit anderen Ländern sowie durch Einbeziehung transnationaler Transferprozesse.

Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht sind für die Zeit bis in die 1970er Jahre unter Einbeziehung zeitgenössischer soziologischer Arbeiten bisher v. a. Alltagsdienst (inkl. Ermittlungspraktiken), Ausbildung sowie Großeinsätze der bundesdeutschen Polizei gegen als politisch eingestufte studentische Proteste und gegen jugendliche Musikfans untersucht worden. Ausgehend von diesen Themenfeldern sind für die Kultur der damaligen Schutzpolizei, also der uniformierten Polizei, fünf charakteristische Merkmale herausgearbeitet worden.Footnote 14

  1. 1.

    Definitionsmacht vor Ort: Polizist:innen verfüg(t)en über eine starke Definitionsmacht, um vor Ort zu entscheiden, wann sie einschreiten und wann nicht. Diese Definition der Situation vor Ort fußt neben rechtlichen auf personen- und erfahrungsbezogenen Indikatoren. Wie schon die soziologische Forschung der frühen 1970er Jahre gezeigt hat, können Polizist:innen diese erfahrungsbezogenen Kategorien nutzen, um beispielsweise auf Straßenstreifen Personen als „verdächtig“ oder „gefährlich“ einzustufen.Footnote 15 Für den Revierdienst, der den Alltag der Polizei mehr bestimmt als Demonstrationseinsätze, wäre zu analysieren, ob, inwieweit und wodurch sich solche Zuschreibungen seit den 1970er Jahren verändert bzw. nicht verändert haben.Footnote 16 Gerade im Revierdienst bestehen, so deutet sich an, von der Kultur der Polizei (der Cop Culture) getragene Kontinuitäten.

  2. 2.

    Ordnungssuche: Die Suche nach einer klaren Ordnung, an der sich Polizist:innen im Dienst und darüber hinaus orientieren konnten, war ein Kernelement im Wertekosmos vieler Polizist:innen. Bis in die frühen 1970er Jahre wurden diese Ordnungsvorstellungen oft durch einen über allem stehenden mythologisch verklärten Staat verkörpert. Wie erste Erkundungen andeuten, wurde dies seit den 1970er Jahren überlagert von einer Ausrichtung an einem sehr stark juristisch-formal geprägten Verständnis von Rechtsstaat. Seitdem wurden zudem die Kommunikation und andere Praktiken von Polizist:innen noch stärker abstrakt juristisch ausgerichtet. Ohne Frage ist ein juristisch-rechtstaatlich orientiertes Ordnungsverständnis viel Wert. Es fragt sich nur, wie hilfreich ist es für Mikrointeraktionen, wenn dichotomische Muster wie „richtig“ oder „falsch“ orientierungsleitend sind.Footnote 17 Zudem lässt sich fragen, ob bzw. inwieweit haben die seit den späten 1980er Jahren einsetzenden Debatten über den Bedeutungsverlust des Staates in einer von Globalisierungen geprägten Welt hier Orientierungslücken geschaffen? Konnten in der Polizei als staatsnaher Organisation mit einer weit verbreiteten Suche nach Ordnung diese Lücken vielleicht auch durch rechte und rassistische Praktiken geschlossen werden? Zumal der Polizeiberuf, wie verschiedene Forschende betonen, für wertkonservativ und autoritär orientierte Menschen attraktiv ist, ohne dass daraus jedoch zwangsläufig rassistische oder rechtsradikale Praktiken resultieren müssen.Footnote 18

  3. 3.

    Ausbildung: Die Ausbildung der Polizist:innen der 1960/70er Jahre war stark von der kasernierten Eingangsphase bestimmt. Die dort erlernten Wahrnehmungs- und Handlungsmuster prägten die Polizist:innen und wirkten zeitlich sehr lange nach. Demgegenüber blieb die genaue Einführung in den alltäglichen Routinepolizeidienst auf den Dienststellen vorwiegend informell geregelt. Wie der Blick auf die kasernierte Eingangsphase andeutet, haben Reformen der 1970er Jahre viele Probleme (Demütigungen, soziale Ausgrenzungen, informelle Gewaltpraktiken) beseitigt. Heute scheint die Ausbildung und Sozialisation auf den Revieren und in Polizeieinheiten problematische Grauzonen zu besitzen, die noch genauer zu untersuchen sind.Footnote 19

Darüber hinaus wurden zwei weitere, eng gekoppelte Faktoren benannt, die erklären, warum Großeinsätze der Polizei der 1960er Jahre gegen als politisch eingestufte Proteste, das Protest Policing, so ineffektiv, kaum steuerbar und unangemessen gewaltsam waren:

  1. 4.

    Kleingruppen und

  2. 5.

    harte Männlichkeit.

Verursacht wurden die Probleme bei Großeinsätzen oft durch hermetisch abgeschlossene und kaum kontrollierbare Kleingruppen, die sich nach oben und außen abschotten, sowie durch die Auswirkungen eines dort wirkenden resoluten Männlichkeitsideals, orientiert an Tatkraft, Mut und Härte. Grundsätzlich waren organisatorische, technische und taktische Reformen der 1970er Jahre mit einer langlebigen und wenig wandlungsfähigen Kultur der Polizei konfrontiert. Auch in diesen Einsatzgebiet gibt es, wie aktuelle Studien zeigen, bis heute trotz allen Veränderungen ähnliche Probleme.Footnote 20 Auch diese Kontinuitäten, aber auch die Wandlungen könnten historisch ausgerichtete Studien analysieren.

Logischerweise lassen sich die vorstehend skizzierten und zumeist auf die 1960/70er Jahre bezogenen Erkenntnisse nicht umstandslos auf die heutige Polizei übertragen. Diese fünf Problemebenen der Kultur der Polizei könnten jedoch, wie vorstehend bereits angedeutet, Ausgangspunkte bilden für geschichtswissenschaftlich informierte Langzeitstudien, die einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit erste Konturen geben. Für Landes- wie Bundespolizeiorganisationen könnten so Wandlungen analysiert und gleichzeitig im Sinne der von Omi und Winant konzipierten dezentralen Analyse von racial projects gefragt werden, ob, bzw. welche Ansatzpunkte für welche rassistische Praktiken in welchen polizeilichen Tätigkeitsfeldern jeweils vorhanden sind und wie diese sich im Zeitverlauf verändert haben.

4 Institutioneller Rassismus und postkolonialer Gesellschaftswandel: Die Polizei in England der 1980/90er Jahre

Gesellschaftliche Veränderungen und damit verbundene Konflikte waren auch in England eng mit der Tätigkeit und Wahrnehmung der Polizei verknüpft. Städtische Alltagsinteraktionen zwischen englischer Polizei und lokaler Bewohnerschaft der 1980/90er Jahre wurden von zahlreichen auch längerfristig angelegten (kriminal-)soziologischen Studien analysiert.Footnote 21 Jedoch sind geschichtswissenschaftliche Studien zur Polizei jenseits organisationzentrierter Beiträge eher selten. Insgesamt gesehen liefert die englische Forschungsliteratur sehr gute Einblicke in gesellschaftliche Kontexte polizeilicher Tätigkeit sowie in bereits vorhandenes Wissen über rassistische Praktiken in polizeilichen Organisationen, gebündelt unter dem umstrittenen Begriff Institutioneller Rassismus.Footnote 22

Drei Themen stehen im Mittelpunkt der Analysen der englischen Polizei der 1980/90er Jahre: die Macht der Polizist:innen im Alltagsdienst (police discretion); das Einschreiten gegen Störungen der öffentlichen Ordnung (public order-policing); sowie, wichtig für diesen Aufsatz, das Verhältnis der Polizei zu den Bewohner:innen der Stadtviertel, in denen Polizist:innen arbeiteten (police community-relations). Gerade zeitgenössische Studien zu Entscheidungssituationen im Alltagsdienst (inkl. Community Policing) zeigen die tiefe lokale Verflechtung polizeilicher Arbeit. Demgegenüber schwebten viele damalige Analysen der bundesdeutschen Polizei sozial gesehen ‚in der Luft‘, untersuchten vorrangig die Organisation der Polizei, Kriminalität oder das Protest Policing mit geringer Einbettung in die lokale Geschichte oder institutionelle und soziale Kontexte. Polizeiarbeit erschien so überpolitisiert, dekontextualisiert und momentgetrieben.Footnote 23

Es waren vor allem die urbanen Unruhen der 1980er Jahre sowie die ihnen zugrundeliegenden gesellschaftlichen Wandlungen, die das Themenfeld Police Community-Relations in den Vordergrund treten ließen. Aber auch in den 1990er Jahren wurde der polizeiliche Umgang mit People of Colour, damals als ethnische Minderheiten bezeichnet, intensiv diskutiert. Die erste größere Analyse, im November 1981 vorgelegt von Lord Leslie George Scarman (1911–2004), galt den Unruhen im Londoner Stadtteil Brixton im April 1981. In diesem Scarman-ReportFootnote 24 ging es um die Frage, wie die Gewalt bei diesen urbanen Unruhen eskalieren konnte und welche Rolle die Polizei dabei gespielt hatte. Neben vielen anderen Ursachen hatten die als diskriminierend empfundenen Kontroll- und Festnahmepraktiken der Polizei zur Eskalation beigetragen. Der Bericht schlug vor, die Polizei besser auszubilden und verstärkt Polizist:innen aus ethnischen Minderheiten einzustellen, verneinte jedoch einen „Institutionellen Rassismus“ in der Polizei.Footnote 25 Der Macpherson- oder Lawrence-Report, die zweite Untersuchung, von der im Mai 1997 neugewählten Labour-Regierung auf den Weg gebracht, wurde im November 1999 von Sir William Alan Macpherson of Cluny vorgelegt. Analysiert wurde, ob bzw. inwieweit die polizeilichen Ermittlungen über den von einer Gruppe weißer Jugendlicher im April 1993 ermordeten Stephen Lawrence durch rassistische Praktiken (in) der Polizei behindert wurden. Dieser Bericht fand eine noch breitere und länger anhaltende Resonanz als der Scarman-Report.

Die 1990er Jahre waren im Vereinigten Königreich nicht nur geprägt vom sich abzeichnenden Ende der Ost-West Konfrontation und des damit verbundenen Kalten Kriegs. Diese politischen Umbrüche fielen zusammen mit einer grundsätzlichen Infragestellung bisher tragender innenpolitischer Säulen, mit ausgelöst durch langfristige Wirkungen der Dekolonisierung: Die Selbstgewissheit erodierte, in einer Gesellschaft zu leben, in der alle Schichten und ethnischen Gruppen durch einen sozialen und politischen Konsens zusammengehalten wurden. Wie immer deutlicher wurde, ging dieser Konsens jedoch im Prinzip von den Bedürfnissen der weißen Bevölkerung aus.Footnote 26 Zudem wurde der Mythos vom männlichen liberalen englischen Bobby-Polizisten kritisch hinterfragt und auch die soziale Ausgrenzung der People of Colour in städtischen Problemvierteln deutlicher als zuvor erkannt. Der Zensus von 1991 thematisierte erstmals die ethnische Zugehörigkeit, ein Schritt, der politisch durchaus umstritten war. Für viele People of Colour galt: „violence, intimidation and verbal aggression had been an integral part of their daily lives“.Footnote 27

Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen initiierte der Macpherson-ReportFootnote 28, speziell der hier verwendete Begriff Institutioneller Rassismus, eine intensive Diskussion, über rassistisches Denken und Handeln nicht nur in der englischen Polizei, sondern auch in anderen staatlichen Einrichtungen. In Kap. 47 bündelte der Report 70 Verbesserungsvorschläge für polizeiliche Arbeit. Der Macpherson-Report vermittelte zwei grundlegende Einsichten in den Umgang mit rassistischen Praktiken – vor allem (aber nicht nur) in der englischen Polizei.Footnote 29 Erstens bestanden auch im England der 1990er Jahre zunächst massive Bedenken gegen eine gründliche Untersuchung der Polizei von außen. Auch dort wurde, ähnlich wie in der aktuellen deutschen Debatte, anfangs der Selbstreinigungskraft der Organisation vertraut, die Bedeutung von Einzelfällen diskutiert und erörtert, ob solche Analysen eventuell einen Generalverdacht gegen alle Polizist:innen transportieren oder gar das Vertrauen in die Polizei erschüttern würden. Zweitens erbrachten erst von außerhalb der Polizei durchgeführte wissenschaftliche Untersuchungen genaue Erkenntnisse über polizeiinterne Probleme im Fall von Stephen Lawrence.Footnote 30 Zuvor waren zwei polizeiinterne Versuche gescheitert, die gegen die Polizei gerichteten Beschuldigungen aufzuklären. Diese Problemlage beschrieb der Macpherson-Report so:

„The conclusions to be drawn from all the evidence in connection with the investigation of Stephen Lawrence’s racist murder are clear. There is no doubt but that there were fundamental errors. The investigation was marred by a combination of professional incompetence, institutional racism and a failure of leadership by senior officers. A flawed MPS review failed to expose these inadequacies. The second investigation could not salvage the faults of the first investigation.“Footnote 31

Der Report bietet eine Definition des Begriffs Institutioneller Rassismus, verstanden als:

„The collective failure of an organisation to provide an appropriate and professional service to people because of their colour, culture, or ethnic origin. It can be seen or detected in processes, attitudes and behaviour which amount to discrimination through unwitting prejudice, ignorance, thoughtlessness and racist stereoty** which disadvantage minority ethnic people. It persists because of the failure of the organisation openly and adequately to recognise and address its existence and causes by policy, example and leadership. Without recognition and action to eliminate such racism it can prevail as part of the ethos or culture of the organization.“Footnote 32

Im Februar 1999 akzeptierten der damalige Innenminister Jack Straw und auch der Londoner Polizeichef, Sir Paul Condon, sowohl die Definition des Institutionellen Rassismus als auch die Ergebnisse der Kommission.Footnote 33 Straw erklärte offen:

„The House will share my sense of shame that the criminal justice system, and the Metropolitan police in particular, failed the Lawrence family so badly. The Commissioner of Police of the Metropolis, Sir Paul Condon, has asked me to tell the House that he shares that sense of shame. He has also asked me to tell the House that, as head of the Metropolitan police service, he fully accepts the findings of the inquiry, including those relating to him.“Footnote 34

Zwar hatte die Umsetzung der Polizeireformen des Macpherson-Report enge Grenzen. Aber die Reformmaßnahmen veränderten zumindest die Sprachcodes in der Polizei. Wie selbst kritische Forschungen einräumten, wurden rassistische Formulierungen seitdem vermieden.Footnote 35 Andere Diskriminierungen (gegen Frauen oder Homosexuelle) blieben hingegen bestehen.Footnote 36 Jedoch geriet das Verhältnis zwischen der Polizei und den von ihren Maßnahmen betroffenen Communities kaum in den Blick.Footnote 37 Zumindest wurden intensiv die Rückwirkungen diskutiert, die der polizeiliche Straßendienst in damals als afrikanisch-karibische Problemviertel bezeichneten Stadtteilen auf die Formierung von Rassismus innerhalb der englischen Polizei haben konnte. Insgesamt gesehen stand die Beeinflussung der Kultur der englischen Polizei mit ihren Praxisroutinen und kulturellen Codes nicht im Zentrum der Reformen. Da aber die rassistischen Praktiken tief in dieser Kultur verankert waren, kamen Veränderungen nur sehr schwer voran.

Jedoch sorgte der im Bericht verwendete und oben schon vorgestellte Begriff Institutioneller Rassismus für langanhaltende Kontroversen auf drei miteinander verflochtenen Ebenen. Erstens überwog forschungspraktisch die Kritik. Mit Blick auf die Analyse des innerpolizeilichen Alltags gilt: Institutioneller Rassismus „appears simultaneously everywhere and nowhere“.Footnote 38 Unter leitenden englischen Polizist:innen führte diese Sichtweise in nicht wenigen Fällen zu einer, wenn nicht resignativen, so doch negativ essentialistischen Haltung: In den mir unterstellten Dienststellen gibt es zwar institutionelle und individuelle rassistische Praktiken, die ich aber nicht ändern kann.Footnote 39 Zweitens ist der Terminus konzeptionell Ausdruck einer wenig zutreffenden Dichotomie zwischen Individuum und Struktur. Im Macpherson-Report ist der Begriff trotz anderslautender Bekundungen zu sehr auf individuelles Handeln ausgerichtet.Footnote 40 Wie diese individuellen Aktivitäten über Wiederholungen und durch Vernetzung mit anderen Praktiken in dezentralen racial projects (Omi und Winant) dauerhaft wirken, bleibt unberücksichtigt. Drittens wurde Institutioneller Rassismus in der Öffentlichkeit zu einem Schlagwort, das stellvertretend für alle im Macpherson-Report formulierten Reformansätze stand. In (forschungs-)politischer Hinsicht ließe sich sogar sagen: Institutioneller Rassismus wurde durch den Macpherson-Report zu einem globalen Signalwort mit hoher Mobilisierungswirkung. Ungeachtet und vielleicht sogar wegen der Unbestimmtheit des Begriffs konnten und können so rassistische Praktiken thematisiert werden, die über individuelle Aktivitäten hinausgingen bzw. -gehen.

5 Zusammenfassung: Interdisziplinarität, Kultur der Polizei, Institutioneller Rassismus in racial projects

Der Polizeiforschung fehlt eine interdisziplinär profilierte und zeitlich längerfristig orientierte Einbettung in eine transnationale und transferoffene Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, getragen von einer geschichtswissenschaftlich fundierten kooperativ-reflexiven Interdisziplinarität. Auch um zu vermeiden, dass nationale Spezifika der jeweiligen Polizeien ausgeblendet werden, bietet die Kultur der Polizei gute Ausgangspunkte für solche Studien zum Revierdienst sowie zu Demonstrations- und Stadioneinsätzen. Einzubeziehen wäre die kritische Diskussion des Begriffs Institutioneller Rassismus in seinen dezentralen racial projects. Mit Blick auf die deutsche Polizei könnten solche Arbeiten an fünf Problemkomplexen polizeilicher Tätigkeit ansetzen: Die Definitionsmacht im (Revier-)Dienst vor Ort; die Suche nach Ordnung; die Ausbildung; hochkohäsive Kleingruppen; Leitbilder harter Männlichkeit.

Im England der späten 1980/90er Jahre fiel das kritische Nachdenken über Polizei zusammen mit einer tiefen Infragestellung sozialer, kultureller und politischer Ordnungen, mit beeinflusst von langfristigen Folgen der Dekolonisation. In diesem Setting fand die im Macpherson-Report artikulierte Kritik an der Polizei starke Resonanz. Ähnlich wie in der aktuellen deutschen Debatte bestanden auch in der englischen Polizei zunächst massive Bedenken gegen eine gründliche Untersuchung der Polizei von außen. Jedoch erbrachten erst von außerhalb der Polizei durchgeführte wissenschaftliche Analysen des Revierdiensts genaue Erkenntnisse über polizeiinterne Probleme und benannten konstruktive Lösungsansätze. Die ausgehend vom Macpherson-Report implementierten Maßnahmen veränderten die Sprache innerhalb der Polizei – rassistische Formulierungen wurden vermieden. Doch hatte die praktische Umsetzung der Reformen enge Grenzen; rassistische Praktiken waren in der Kultur der englischen Polizei tief verankert und nur schwer veränderbar.

Das globale Signalwort Institutioneller Rassismus entfaltet (inzwischen) auch mit Blick auf die deutsche Polizei eine hohe Mobilisierungswirkung. Ungeachtet und vielleicht sogar wegen der Unbestimmtheit des Begriffs konnten bzw. können so rassistische Praktiken thematisiert werden, die über individuelle Aktivitäten hinausgingen. Wissenschaftlich betrachtet transportiert der vage Terminus jedoch eine inzwischen analytisch überkommene Dichotomie von Struktur und (individuellem) Handeln. Aber auch Strukturen entstehen nicht aus sich heraus, sondern werden durch Interaktionen und dynamische Wiederholungen geschaffen. Auch einzelne Polizist:innen agieren nicht isoliert. Ihre Aktivitäten sind eingebunden in kulturelle (Mikro-)Kontexte, sind vernetzt mit den und bezogen auf die Handlungen von Kolleg:innen. Zudem haben all diese Akteur:innen und Settings ihre Geschichte, die analytisch aufbereitet werden sollte. Zu guter Letzt verdeutlicht der Blick auf den Macpherson-Report und seine Umsetzung(sversuche): Ein politischer Wille kann trotz aller kulturellen Beharrungskräfte Reformen staatlicher Organisationen (hier: der Polizei) vorantreiben.