Der Maßregelvollzug in Deutschland

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Therapeutische Arrangements im Maßregelvollzug
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Zusammenfassung

Nach einer Einführung in die allgemeinen Rahmenbedingungen des Maßregelvollzugs in Deutschland werden neben den rechtlichen Grundlagen auch hieraus entstehende Problematiken der organisationalen Umsetzung dargestellt. Zudem wird auf das schwierige Verhältnis von Soziologie und Psychiatrie eingegangen. Anschließend wird die Paradoxie der Sozio- und Milieutherapie herausgestellt, im Rahmen einer Organisation Natürlichkeit und Normalität herstellen zu wollen. Ferner werden die spezifischen, mit dem Doppelauftrag der forensischen Psychiatrie verbundenen Rollenkonflikte des Personals behandelt.

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Notes

  1. 1.

    Darüber hinaus benennt das Strafgesetzbuch mit § 64 StGB den Fall, dass eine Person per richterlicher Anordnung in eine „Entziehungsanstalt“ eingewiesen werden kann, sofern diese den „Hang“ hat, „alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen“, die rechtswidrige Tat in unmittelbaren Zusammenhang mit diesem Hang zu bringen ist und weitere Taten infolge dieses Hangs zu erwarten sind. Eine solche Unterbringung soll jedoch nur erfolgen, insofern eine hinreichende Aussicht auf Heilung oder längerfristige Vermeidung von Rückfällen zu erwarten ist. Diesen Bereich des Maßregelvollzugs haben wir in unserer Studie ausgeklammert.

  2. 2.

    Die Einsicht, dass nicht jeder Mensch in gleichem Maße für seine Straftaten zur Verantwortung gezogen werden kann, besteht schon seit über tausend Jahren (vgl. Haack 2016; Schott und Tölle 2006, S. 324 ff.). Mit dem Deutschen Reich wurden 1871 rechtliche Regelungen eingeführt, die denjenigen für nicht schuldhaft erklären, der „im Zustand schwerer psychischer Störung eine Straftat begangen hat“ (ebd. 325). Der Einfluss der Medizin auf den Umgang mit Straftätern bildete sich dabei im Wesentlichen im 19. Jahrhundert aus (vgl. Foucault 2005: 39 ff.). Nach einigen Gesetzesentwürfen zu Zeiten des Kaiserreichs sowie der Weimarer Republik erlangte die rechtliche Regelung der Behandlung von sogenannten Gewohnheitsverbrechern allerdings erst 1933 durch die Nationalsozialisten Gesetzeskraft (Kammeier 1995). Der damals eingeführte § 42b RStGB besteht bis heute (als § 63 StGB) nahezu unverändert fort.

  3. 3.

    Siehe zu unterschiedlichen Modellen der Bearbeitung moralischer Einsichtsfähigkeit bereits Foucault (1996 [1961], S. 265).

  4. 4.

    Begründungspflichtig ist dabei die Fortdauer der Unterbringung. Nicht die Lockerungen sind begründungspflichtig, sondern das Zurückhalten von Lockerungen, also das Ausmaß des Freiheitsentzugs (vgl. Kammeier 2016a, b).

  5. 5.

    Vgl. Leygraf (1988), Dessecker (2004), Eher et al. (2016) und Feißt (2018b).

  6. 6.

    Im Rahmen der Untersuchungshaft kann sich die Entscheidung allerdings noch ein halbes Jahr hinziehen. Entsprechend § 126a der Strafprozessordnung kann der Richter zunächst die Einweisung in den Maßregelvollzug anordnen. Im weiteren Verlauf werden dann auf Basis der psychiatrischen Gutachten und anderer Indizien Anwälte und Gerichte verhandeln, wie es weitergeht.

  7. 7.

    Das ist dann nicht nur eine Frage der ‚Haltung‘ des Personals, sondern wird auch dadurch beeinflusst, ob es in der Umgebung der Klinik besonders wachsame Bürgerinitiativen gibt, das Vertrauen in die Medien der lokalen Berichterstattung gut oder schlecht ist oder ob gerade Wahlen auf kommunaler oder Landesebene anstehen. Kurz vor Wahlen – so wurde uns in einer Klinik berichtet – sei man restriktiver, was Lockerungen angeht.

  8. 8.

    Die Großzahl der im Maßregelvollzug untergebrachten sind Männer. Damit ergibt sich die Frage, ob die wenigen Frauen in einem isolierten Behandlungsregime untergebracht oder in der einen oder anderen Form in ein geschlechtergemischtes Setting integriert werden.

  9. 9.

    Die rechtliche Ausgestaltung des Maßregelvollzugs ist Ländersache und wird in entsprechenden Maßregelvollzugsgesetzen oder diesbezüglichen Regelungen im sogenannten Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) geregelt.

  10. 10.

    Vergleicht man die unterschiedlichen mittleren Verweildauern in Deutschland, so werden deutliche Differenzen zwischen unterschiedlichen Bundesländern ersichtlich (von 6,5 Jahren in Hessen über 10,6 Jahren in NRW bis zu 12,4 Jahren im Saarland. Diese Zahlen beziehen sich auf die Unterbringungsdauer für diejenigen Patienten, die im Bezugsjahr aus der Maßregel ausgeschieden sind (Beendigung) (Jaschke und Oliva 2020). Das ist je Land ein von Jahr zu Jahr stark schwankender Anteil von Patienten (die N sind dabei teilweise sehr klein, so dass Extremwerte stark ins Gewicht fallen und die Jahresdurchschnitte prägen). Um dem entgegenzuwirken und um Verzerrungen aus Bundesländern mit kleineren Entlassungskohorten wie dem Saarland vorzubeugen, werden die Daten aus den Jahren 2015 bis 2018 aggregiert. Ein möglicher Anstieg über diese vier Jahre mittelt sich dann (leider) ebenfalls aus.

  11. 11.

    Der Anteil der über 10 Jahre (!) in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten lag 2006 bei 17,8 %, 2012 bei 28,7 % und 2015 bei 32,2 %, vgl. Jaschke u. Jaschke (2017) sowie Jaschke u. Oliva (2014). Schiffer und Schalast (2019, S. 151) geben an, dass fast jeder dritte Patient (§ 63 StGB) bereits über 10 Jahre untergebracht ist.

  12. 12.

    Vgl. BGH-Beschluss vom 14.07.2016: Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften. Des Weiteren Kammeier (2014, 2016a) sowie Pollähne (2015).

  13. 13.

    Schon im Rahmen der Psychiatrieenquete von 1975 wurde der Behandlung der nach § 63 StGB verurteilten Rechtsbrecher eine „Schlusslichtposition“ in der Versorgungslandschaft attestiert. Leygraf sprach noch 1988 in einer bundesweiten Erhebung von „gigantischen Lebensversickerungsanlagen“ mit „desolaten, deprimierenden und unzulänglichen“ Unterbringungs- und Behandlungsbedingungen (1988, zitiert nach Pollähne 2015, S. 9 f.). Dies löste entsprechende Reformbemühungen aus, die unter anderem die Dezentralisierung des Behandlungsangebotes und die programmatische Änderung der Benennung der Maßregel von „Sicherung und Besserung“ zu „Besserung und Sicherung“ nach sich zogen.

  14. 14.

    Wobei dies ein etwas verzerrtes Bild darstellt, so Hildenbrand (2000), da sich die wenigen Beiträge einer psychiatrischen Soziologie „außerhalb der offiziellen Etikettierung“ (ders., S. 5) entwickeln und so in der Zeitschriftenanalyse nicht erfasst wurden.

  15. 15.

    Wobei Kritiker wiederum einwenden mögen, dass die geschädigte Autonomie Ausdruck einer Autonomie-schädigenden Gesellschaft sei. Einschränkung von Autonomie ist nun gerade die raison d'être der Gesellschaft. Das sich hieraus ergebende Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft ist demnach nicht aufzulösen, es gilt vielmehr dieses (unter anderem auch durch Gesellschaftskritik) immer wieder neu auszuloten.

  16. 16.

    Letzteres gipfelte in den methodischen Fehlern des Rosenhan-Experiments (Rosenhan 1990) und der Radikalität Scheffs (1973), Krankheit nur noch als Label zu sehen, damit aber die Möglichkeit zu verspielen, eine wie auch immer angemessene Antwort auf das Leiden der Betroffenen geben zu können.

  17. 17.

    Vgl. das Soteria-Konzept, insb. das „weiche Zimmer“ (vgl. Aebi et al. 1996).

  18. 18.

    Vgl. auch Sen et al. (2007).

  19. 19.

    Im Sinne einer Funktionalität „geschlossener Bewusstheitskontexte“ (Glaser und Strauss 1965) scheint es also mitunter durchaus produktiv zu sein, in stillschweigender Übereinkunft über die ggf. schlechten Zukunftsperspektiven der Betroffenen hinwegzusehen, um ihnen gerade hierdurch noch eine rudimentäre Verortung in den Skripten einer Normalbiografie zu ermöglichen.

  20. 20.

    Auch die von Strauss et al. (1963) vorgelegten Studien zum „hospital as negotiated order“ erscheinen hier in einem neuen Licht, nämlich ebenfalls als ein Arrangement, das den Insassen Möglichkeiten und Spielräume eröffnet, in ihren Interaktionen trotz beschädigter Autonomie eine gewisse Selbstwirksamkeit zu erfahren.

  21. 21.

    Zumindest im Falle schizophrener Patienten befinden sich die Patienten also in einem Setting, welches vergleichbare Kommunikationsstrukturen aufweist, wie sie im Kontext der Familie für die Entstehung der Krankheit (mit-)verantwortlich gemacht werden (vgl. Bateson et al. 1969).

  22. 22.

    Dabei ist darauf hinzuweisen, dass insbesondere die pflegewissenschaftliche Forschung eine für unseren Zusammenhang interessante dritte Position einnimmt. Besonders deutlich wird dies bei Themen der Beziehungsgestaltung zu den Patienten in der forensischen Psychiatrie, maßgeblich gekennzeichnet durch das unauflösbare Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz, Freundschaft und professionellem Verhältnis und in der Doppelfunktion, sowohl „Schließer“ als auch „Pfleger“ zu sein (s. beispielsweise Bowers et al. 2010; Bressington et al. 2010; Jacob und Holmes 2011; Jacob et al. 2008; Kumpula und Ekstrand 2009; Perron und Holmes 2011; Peternelj-Taylor 2004).

  23. 23.

    Siehe zur Klassifikation von psychischen und Verhaltensstörungen die Ziffern F00 bis F99 des ICD-10-GM.

  24. 24.

    Gerade dieser Aspekt wird in einer Psychiatriekritik, die nicht in die Handlungsvollzüge eingebunden ist, vernachlässigt. Der Soziologe Dirk Richter kritisiert dies scharf und macht genau diese Haltung für die derzeitige Irrelevanz der Soziologie für psychiatrische Praxis verantwortlich. „Eine zeitgemäße Soziologie psychischer Störungen wird nicht darauf verzichten können, die elementare Bedeutung biologischer Faktoren in diesem Kontext anzuerkennen“ (Richter 2003, S. 17).

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Vogd, W., Feißt, M. (2022). Der Maßregelvollzug in Deutschland. In: Therapeutische Arrangements im Maßregelvollzug. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37131-9_1

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