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1 Chronische Erkrankung als Modellfall zur Klärung des Verhältnisses von körperlichem und psychischem Wohlbefinden

Die Beziehung zwischen körperlicher Gesundheit einerseits und psychischem Wohlbefinden und Gesundheit andererseits ist komplex und unterliegt vielen Einflussfaktoren und Wechselwirkungen. Ein wichtiger methodischer Zugang liegt in der Untersuchung von gesundheitsbezogenen Daten einerseits und psychometrischen Daten andererseits in möglichst repräsentativen Kollektiven aus der Normalbevölkerung mit einem entsprechend hohen Anteil an gesunden Personen. Ein Beispiel für einen solchen methodischen Zugang mit einem hohen Stichprobenumfang, und einem längsschnittlich angelegten Design stellt die HBSC-Studie dar (vgl. aktuell: Heinz et al. 2020; Kern et al. 2020). Solche epidemiologisch ausgerichteten Studien können basierend auf einer hohen statistischen Power subtile Unterschiede im Gesundheitszustand, dem gesundheitsrelevanten Verhalten sowie dem Wohlbefinden bei Kindern und Jugendlichen und deren Prädiktoren identifizieren.

Ein methodisch komplementärer Zugang sind Studien bei spezifischen Risikogruppen, bei denen von einer besonderen Relevanz des körperlichen Gesundheitszustandes für die psychische Gesundheit auszugehen ist. Psychische Gesundheit soll hier nicht verkürzt in einem kategorialen Sinne verstanden werden als Abwesenheit von psychischer Störung entsprechend der Störungskriterien zum Beispiel nach ICD oder DSM. Analog zur Begriffsbestimmung von körperlichen Gesundheit und Krankheit soll auch psychische Gesundheit und Krankheit vielmehr als Kontinuum eines Anpassungsergebnisses und als multidimensionales Konstrukt eines biopsychosozialen Anpassungsprozesses verstanden werden (vgl. Hurrelmann et al. 2018; Hurrelmann und Richter 2013; Richter und Hurrelmann 2016). Die Übersicht 1 führt solche vielschichtigen biopsychosozialen und damit auch interdisziplinär relevanten Entwicklungsbedingungen und Entwicklungsergebnisse von Krankheit und Gesundheit auf.

Übersicht 1:

Acht interdisziplinär tragfähige Maximen von Gesundheit und Krankheit nach Hurrelmann (vgl. Hurrelmann und Richter 2013, 139–146)

  1. 1.

    Gesundheit und Krankheit ergeben sich aus einem Wechselspiel von sozialen und personalen Bedingungen, welches das Gesundheitsverhalten prägt.

  2. 2.

    Die sozialen Bedingungen (Gesundheitsverhältnisse) bilden den Möglichkeitsraum für die Entfaltung der personalen Bedingungen für Gesundheit und Krankheit.

  3. 3.

    Gesundheit ist das Stadium des Gleichgewichts, Krankheit das Stadium des Ungleichgewichts von Risiko- und Schutzfaktoren auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene.

  4. 4.

    Gesundheit und Krankheit als jeweilige Endpunkte von Gleichgewichts- und Ungleichgewichtsstadien haben eine körperliche, psychische und soziale Dimension.

  5. 5.

    Gesundheit ist das Ergebnis einer gelungenen, Krankheit einer nicht gelungenen Bewältigung von inneren und äußeren Anforderungen.

  6. 6.

    Persönliche Voraussetzung für Gesundheit ist eine körperbewusste, psychisch sensible und umweltorientierte Lebensführung.

  7. 7.

    Die Bestimmung der Ausprägungen und Stadien von Gesundheit und Krankheit unterliegt einer subjektiven Bewertung.

  8. 8.

    Fremd- und Selbsteinschätzung von Gesundheits- und Krankheitsstadien können sich auf allen drei Dimensionen – der körperlichen, der psychischen und der sozialen – voneinander unterscheiden.

Das Leben mit einer chronisch-somatischen Erkrankung ist eine solche Konstellation, bei der die Wirkmächtigkeit des körperlichen Krankheits/Gesundheitszustandes auf die psychische Gesundheit sehr eindrücklich hervortritt. Wenn die körperliche Gesundheit dauerhaft gefährdet und beeinträchtigt ist, resultiert ein Leidensdruck, der Anpassungsprozesse herausfordert. Die statistische Power der großen Zahl in epidemiologischen Studien wird hier komplementär gespiegelt durch die klinische „Power“ bzw. Effektstärke der intensiven Betroffenheit im Einzelfall („impact“).

Ein viel zitiertes Sprichwort besagt: „Gesundheit ist nicht alles. Aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Das Sprichwort soll anzeigen, dass die Wirkung des körperlichen Wohlbefindens im Zustand der Gesundheit in der Wahrnehmung nicht sonderlich hervorsticht, dies sich aber bei ernsthaften gesundheitlichen Beschwerden schlagartig ändern kann. Dies gilt umso eindrücklicher, wenn es sich um eine chronische Erkrankung handelt, die mit besonders aversiven Schmerzen oder Beschwerden einhergeht und viele Sorgen nicht nur um den Erkrankungszustand im engeren Sinne, sondern auch um dessen Vereinbarkeit mit vielen Rollen und Bedürfnissen des Alltagslebens einhergeht. Beschwerden, Befürchtungen und Sorgen binden wiederkehrend und selektiv die Aufmerksamkeit des Bewusstseins an den körperlichen Krankheitszustand. Bei Jugendlichen kreisen die Sorgen nicht nur um die Einschränkungen in der Gegenwart, sondern auch um Zukunftsentwürfe in allen relevanten Domänen wie Partnerschaft und Intimität, Ausbildung und Beruf, Freizeit und Hobbys sowie Loslösung von der Herkunftsfamilie und Autonomiemotive. Die Salienz, also der emotionale und motivationale Stellenwert der körperlichen Befindlichkeit innerhalb der persönlichen Motivations- und Wertehierarchie steigt bei Krankheit zusätzlich an, insbesondere wenn eine chronische Erkrankung absehbar nicht heilbar ist und Anpassungserfordernisse geradezu erzwingt. Ein chinesisches Sprichwort bringt dies für die Situation des gesunden Menschen schön zum Ausdruck: „Der Schuh, der passt, den spürt man nicht!“. Man mag komplementär für den chronisch kranken Menschen vervollständigen: „Der Schuh, der drückt, den spürt man stetig.“

Chronisch-somatische Erkrankungen mit ihrer zentralen Wertigkeit des körperlichen Wohlbefindens für das psychische Wohlbefinden stellen damit neben epidemiologischen Populationsstudien ein ausgezeichnetes Modellbeispiel zur Klärung der Beziehung zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit dar. Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags soll daher ein Entwicklungsmodell zur psychischen Adaptation an chronisch-somatische Erkrankung stehen, das die vielschichtigen biopsychosozialen Bedingungsfaktoren für einen positiven wie negativen psychischen Status ausdifferenziert. Die Einflussfaktoren sind sehr vielschichtig, können aber in einem Modell so geordnet werden können, dass die Entwicklung eines bestimmten, individuellen psychischen Anpassungsergebnisses nachvollziehbar wird. Der Bewältigungsprozess kann erfolgreich verlaufen und in eine Wiederherstellung des psychischen Gleichgewichts münden. Er kann aber auch scheitern, so dass das psychische Wohlbefinden und in Folge auch der körperliche Gesundheitszustand nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen werden.

2 Prävalenz chronischer Erkrankungen

Zu den chronischen Erkrankungen können Krankheitsbilder gezählt werden (Noeker und Petermann 2008a, 2013; Shapiro et al. 2017),

  • deren Dauer mindestens ein Jahr überschreitet,

  • die mit Einschränkungen der Funktionsfähigkeit und sozialen Rollen einhergehen und

  • bei denen die betroffenen Kinder und Jugendlichen wiederkehrend auf kompensatorische Hilfen (Medikation, Diät, Hilfsmittel, persönliche Anleitung)sowie auf wiederholte medizinisch-pflegerische und/oder psychologisch-pädagogische Unterstützung angewiesen sind.

Die Häufigkeitsangaben variieren in der Literatur je nach Einschluss oder Ausschluss spezifischer Krankheitsbilder und der Berücksichtigung von überdauernden Behinderungen (Barker et al. 2019). Chronisch-somatische Erkrankungen nehmen international kontinuierlich zu. Auf der Basis der deutschen KiGGS-Studie betragen die Lebenszeitprävalenzen bei Kindern und Jugendliche im Alter von null bis 17 Jahren bei atopischer Dermatitis 13,2 %, bei Asthma 4,7 %, bei Diabetes mellitus 0,14 % und bei Krampfanfällen/epileptischen Anfällen 3,6 %. Noch stärker als die Inzidenzraten (Neuerkrankungen pro Jahr) steigen die Prävalenzraten, also der Anteil chronisch kranker Kinder an der Gesamtbevölkerung (Klauber et al. 2016; Noeker 2019b; Noeker und Petermann 2013). Medizinischer Fortschritt senkt weniger den Versorgungsbedarf durch Heilung einer chronischen Krankheit, sondern erhöht ihn vielmehr vor allem durch die Verlängerung der Lebenserwartung von Kindern, die früher an ihrer Krankheit verstorben wären und heute zu Dauerpatienten werden. Viele Erkrankungen wie Diabetes, Asthma, Epilepsie, Hämophilie können zwar medizinisch noch nicht geheilt, aber effektiv symptomatisch behandelt werden. Viele Patienten gewinnen eine fast normale Lebenserwartung, benötigen dazu aber dauerhaft medizinische Therapie und Pflege sowie zunehmend komplementäre klinisch-psychologische Beratung, Anleitung, Edukation, Schulung und Therapie (Bal et al. 2016; Bennet et al. 2015; Eccleston et al. 2015; Härter Baumeister und Bengel 2007; Kirk et al. 2012; Kompetenznetz Patientenschulung im Kindes und Jugendalter 2016; Lindsay et al. 2014; Noeker 2008a, 2013, 2019, 2020; Shapiro et al. 2017). In gesundheitsökonomischer Hinsicht geht dies mit dem nur vordergründigen Paradox einher, dass medizinischer Fortschritt weniger die Behandlungskosten durch Heilung senkt, sondern vielmehr durch eine verlängerte Lebenserwartung chronisch kranker Patienten und damit Leistungsempfängern insgesamt erhöht (Noeker 2019b; Suryavanshi und Yang 2016).

3 Typologie eines gemeinsamen Auftretens körperlicher und psychischer Symptomatik

Nicht in jedem Fall liegt bei einem Zusammentreffen von körperlichen und psychischen Symptomen eine chronische Erkrankung zugrunde. Vielmehr können körperliche Symptome in sehr unterschiedlicher Weise mit psychischen Ursachen, Begleiterscheinungen und Folgestörungen in Verbindung stehen. Das Kapitel F des Klassifikationssystems ICD-10 führt hierzu unterschiedliche Konstellationen bzw. Diagnosegruppen auf. Diese gilt es differenzialdiagnostisch klar zu unterscheiden. Die Übersicht 2 gruppiert diese Störungsbilder entsprechend ihrer Strukturierung und Klassifikation im ICD-10.

Übersicht 2:

Typologie einer Koinzidenz von körperlichen Symptomen mit psychischen Ursachen, Begleiterscheinungen und Folgestörungen im Sinne der Störungskategorien des ICD-10

  1. 1.

    Komorbidität von somatischer Erkrankung (also Erkrankungsbilder, die außerhalb des F-Kapitels im ICD 10 kategorisiert werden, z. B. Morbus Crohn) und psychischer Störung (Störungsbilder kategorisiert innerhalb des F-Kapitels im ICD 10, z. B. depressive Episode während eines erneuten Schubs der chronisch-entzündlichen Darmerkrankung).

  2. 2.

    Psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten somatischen Krankheiten (ICD-10 F54). Diese Kategorie wird verwendet, wenn eine körperliche Erkrankung (z. B. Diabetes mellitus) durch Verhaltensfaktoren (wie zum Beispiel eine unzureichende Therapiemitarbeit) in ihrem Verlauf nachhaltig beeinträchtigt wird. Die dysfunktionalen Verhaltensfaktoren sind für den Verlauf der körperlichen Erkrankung abträglich, erreichen aber selbst keine psychopathologische Störungswertigkeit.

  3. 3.

    Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (ICD-10 F5). Die Verhaltensauffälligkeiten manifestieren sich hier vorrangig in Form von körperlichen Symptommanifestationen wie zum Beispiel bei nicht-organischen Schlafstörungen oder Essstörungen wie Anorexie oder Bulimie (vgl. z. B. Legenbauer et al. 2018).

  4. 4.

    Spezifische Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit & Jugend (ICD-10 F98.0). Hierzu zählt zum Beispiel die nicht-organische Enuresis, die sich zwar körperlich in Form des Einnässens manifestiert, die aber abgesehen von einer möglichen körperlichen Reifungsverzögerung nicht wesentlich durch eine strukturelle biologische Schädigung verursacht ist (vgl. z. B. Gontard 2018).

  5. 5.

    Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen (synonym: artifizielle Störung/Münchhausen by proxy Syndrom; Simulation; ICD-10 F68.0; Noeker et al. 2010). Hier erfolgt eine manipulierte und aktiv fabrizierte, aber gegenüber den Ärzten nicht offen kommunizierte Schädigung des eigenen Körpers bzw. des Körpers des Kindes durch eine Bezugsperson aus der Motivation heraus, so stellvertretend über das geschädigte Kind eine Krankenrolle einnehmen und daraus einen psychischen Gewinn ziehen zu können.

  6. 6.

    Motorische bzw. sensorische Konversionsstörungen sowie nichtepileptische Anfälle (ICD-10 F44; Noeker 2020). In der Regel gehen unbewusste bzw. nicht lösbare Konflikte und Belastungssituationen der Manifestation von solchen Konversionssymptomen voraus. Die Störungen zählen zur übergeordneten Gruppe der dissoziativen Störungen.

  7. 7.

    Somatoforme Störungen (Noeker 2008) bzw. Somatische Belastungsstörungen (ICD F45). Funktionelle körperliche Symptome erzeugen einen überproportionalen Leidensdruck, Einschränkungen der psychosozialen Funktionsfähigkeit bzw. eine übersteigerte Angst, an einer bedrohlichen Erkrankung zu leiden und in Folge ein übertriebenes Inanspruchnahmeverhalten von Praxen und Kliniken.

4 Besondere Bewältigungsanforderungen in Abhängigkeit vom medizinischen Verlaufsmuster der Erkrankung

Chronische Erkrankungen zeichnen sich je nach individuellem Krankheitsbild durch ein spezifisches Verlaufsmuster aus. Dieses Verlaufsmuster umfasst verschiedene Dimensionen, deren jeweilige Ausprägung die psychischen Belastungseffekte wiederum intensivieren oder abschwächen können (Noeker und Petermann 2003; Mitchell et al. 2015). Zu diesen Dimensionen zählen:

  • Erkrankungsbeginn: angeboren versus erworben

  • Dauer: zeitlich limitiert versus lebenslang

  • Prognose: stabil versus progredient versus remittierend

  • Akute Lebensbedrohlichkeit: Hohes oder niedriges Risiko von Krisenzuständen mit potenziell letalem Ausgang

  • Mehr oder weniger auftretende, beängstigende, akute Exazerbationen: häufig versus selten

  • Verfügbarkeit von Therapieoptionen

    • Grad der langfristigen Beeinflussung des Krankheitsverlaufs: heilbar versus unheilbar

    • Grad der eigenständigen Kontrollierbarkeit von plötzlichen Notfallsituationen versus Angewiesenheit auf professionelle Notfallmedizin.

Je nach Ausprägung dieser medizinischen Verlaufsdimensionen und deren Kombination im Rahmen der individuellen Grunderkrankung ergibt sich eine gewisse Übergangswahrscheinlichkeit für bestimmte psychische Folgebelastungen. Im Extremfall ist von einer besonders intensiven Belastung bei einer Erkrankung auszugehen, die lebenslang bzw. progredient mit einer verkürzten Lebenserwartung, einem hohen Risiko an plötzlichen, schwer vorhersehbaren und kontrollierbaren Symptomverschlechterungen sowie geringen Behandlungsoptionen der Grunderkrankung, ihrer Krisenzustände sowie der Beschwerden oder Schmerzen einhergeht.

5 Äquifinalität und Multifinalität des Anpassungsprozesses

Chronizität bedeutet Dauer, damit Veränderung über dem Entwicklungsverlauf, damit das Erfordernis einer längsschnittlichen und damit nicht nur klinisch-psychologischen, sondern auch entwicklungspsychologischen bzw. entwicklungspsychopathologischen Perspektive. Literatur wie klinische Erfahrung dokumentieren gleichermaßen eine ausgeprägte Varianz der psychischen Gesundheit innerhalb von Patientengruppen mit einer chronischen Erkrankung (vgl. Barker et al. 2019; Petermann et al. 1987; Silva et al. 2019). Die Abb. 1 illustriert in exemplarischer Weise die interindividuelle Heterogenität über den Entwicklungs- und Anpassungsverlauf bis hin zu einem Anpassungsergebnis (Outcome). Aus entwicklungspsychopathologischer Sicht kann diese Varianz sinnvoll mit den beiden komplementären Prinzipien der Äquifinalität und Multifinalität abgebildet werden:

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Eigene Abbildung)

Aquifinalität und Multifinalität des Adaptationsprozesses und der resultierenden psychischen Gesundheit bei unterschiedlichen chronisch-somatischen Grunderkrankungen.

  • Das Entwicklungsprinzip der Äquifinalität kann an drei Personen illustriert werden, die trotz individuell unterschiedlicher Krankheitsbilder über einen ähnlich verlaufenden Adaptationspfad im Ergebnis einen vergleichbaren psychischen Status herausbilden. In dem Beispiel der Abb. 1 bedeutet dies, dass drei Jugendliche, von denen einer an einem Asthma bronchiale, ein zweiter an einem Diabetes mellitus und ein dritter an einer Epilepsie leiden, im Verlauf ihres Bewältigungs- und Anpassungsprozesses an ihre jeweils individuelle Erkrankung alle ein sehr vergleichbares psychisches Anpassungsergebnis entwickeln können. Dies könnte zum Beispiel eine psychopathologisch identische depressive Störung im Sinne einer Dysthymie sein. Äquifinalität bezeichnet hier ein gleiches psychisches Entwicklungsergebnis trotz unterschiedlichem körperlichem Ausgangsbefund.

  • Das komplementäre Prinzip zur Äquifinalität ist das Prinzip der Multifinalität. Multifinalität bezeichnet das Phänomen, dass verschiedene Personen mit der gleichen chronischen Erkrankung, hier also zum Beispiel vier Jugendliche, die alle an einer Epilepsie leiden, gleichwohl sehr unterschiedliche Entwicklungs- und Adaptationsverläufe nehmen und einen sehr unterschiedlichen psychischen Status herausbilden können. So kann ein Jugendlicher eine psychische Störung, ein anderer Beeinträchtigungen seiner Lebensqualität und seines Wohlbefindens, ein weiterer eine unbeeinträchtigte Normalentwicklung vergleichbar zu gesunden Kontrollen und ein vierter Jugendlicher eine akzelerierte Reifungsentwicklung nehmen.

Beide Prinzipien der Äqui- und der Multifinalität verdeutlichen, dass der resultierende psychische Entwicklungsoutcome nicht verkürzt als Funktion der biomedizinischen Merkmale der jeweiligen Grunderkrankung verstanden werden darf. Vielmehr modulieren interindividuell variierende psychosoziale Risiko- und Schutzfaktoren als Mediatoren und Moderatoren den jeweiligen Entwicklungsverlauf und -ausgang (Petermann et al. 2020). Methodisch formuliert bedeutet dies, dass der Varianzanteil zu Lasten sozialmedizinischer, psychosozialer und kompetenzbezogener Variablen in der Regel höher ist als der Varianzanteil zu Lasten von Merkmalen der jeweiligen Grunderkrankung (Compas et al. 2012; Didsbury et al. 2016; Jaser et al. 2017; Noeker und Petermann 2003, 2008). Solche vielschichtigen Risiko- und Schutzfaktoren beim Patienten wie seiner Familie gilt es wissenschaftlich wie klinisch im Rahmen von Anamnese und Befunderhebung zu identifizieren (Noeker 2002b, 2006; 2011). Sie bieten neben der medizinischen Therapie der Grunderkrankung entscheidende Ansatzpunkte zur Einflussnahme auf den Adaptationsverlauf und damit den langfristigen Outcome im Sinne des Risikos einer psychopathologischen Störungsentwicklung bzw. von Beeinträchtigungen der Lebensqualität und des Wohlbefindens (Nolte und Osborne 2013; Trivedi 2013).

Diese Variabilität der Entwicklungsverläufe wird besonders erkennbar bei einer Subgruppe, die trotz des Lebens mit einer schwerwiegenden und bedrohlichen Grunderkrankung unter Anwendung kompensatorischer Bewältigungsstrategien mit effektiver Problemlösung, Krankheitsmanagement, Emotions- und Selbstregulation einen befriedigenden, ja mitunter sogar besonders gereiften psychischen Gesundheitszustand herausbilden kann. Diese kann in Einzelfällen sogar besser als bei gesunden Kontrollen sein. Diese Subgruppe kann als Beleg dienen, dass die Adaptation an eine starke gesundheitliche Beeinträchtigung solche intensiven Herausforderungen und Lernerfahrungen vermitteln kann, dass sich letztlich sogar die Chance auf einen psychisch gestärkten, resilienten Verlauf ergibt. Die Konfrontation mit den Stressoren aus Krankheit und Behandlung birgt daher in Einzelfällen auch die Möglichkeit zu einer Stimulierung und Ausdifferenzierung von spezifisch-gesundheitsbezogenen wie allgemein-psychosozialen Bewältigungskompetenzen, die ohne die unausweichliche Konfrontation mit den körperlichen Beeinträchtigungen sich nicht herausgebildet hätten (Noeker und Petermann 2008b).

6 Operationalisierung der psychischen Gesundheit bei chronischer Erkrankung

Psychische Gesundheit bei chronisch-körperlicher Krankheit kann unterschiedlich operationalisiert werden (Janssens et al. 2015; Morris et al. 2015). Abb. 1 führt ein Spektrum von vier in der Literatur verwendeten Parametern ein. Diese vier Parameter folgen einer dimensionalen Abstufung von einem besonders ungünstigen bis zu einem besonders günstigen Outcome. Sie spiegeln gleichzeitig bestimmte Paradigmen der empirischen Untersuchung der Beziehung von chronisch-somatischer Erkrankung und psychischer Gesundheit. Personen mit chronischer Erkrankung können sich von gesunden Kontrollen unterscheiden hinsichtlich einer psychopathologischen Komorbidität bzw. hinsichtlich subklinischer Beeinträchtigungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und des Wohlbefindens bzw. hinsichtlich weitgehend fehlender psychologischer Unterschiede bis hin zu erhöhten Chancen auf Entwicklungsgewinne und Resilienzentwicklungen im Zuge einer gelingenden Auseinandersetzung mit den gesundheitlichen Herausforderungen.

Psychopathologische Komorbidität

Eine Reihe von Studien hat die psychische Gesundheit im Sinne eines Auftretens einer Komorbidität von psychischer Störung bei vorliegender chronisch-somatischer Erkrankung operationalisiert. Demnach wird der psychische Status als beeinträchtigt bewertet, wenn sich im Zuge eines fehlschlagenden Anpassungsprozesses eine zusätzliche psychische Störung im Sinne psychiatrischer Klassifikationssysteme wie DSM bzw. ICD herausbildet. Dieser Parameter setzt einen vergleichsweise hohen Schwellenwert, um eine Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit zu bestätigen. In methodischer Hinsicht liegt eine niedrige Sensitivität vor. Psychische Beeinträchtigungen, die keine psychopathologische Störungswertigkeit im Sinne einer Diagnose nach den Klassifikationskriterien nach ICD bzw. DSM erreichen, werden im Zuge dieser Operationalisierung (noch) als Abwesenheit einer Beeinträchtigung bzw. als Normalbefund erfasst.

Nach Studienlage wird die Prävalenz psychischer Störungen bei Kindern mit einer chronisch-somatischen Erkrankung im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen als zwei- bis dreifach erhöht angegeben (vgl. Barlow und Ellard 2006; Noeker und Petermann 2013). Dieser Befund weist eine chronische Erkrankung damit zwar als statistischen Risikofaktor für die Entwicklung einer psychischen Störung aus, verweist aber umgekehrt ebenso darauf, dass die Mehrzahl der Betroffenen eben keine psychopathologische Störungswertigkeit herausbildet. Insbesondere im Rahmen der klinischen Diagnostik ist es für die Therapieplanung besonders relevant zu verstehen, aus welchen Gründen sich im jeweiligen Einzelfall eine psychische Komorbidität herausbildet oder eben nicht (Noeker 2016). Drei Entwicklungspfade auf dem Weg zu einer psychopathologischen Komorbidität sind zu unterscheiden:

  • Ätiopathogenetisch unabhängige Komorbidität von somatischer Krankheit und psychischer Störung. Diese Konstellation ist sehr wahrscheinlich, wenn in der Anamnese die Herausbildung der psychischen Störung (z. B. eines ADHS im Vorschulalter) der Manifestation der somatischen Erkrankung (z. B. der Manifestation eines Diabetes mellitus im Jugendalter) zeitlich schon vorausgeht. Eine unabhängige Komorbidität ist weiterhin wahrscheinlich, wenn die somatische und die psychische Störung keine gemeinsamen Ursachen aufweisen wie z. B. beim gemeinsamen Auftreten von ADHS und Diabetes mellitus, deren Entstehung vollkommen unabhängig ist.

  • Ätiopathogenetisch einheitliche Komorbidität. Die zugrunde liegende biologische Ätiologie der somatischen Erkrankung manifestiert sich hier zusätzlich zu den körperlichen Symptomen auch in Form einer Entwicklungsretardierung und/oder Verhaltensstörung. Diese Konstellation ergibt sich vor allem bei chronischen neuropädiatrischen Krankheitsbildern mit ZNS-Beteiligung (Holtmann 2007; Noeker 2005; Sarimski 2019). Viele genetische Syndrome und angeborene bzw. früh erworbene Stoffwechselerkrankungen erzeugen nicht nur körperliche Fehlbildungen und organische Funktionsbeeinträchtigungen, sondern auch einen charakteristischen kognitiven, affektiven oder behavioralen Phänotyp im Sinne erkrankungstypischer (pathognomischer) Verhaltensstörungen. Beispiele sind das Fragile X-Syndrom (u. a. Aufmerksamkeitsstörungen), das Prader-Willi-Syndrom (u. a. eines unstillbaren Appetits), die Phenylketonurie (u. a. Lernbeeinträchtigungen bei unzureichender Diätadhärenz) oder das Fetofetale Alkoholsyndrom (u. a. Aufmerksamkeits- und Verhaltensstörungen). Es ergeben sich fließende Übergänge von einer chronischen Erkrankung über eine Retardierung bzw. Störung der ZNS-Entwicklung bis hin zu einer geistigen, lernbezogenen, sensorischen oder motorischen Behinderung. Körperliche Erkrankung, funktionelle Behinderung zum Beispiel in der Fein- und Grobmotorik, neuropsychologische Defizite in den Bereichen Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Lernen und Intelligenz sowie Verhaltensstörungen gehen hier vielfach auf eine gemeinsame angeborene oder früh erworbene Ursache zurück. In manchen Fällen besteht die Option, über eine optimierte medizinische Behandlung der Grunderkrankung auch den Schweregrad der psychischen Störung positiv zu beeinflussen. Dies ist z. B. der Fall, wenn die Gabe eines Antikonvulsivums (Medikament zur Kontrolle epileptischer Anfälle) bei einem Kind mit Epilepsie und ADHS die Symptomatik des assoziierten ADHS besser kontrolliert als die Gabe von Psychostimulanzien (Noeker et al. 2005).

  • Konsekutive Komorbidität. Die größte Subgruppe bezieht sich auf diejenigen Kinder, bei denen eine kumulative Fehlanpassung an die Herausforderungen der chronischen Grunderkrankung im Zusammenwirken mit weiteren krankheitsunabhängigen Risikofaktoren bzw. dem Fehlen von Ressourcen sekundär zur Entwicklung einer psychischen Störung führt (vgl. Übersicht 3 mit dem Beispiel einer Komorbidität von Diabetes mellitus und Depression). Bei diesem Entwicklungspfad geht in der Anamnese charakteristischerweise die somatische Erkrankung der psychischen Störung voraus. Zum Zeitpunkt der Manifestation der psychischen Störung finden sich in der Anamnese oft kritische Wendepunkte im Verlauf der chronischen Erkrankung (z. B. Diagnose- oder Rezidivmitteilung, Operation, wiederkehrende Stoffwechselentgleisungen mit der Folge intensiver familiärer Auseinandersetzungen) oder hinzutretende krankheitsunabhängige kritische Lebensereignisse (z. B. Trennung der Eltern, Klassenwiederholung).

Übersicht 3: Erhöhte Komorbidität einer Depression bei vorliegendem Diabetes mellitus

Verschiedene Studien identifizierten erhöhte Depressionswerte bei jugendlichen Diabetikern (Buchberger et al. 2016). In einer groß angelegten Untersuchung an 2672 Jugendlichen zeigten 14 % der jugendlichen Diabetiker leicht erhöhte Depressionswerte sowie 8,6 % eine mittel- bis schwergradige Depression (Hood et al. 2006). Eine begleitende depressive Störung bildet wiederum einen Prädiktor für eine schlechtere metabolische Kontrolle und diabetesassoziierte Komplikationen und Folgeerkrankungen. Beeinträchtigte somatische und eine beeinträchtigte psychische Gesundheit können sich also wechselseitig im Sinne eines Teufelskreises verstärken. Das Risiko für eine Depression sowie Beeinträchtigungen der Lebensqualität ist besonders stark bei Kindern und Jugendlichen mit weiteren krankheitsunabhängigen Risikofaktoren wie zum Beispiel einem niedrigeren sozioökonomischen Status verknüpft. Das Leben mit einem Diabetes mellitus kann mit Verstärkerverlusten, sozialem Rückzug und wiederholten Erfahrungen von gelernter Hilflosigkeit einhergehen, die allesamt Risikofaktoren für die Entwicklung einer depressiven Störung sind (Gonzalez et al. 2016; Noeker 2011a).

Bidirektional wirksame Komorbidität mit wechselseitiger Verlaufsbeeinträchtigung

Auch wenn in der Phase der Krankheitsmanifestation die Wirkungsrichtung von der somatischen zur psychischen Seite vielfach zunächst im Vordergrund steht, so ergibt sich über den weiteren langzeitigen Verlauf eine Dynamik wechselseitiger Beeinflussung zwischen somatischer und psychischer Gesundheit (Mitchell 2018). Dabei können wiederum unterschiedliche Wirkmechanismen beteiligt sein.

Die Übersicht 4 zeigt am Beispiel des Asthma bronchiale, dass sich bidirektionale Mechanismen wechselseitig aufschaukeln und Teufelskreise herausbilden können. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich für eine biopsychosozial und interdisziplinär ausgerichtete Behandlungsplanung die Schlussfolgerung, dass eine erfolgreiche medizinische Behandlung nicht nur direkt den biomedizinischen, sondern über eine Reduzierung der psychosozialen Folgebelastungen mittelbar auch den psychischen Statusverlauf positiv beeinflussen kann. Umgekehrt gilt, dass psychologische Interventionen zur Krankheitsbewältigung und zum Krankheitsmanagement nicht nur unmittelbar den psychischen, sondern auch mittelbar zum Beispiel über eine Verbesserung der Selbstbehandlungskompetenz auch den biomedizinischen Verlauf verbessern kann (Noeker 2002a).

Übersicht 4:

Wechselseitige Effekte zwischen chronischer Erkrankung und Psyche: Unterschiedliche Wirkungsmechanismen am Beispiel Asthma bronchiale

  • Panik während eines Asthmaanfalls desorganisiert eine gezielte, ruhige und überlegte Verhaltenssteuerung und damit auch Krisenbewältigung im Sinne einer korrekten Selbstmedikation (Inhalation) und Physiotherapie. Eine solche Unter-, Über- oder Fehlbehandlung beeinträchtigt wiederum die Symptomkontrolle. Die schmerzliche Bilanzierung eines persönlichen Scheiterns bei Asthmakrisen beeinträchtigt wiederum das Selbstbild und die Selbstwirksamkeit und damit die psychische Entwicklung insgesamt.

  • Operant wirksame Lernerfahrungen in Form einer übertriebenen Zuwendung (positive Verstärkung) bzw. Entpflichtung von altersgerechten Anforderungen (negative Verstärkung) durch Eltern oder Bezugspersonen kann ein demonstratives Zurschaustellen der Symptomatik triggern sowie die Motivation zur Bekämpfung der Grunderkrankung reduzieren.

  • Asthma bronchiale kann verschiedene psychische Komorbiditäten bahnen:

    • Angststörungen z. B. im Zuge erlebter Erstickungsangst,

    • Depression in Folge eines sozialen Rückzugs und damit Verstärkerverlusts,

    • Somatoforme Störung bei hypochondrischer Fehlinterpretation von objektiv harmlosen Veränderungen des Atemflusses als vermeintliche Anzeichen eines sich ankündigenden Asthmaanfalls.

  • Die Erkrankung erzeugt psychosoziale Folgebelastungen (z. B. Körper- und Selbstbild; Verlust von Autonomie) und Einschränkungen der Lebensqualität.

  • Die Asthmasymptomatik kann eine sekundäre Funktion bei der Regulation familiärer Konflikten gewinnen: Die „dramatische“ (unbewusste bzw. operant verstärkte) Präsentation von Atembeschwerden eines Jugendlichen im Moment eines heftigen Streits zwischen den Elternteilen (Paarebene) kann diese dazu bringen, diesen abzubrechen und sich gemeinsam in Sorge um ihr krankes Kind zu kümmern (Elternebene). Die Symptomatik kann so belastende Konfliktauseinandersetzungen zumindest vordergründig wieder neutralisieren.

  • Psychische Faktoren (z. B. unzureichende Krankheitsakzeptanz) können die Bereitschaft zur Therapiemitarbeit (Adhärenz, Compliance), insbesondere zur prophylaktischen Behandlung im symptomfreien Intervall blockieren. Im Ergebnis droht eine Verschlechterung des Krankheitsverlaufs, der wiederum die Folgebelastungen verstärkt, was wiederum die Krankheitsakzeptanz weiter verschlechtern kann (Teufelskreis).

  • Neben den allergischen (z. B. Hausstaubmilbe, Pollen) und infektiösen (verschleimte, entzündete Atemwege) Asthmaauslösern können auf dem Wege der klassischen Konditionierung auch zeitgleich auftretende emotionale Faktoren zum Auslöser für Atemnotzustände (Dyspnoe) werden.

Gesundheitsbezogene Lebensqualität und Wohlbefinden

Im Unterschied zur Erfassung klinischer Komorbidität richtet sich das Paradigma der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und des Wohlbefindens auf subklinische Beeinträchtigungen, die also unterhalb einer psychopathologischen Störungswertigkeit liegen. Gesundheitsbezogene Lebensqualität (health related quality of life; HrQoL) umfasst kognitive, emotionale, funktionelle und soziale Einschränkungen (Hall et al. 2019; Hon et al. 2015). Die Hervorhebung auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität soll den Akzent auf solche Einschränkungen legen, die sich in Folge der gesundheitlichen Einschränkungen, nicht aber in Folge anderer widriger Lebensumstände (Armut, zerrüttete familiäre Verhältnisse, Vernachlässigung etc.) ergeben haben. Beeinträchtigungen der Lebensqualität beim betroffenen Kind und bei den Eltern korrelieren hoch miteinander, beeinträchtigen sich wechselseitig und weisen auf gemeinsam geteilte, ursächliche Belastungs- und Risikofaktoren hin (Barlow und Ellard 2006; Hall et al. 2019; Leeman et al. 2016). Die Übersicht 5 führt physische, psychische und soziale Dimensionen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei vorliegender chronischer Erkrankung bzw. Behinderung auf.

Übersicht 5: Physische, psychische und soziale Dimensionen gesundheitsbezogener Lebensqualität

Physische Funktionsfähigkeit

  • Schweregrad der Symptomatik

  • Verteilung, Dauer, Intensität, Kontrollierbarkeit von Schmerzen

  • Motorische Mobilität, Funktionsniveau, Behinderung

  • Sensorische Funktionsbeeinträchtigung, Behinderung

Psychische Funktionsfähigkeit

  • Lernen und Intelligenz: normal versus beeinträchtigt

  • Stimmung, Affekt, Emotionsregulation

  • Akzeptanz von Beeinträchtigungen

  • Kommunikation und Sprachkompetenz

  • Körperbild

  • Selbstwertregulation

  • Soziale Selbstsicherheit

Soziale Funktionsfähigkeit

  • Sichtbarkeit der Erkrankung in der Öffentlichkeit

  • Stigma, Beschämung, Ausgrenzung

  • soziale Teilhabe, Partizipation

  • schulisch-berufliche Integration

Mittlerweile liegt eine Vielzahl von Inventaren zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität vor (Janssens et al. 2016; Morris et al. 2015; Noeker 2006; Silva et al. 2019). Die Bestimmung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität hat sich neben den etablierten medizinischen Outcomeparametern der Letalität (Sterberate), des Risikos von Folgeerkrankungen (Morbidität, z. B. Visusbeeinträchtigung bei Diabetes mellitus) sowie der Lebenserwartung zu einem weiteren, zunehmend wichtigen komplementären Parameter für die differentielle Indikation bei medizinischen Behandlungsentscheidungen entwickelt. In der pädiatrischen Onkologie wird zum Beispiel das verbesserte Wissen über die Langzeitrisiken von Amputationen bei Knochentumoren oder kognitiven Einbußen in Folge einer ZNS-Bestrahlung und damit von signifikanten Bedrohungen einer nachhaltigen gesundheitsbezogenen Lebensqualität als relevantes Entscheidungskriterium in die differentielle Therapieindikation einbezogen (Noeker 2012).

Fragebogeninventare zur Lebensqualität lassen sich in generische versus krankheitsspezifische Verfahren unterteilen. Letztere enthalten Items, die nur beim Vorliegen einer bestimmten Erkrankungsgruppe sinnvoll angewendet werden können. So sind Fragen zur Angst vor einer Hypoglykämie (Unterzuckerung) bei einem individuell vorliegenden Diabetes mellitus, Angst vor Atemnot bei Asthma bronchiale, Angst vor einem Anfallsereignis bei Epilepsie sinnvoll anwendbar. Solche Items zu krankheitsspezifischen Symptomen und deren emotionale Folgen haben den Vorteil einer besonders hohen Sensitivität für die Messung des Spektrums und der Intensität von Lebensqualitätseinbußen, weil sie die persönlich im Vordergrund stehenden Beschwerden und Belastungsquellen sehr gut wiederspiegeln. Krankheitsspezifische Fragebogenitems haben jedoch in methodischer Hinsicht den Nachteil, dass sie keinen Vergleich zwischen unterschiedlichen Krankheitsentitäten erlauben. Würde man in einer Vergleichsstudie unter Beteiligung von Jugendlichen mit Diabetes, Asthma und Epilepsie Items zu Unterzuckerung, Atemnot oder zerebralen Anfällen aufnehmen, so würden die Fragen bei den jeweils nicht betroffenen Personen keinen Sinn ergeben. Die Anwendung solcher Fragen würde also reine Artefakte erzeugen. In Studien, die die „Wucht“ der Einbußen an Lebensqualität bei verschiedenen chronischen Erkrankungen vergleichen möchten, können daher nur generische Instrumente verwendet werden. Generische Verfahren enthalten nur krankheitsübergreifende Items, die die Folgewirkungen der jeweiligen Krankheitsbilder auf einer übergeordneten Ebene aggregieren. Fragen wie „In Folge meiner Erkrankung fühle ich mich beim Sport/bei sozialen Kontakten/in meiner Zufriedenheit mit meinem Körper usw. eingeschränkt“ erlauben es, eine Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Krankheitsbildern herzustellen. Bei der Auswahl von geeigneten Fragebogeninstrumenten ergibt sich daher regelmäßig ein Zielkonflikt zwischen der besseren Sensitivität der krankheitsspezifischen Verfahren und der Option auf quantitative und qualitative Vergleichbarkeit der Belastungswirkungen bei unterschiedlichen Krankheitsbildern. Vielfach ist in Studien eine Kombination von generischen und spezifischen Verfahren angezeigt, um sowohl Sensitivität wie Vergleichbarkeit zu gewährleisten.

Einen fließenden Übergang zu Dimensionen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bietet das Konstrukt des (selbst berichteten) Wohlbefindens (Blackwell et al. 2019). Wohlbefinden korrespondiert weitgehend mit der psychischen (emotionalen und kognitiven) Subdimension der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Dieses Konstrukt eignet sich für generisch angelegte Fragestellungen. Es erlaubt nicht nur den Vergleich zwischen Erkrankungsgruppen, sondern auch den Vergleich zwischen chronisch kranken und gesunden Personen. Dies gilt zumindest, wenn die Fragebogenitems ohne unmittelbaren Bezug zum Vorliegen einer Erkrankung formuliert sind.

Studienergebnisse zur Lebensqualität und zum Wohlbefinden können mitunter irritierende Befunde liefern. Es ist nicht selten, dass sie nämlich nur geringe oder auch gar keine signifikanten Unterschiede zwischen kranken und gesunden Personen identifizieren (z. B. Blackwell et al. 2019). Solche Befunde wirken kontraintuitiv, weil aus der Perspektive des Außenbeobachters dramatische Einschränkungen infolge Krankheit und Behandlung so offensichtlich nachvollziehbar und einfühlbar sind, diese sich aber erstaunlicherweise in den Daten nicht abbilden. Wie muss man solche empirischen Befunde interpretieren, wenn man die Daten ernst nehmen und nicht vorschnell als methodische Artefakte abqualifizieren will?

Eine wesentliche Antwort dazu findet sich in der Psychologie der Stressregulation und Adaptation an chronische Gesundheitsbelastungen (Noeker 2011b, 2012). Demnach ist stets zu beachten, dass Einschränkungen in Lebensqualität und Wohlbefinden keine unmittelbare, lineare Folge der Erkrankung sind (vgl. Abb. 1), sondern durch zwischengeschaltete, transaktionale kognitiv-emotionale Prozesse der stetigen Neubewertung und des (mehr oder weniger erfolgreichen) Bewältigungsverhaltens moduliert werden. Fragebogeninventare erfassen nicht die objektiven Belastungen, sondern immer die schon mehr oder weniger gut bewältigten Belastungen. Viele chronisch kranke Jugendliche, die zum Beispiel in Folge einer körperlichen Beeinträchtigung bei sportlichen Aktivitäten objektiv stark beeinträchtigt sind, passen über den Krankheitsverlauf schrittweise ihr Anspruchsniveau und ihr Bedürfnis nach sportlicher Betätigung an und verlagern ihre Interessen möglicherweise auf andere Interessen und Hobbys. Nach einer längeren Anpassungszeit vermissen sie Sport nicht mehr. Werden sie dann zu ihrer Lebensqualität im Bereich Sport befragt, geben sie keine bedeutsamen Einbußen mehr an, weil sie diese nicht mehr spüren.

7 Biopsychosoziales Modell der psychischen Adaptation an chronische Erkrankung

Die Abb. 2 zeigt ein integratives Entwicklungsmodell, das die relevanten Bedingungsfaktoren der Herausbildung der individuellen psychischen Gesundheit bei chronischer Erkrankung als weitere Ausdifferenzierung von Abb. 1 noch detaillierter aufschlüsselt (vgl. Noeker 2019b). Das Modell soll nicht nur konzeptuell die entscheidenden Determinanten in ihrem Zusammenwirken benennen, sondern kann auch klinisch-diagnostisch genutzt werden. Erfasst man via Anamnese und Befunderhebung schrittweise die einzelnen aufgeführten Faktoren in ihrer jeweiligen Ausgestaltung, so kann man die Genese der individuellen psychischen Gesundheit rekonstruieren. Daraus können sich auch vielfältige Hinweise für die psychotherapeutische bzw. psychosoziale Intervention ergeben zum Beispiel in Form einer Familienberatung zur Reduktion spezifisch erfasster erkrankungs- und behandlungsbezogener Belastungsfaktoren, zur Mobilisierung von Ressourcen, zur kognitiven Verhaltenstherapie oder zum Krankheits- und Selbstmanagement (Noeker 2013; 2019a, b). Folgende Etappenschritte charakterisieren entsprechend der Abb. 2 den Adaptationsprozess:

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Eigene Abbildung)

Prozessmodell zur Adaptation an chronisch-somatische Erkrankung.

  • Erkrankungsmerkmale: Das medizinische Verlaufsmuster der chronischen Erkrankung (episodisch-rezidivierend, persistierend, progredient bzw. lebensbedrohlich) hat stresspsychologisch relevante Implikationen für die erlebte Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit des Erkrankungsverlaufs durch den Patienten.

  • Resultierende Belastungen und Anforderungen: Vier Arten von Stressoren ergeben sich: Schmerzen und Beschwerden, Funktionseinschränkungen, psychosoziale Belastungen und Therapieanforderungen. Bei manchen Erkrankungen kann die Belastung in Folge mühseliger und aversiver Therapieanforderungen die Belastungswirkung der Grunderkrankung übersteigen (Noeker und Petermann 2020a). Wenn jemand stärker an der Behandlung als an der Erkrankung leidet, so kann die Motivation zur Therapiemitarbeit und zum Krankheitsmanagement leiden. Stresspsychologisch sind nicht der Schweregrad aus einer Beobachterperspektive, sondern das empfundene Bedrohungserleben und die Einschätzung vorhandener Bewältigungsoptionen für das Bewältigungsverhalten entscheidend.

  • Moderierende Faktoren des Bewältigungsprozesses sind der individuelle kognitive und emotionale Entwicklungsstand sowie die krankheitsunabhängigen und krankheitsabhängigen Risiko- und Schutzfaktoren, die die Bewältigungsleistung erschweren oder erleichtern. Kinder mit überwiegend protektiven Merkmalen (soziale Schicht, Intelligenz, soziale Kompetenz, gute Integration in die Gleichaltrigengruppe, familiäre Kohäsion u. a.) können auch eine sehr bedrohliche und belastende Grunderkrankung ohne Entwicklung einer psychischen Störung überstehen. Umgekehrt können Kinder mit einer hohen primären Vulnerabilität (z. B. im Sinne der fünften Achse des ICD-10) schon an der Bewältigung einer relativ harmlosen Erkrankung scheitern, wenn der Erkrankungsausbruch zu einer Vielzahl vorbestehender Belastungsfaktoren hinzutritt (Compas et al. 2012; Noeker und Petermann 2003; 2008a, b).

  • Der Adaptationsprozess des Kindes richtet sich zum einen auf die Regulation der Erkrankungssymptomatik im engeren Sinne (Krankheitsmanagement) und zum anderen auf die Bewältigung der sekundären psychosozialen Belastungen (Co**). Beide Aspekte interagieren über den Erkrankungs- und Entwicklungsverlauf miteinander.

  • Das Adaptationsergebnis ergibt sich aus dem Wechselspiel der genannten biologischen, psychischen und sozial-familiären Faktoren. Das Adaptationsergebnis ist nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen. Wenn sich im Rahmen einer unzureichenden Krankheitsverarbeitung eine psychische Störung herausbildet, so erhöht dies rekursiv die Vulnerabilität und das Stresserleben des Kindes und beeinträchtigt die Qualität der weiteren Bewältigungsversuche. Die Manifestation einer psychischen Störung kann aber auch kompensatorische Unterstützungsmaßnamen der Familie, des sozialen Netzwerkes und professioneller Therapeuten mobilisieren, die zu einer neuen Stabilität und einem höheren Adaptationsniveau verhelfen. Das Adaptationsergebnis lässt sich, wie schon in Abb. 1 dargestellt, über vier Kategorien von ungünstigen zu günstigen Ausgängen Manifestation einer psychischen Störung, subklinische Einschränkungen des Wohlbefindens und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, unauffällige Normalentwicklung bis hin zu einem Entwicklungsgewinn und Resilienz abstufen.

Über den weiteren Textverlauf sollen diese Etappenschritte weiter ausdifferenziert dargestellt werden.

8 Resultierende Belastungen und Anforderungen durch Krankheit und Behandlung

Aus der Erkrankung und ihrer Behandlung resultieren für betroffene Kinder und Jugendliche vielschichtige Belastungen und Bewältigungsanforderungen. Die Eltern bzw. die Gesamtfamilie sind ebenfalls betroffen: mittelbar durch die Mitverantwortung für das Wohlergehen des Kindes, aber auch unmittelbar persönlich, etwa durch verengte Spielräume für eigene Unternehmungen, Berufstätigkeit, Hobbys und Kontakte. Übersicht 6 führt Belastungen des betroffenen Kindes und der Familienmitglieder integriert auf.

Übersicht 6: Belastungen des Patienten und der Familie infolge einer chronischen Erkrankung

Beschwerden und Schmerzen

  • Schmerzen und Beschwerden aufgrund der Erkrankung. Beispiele: Schmerz bei rheumatischer Arthritis, Luftnot bei Asthma bronchiale, Hyper- oder Hypoglykämie bei Diabetes mellitus

  • Schmerzen und Beschwerden aufgrund der Behandlung. Beispiele: Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie im Rahmen onkologischer Therapie, Schmerzen bei invasiven Prozeduren wie Spritzen und Punktionen, Nebenwirkungsreaktionen zum Beispiel bei systemischer Steroidgabe bei chronisch-entzündlicher Darmerkrankung (Colitis ulcerosa; Morbus Crohn) oder Rheuma

Psychosoziale Belastungen

  • Verringerte Planbarkeit im Alltag infolge nicht vorhersehbarer Erkrankungskrisen

  • Verengte Spielräume und erhöhter Koordinationsbedarf bei Urlaubsgestaltung und Freizeitaktivitäten

  • Erhöhter, eventuell konfliktbehafteter innerfamiliärer Abstimmungsbedarf

  • Reduzierte Zeit für sich selbst

  • Zurückstellen eigener Zukunftsentwürfe (z. B. Berufstätigkeit der Mutter)

  • Finanzielle Einbußen (z. B. durch reduzierten Stundenumfang im Beruf) bzw. Mehraufwendungen

  • Erschwerte Gleichbehandlung der Geschwister bei gleichzeitiger Berücksichtigung der legitimen Bedürfnisse des erkrankten Kindes

  • Erziehungsschwierigkeiten

  • Geschwisterrivalität

  • Überwiegen der Elternfunktion gegenüber der Partnerschaftsrolle

  • Aufklärung eines manchmal unverständigen sozialen Umfeldes über die Erkrankung

  • Stigmatisierungserfahrungen

Emotionale und existenzielle Belastungen (Anforderungen primär der Emotionsregulation)

  • Unvorhersagbarkeit des Erkrankungsverlaufs

  • Akzeptanz der Erkrankung und ihrer Chronizität

  • Verarbeitung der enttäuschten Hoffnung auf ein gesundes Kind, Gefühle tiefer Kränkung, mitunter auch Scham oder Wut

  • Schuldgefühle bezüglich einer (vermeintlichen) Krankheitsverursachung bzw. bezüglich eines vermeintlich unzureichenden Einsatzes für die Belange des Kindes

  • Existenzielle Sinnfrage und evtl. Glaubenskrise („warum unser Kind?“; „warum ein unschuldiges Kind?“)

  • Entwicklung neuer Wertehierarchien

  • Veränderte Perspektiven bei erneutem Kinderwunsch (Genetisches Wiederholungsrisiko? Grenzen familiärer Belastbarkeit?)

Therapieanforderungen

  • Organisation und Koordination von Behandlungsterminen

  • Informationen einholen und aufnehmen zu Krankheitsbild und Therapiemöglichkeiten

  • Durchführung pflegerischer oder ko-therapeutischer Maßnahmen

  • Zubereitung von Mahlzeiten nach Diätregeln

  • Überwachung des Gesundheitszustandes und verstärkte Beaufsichtigung des Kindes

  • Motivieren und Anhalten des Kindes zur Therapiemitarbeit bei gleichzeitigem Respekt vor seiner Autonomie

  • Disziplin aufbringen bei immer wiederkehrenden Behandlungsmaßnahmen

  • Übernahme von Letztverantwortung bei unsicheren Therapieentscheidungen

Die Wirkung in der Übersicht 6 dargestellten Belastungen und Herausforderungen auf die psychische Gesundheit wird moduliert durch verschiedene kognitive Einschätzungen zu deren weiterer Veränderung in der Zukunft bzw. Veränderbarkeit durch eigene Bewältigungsanstrengungen (Selbstwirksamkeit). Kognitive Belastungs- und Bedrohungseinschätzungen richten sich u. a. auf die

  • Valenz: Wie stark ist die erlebte Belastung und Bedrohung und ihre Wirkung auf das persönliche Wohlbefinden?

  • Veränderlichkeit: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Situation sich von selbst verändern wird?

  • Voraussagbarkeit und Ambiguität: Wie hoch ist das Ausmaß von Unklarheit und Uneindeutigkeit in der Belastungssituation?

  • Wiederauftreten: wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die gleiche Belastungssituation wiederholt auftreten wird (zum Beispiel erneut erzwungene längere Schulabwesenheit)?

  • Kontrollierbarkeit: Welche Möglichkeiten sind erkennbar zur Minimierung der Bedrohung?

  • Verfügbarkeit eigener Bewältigungsressourcen (sekundäre Einschätzungen).

Wenn zum Beispiel die Mutter eines chronisch kranken Jugendlichen wegen ihrer starken zeitlichen und emotionalen Beanspruchung auf eine eigene Berufstätigkeit verzichtet, so kann diese Einschränkung leichter ertragen werden, wenn eine zeitliche Begrenzung absehbar ist, etwa, weil die Großmutter des Kindes in die Nähe der Familie ziehen und Betreuungsleistungen übernehmen wird. Andererseits kann eine solche Problemlösung indirekt neue Folgeprobleme herausbeschwören, etwa eine zu eng empfundene Nähe zu den Großeltern oder die Befürchtung, dass diese sich zu stark in die Erziehung in nicht gewünschter Form einmischen werden.

9 Wechselwirkungen mit der Bewältigung regulärer Entwicklungsaufgaben

Chronisch kranke Kinder und Jugendliche müssen Anpassungsleistungen in zwei Richtungen erbringen. Sie sind nicht nur gefordert, die Vielzahl der in Übersicht 6 dargestellten, nicht-normativen Belastungsfolgen zu bewältigen, die sich aus der Erkrankung ergeben. Sie müssen ebenfalls – wie alle gleichaltrigen gesunden Kinder und Jugendlichen auch – alterstypische, normative Entwicklungsaufgaben bewältigen (vgl. Abb. 3 und 4).

Abb. 3
figure 3

(Quelle: Eigene Abbildung)

Verlauf der Adaptation im Schnittfeld des Verlaufs der chronischen Erkrankung und der Bewältigung ihrer nicht-normativen Belastungen und Anforderungen einerseits und den allgemeinen Entwicklungsverlauf und der Bewältigung der normativen Entwicklungsaufgaben und Alltagsstressoren andererseits.

Abb. 4
figure 4

(Quelle: Eigene Abbildung)

Entwicklung von Resilienz über die wiederkehrende effektive Adaptation an wiederkehrende Episoden von Stressexposition mit positivem Bewältigungsergebnis.

Diese treten nicht nur additiv zu den psychosozialen Folgen der Erkrankung hinzu, vielmehr können sich die beiden Bewältigungsleistungen wechselseitig potenzieren und beinträchtigen:

  • Eine defizitäre Krankheitsbewältigung beeinträchtigt sekundär die gesamte Verhaltensentwicklung. Zum Beispiel können wiederholte Misserfolge beim Diabetes- oder Asthmamanagement insgesamt die Selbstwirksamkeitserwartungen und das Selbstkonzept des Jugendlichen sowie die Beziehung zu den Eltern und die Integration in die Gleichaltrigengruppe beschädigen.

  • Defizite in der allgemeinen Verhaltensentwicklung beeinträchtigen sekundär auch die Krankheitsbewältigung. Zunächst krankheitsunabhängige Risikofaktoren in der allgemeinen Verhaltensentwicklung erschweren nicht nur die erfolgreiche Bewältigung der normativen Entwicklungsaufgaben, sondern in der Folge zusätzlich auch die spezifische Adaptation an die Erkrankung. Beispiel: Eine allgemein beeinträchtigte Vertrauensbeziehung zu den Eltern verleitet einen Jugendlichen, eigene Schwächen beim Diabetesmanagement vor diesen zu verheimlichen, weil er Sanktionen befürchtet. Im Ergebnis wird ein so gemeinsam mit den Eltern abgestimmtes Diabetesmanagement blockiert.

Insbesondere im Jugendalter stehen viele alterstypische Entwicklungsaufgaben an (Seiffge-Krenke 1998), die eine erfolgreiche Krankheitsbewältigung in Mitleidenschaft ziehen können:

  • Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung trotz erkennbarer „Defizite“ der körperlichen Funktionsfähigkeit,

  • Identifikation mit der eigenen Geschlechtsrolle, der sexuellen Orientierung, Entwickeln erster Beziehungen zu Partnern mit der Herausforderung, diesen die eigene Erkrankung offen zu kommunizieren,

  • Graduelle Entwicklung von Unabhängigkeit von den Eltern, obwohl man von diesen in manchen Belangen des Krankheitsmanagements objektiv noch abhängig ist,

  • Harmonisierung schulisch-beruflicher Anforderungen (Leistung, Fehlzeiten, soziale Integration) mit Anforderungen aus Krankheit und Behandlung.

Begleitende Risiko- und Schutzfaktoren

Die oben dargestellten Entwicklungsprinzipien der Äqui- und Multifinalität (vgl. Abb. 1) zeigen an, dass die individuelle Ausprägung persönlicher wie familiärer Risiko- wie Schutzfaktoren den Bewältigungserfolg und damit den Adaptationsverlauf nachhaltig sowohl beeinträchtigen wie stabilisieren kann und so die jeweils resultierende psychische Gesundheit prägt. Die Übersicht 7 führt solche Faktoren auf. Da Schutzfaktoren den Verlauf positiv beeinflussen, eignen sich diese auch als Zielvariablen für die therapeutische Behandlungsplanung. Wird zum Beispiel eine eher verschlossene Familie, in der jedes Familienmitglied gewohnt ist, seine Sorgen mit sich selbst auszumachen, ermuntert, Sorgen und Bedürfnisse im Zusammenhang mit dem Krankheitsgeschehen offener in der Familie mitzuteilen, so kann in der Regel erwartet werden, dass dies sich positiv auf das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität auswirkt.

Übersicht 7: Ressourcen zur erfolgreichen familiären Krankheitsbewältigung

(vgl. Petermann et al. 1987; Noeker 2002b)

1. Strukturelle Ressourcen

  • hoher Bildungsgrad

  • ökonomische Reserven

  • Abwesenheit weiterer chronischer Stressoren und Anforderungen (z. B. pflegebedürftige Großeltern im gleichen Haushalt)

2. Individuelle Bewältigungskompetenzen und Ressourcen einzelner Familienmitglieder

  • Hoher Informationsstand bezüglich Erkrankung und Therapie

  • Bereitschaft zur eigenverantwortlichen Therapiemitarbeit

  • Realistische Behandlungsmotivation

  • Fähigkeit zu eindeutiger und offener Kommunikation, freies Äußern eigener Bedürfnisse

  • Fähigkeit zu engagiertem, aktiven Problemlösen

  • Regenerationsfähigkeit, sinnvolles Freizeitverhalten und innere Erlaubnis zu Phasen des Abschaltens und Genießens ohne Schuldgefühle

  • Selbstsicherheit

3. Intrafamiliäre Ressourcen: Interaktion, Aufgabenverteilung, Kommunikation und Werteorientierungen

  • Rollenflexibilität bei der Aufgabenwahrnehmung innerhalb der Familie

  • Wechselseitiger Respekt gegenüber individuell verschiedenartigen Stilen der (emotionalen) Krankheitsverarbeitung

  • Empathie, Bedürfnisse des Patienten unverzerrt wahrzunehmen

  • Liebevolles, konsequentes, Orientierung vermittelndes Erziehungsverhalten

  • Warmherzige Eltern-Kind-Beziehung

  • Ausgewogene Balance halten zwischen Belangen der chronischen Krankheit und anderen familiären Bedürfnissen und Anliegen

  • Positive Geschwisterbeziehungen

  • Aufrechterhaltung der Generationsgrenzen

  • Zufriedenheit mit der Partnerschaftsbeziehung

  • Hohes Verpflichtungsgefühl gegenüber der Familie („commitment“)

  • Wahrnehmung eines positiven Sinns der Erkrankung und weltanschauliche Verankerung in haltgebender Werteorientierung (z. B. Religion, Spiritualität)

  • Fähigkeit, um Unterstützung bitten und annehmen zu können

4. Extrafamiliäre Ressourcen

  • Aufrechterhaltung der sozialen Integration in außerfamiliäre Netzwerke (Nachbarschaft, Verwandtschaft, Freunde) und gegebenenfalls Selbsthilfegruppen

  • Konstruktive, kooperative, vertrauensvolle Beziehungen zu Behandlungspersonal

10 Resilienz trotz widriger Krankheitserfahrungen: Ein Entwicklungsmodell

Das Konzept der Resilienz hat über die letzten Jahrzehnte eine breite Popularität gewonnen. Angesichts einer langen Tradition einer akzentuierten Defizitorientierung in der entwicklungspsycho(patho)logischen Forschung zur Exposition von Kindern und Jugendlichen an die unterschiedlichsten biopsychosozialen Risikokonstellationen hat dieser Begriff wesentlich dazu beigetragen, die interindividuelle Variabilität und intraindividuelle Dynamik von Entwicklungsverläufen und hier insbesondere günstige Ausgänge in den Blick zu rücken. Auf der anderen Seite muss man kritisch konstatieren, dass insbesondere bei der Anwendung des Begriffs in Studiendesigns nicht immer klar definiert wurde, ob Resilienz als disponierender, trait-analoger Eigenschaftsbegriff oder als Prozessmerkmal im Sinne funktionaler Co**strategien oder aber als Outcomeparameter im Sinne eines Adaptationsergebnisses zu verstehen und zu operationalisieren ist. Gerade bei langzeitig wirksamen, adversen Risikobedingungen (Armut, psychisch kranke Eltern, chronische Vernachlässigung etc.) ist Resilienz als dynamischer Prozess zu konzipieren (Rutter 2012), bei dem sich über die transaktionale Interaktion von Person und Umwelt von Bewältigungsepisode zu Bewältigungsepisode je nach Funktionalität des Bewältigungsverhaltens konsekutive Risikomaximierungen versus Risikominimierungen auf den Langzeitoutcome ergeben können.

So hat auch im Bereich der Forschung zur Adaptation an chronische Erkrankung eine Reihe von Studien und Übersichtsarbeiten belegen können, dass es einer Teilmenge von Patientinnen und Patienten gelingt, aus der Konfrontation mit den Belastungserfahrungen sogar persönliche Wachstums- und Entwicklungsgewinne zu ziehen. Dieses Phänomen ist nicht zuletzt für die weitere Theorieentwicklung zum Zusammenhang zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit aufschlussreich. Solche Resilienzentwicklungen (Noeker und Petermann 2008b) belegen, dass die Vorstellung einer linearen, korrelativen Beziehung zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit zu kurz greift. Das Phänomen möglicher Entwicklungsgewinne und Resilienzverläufe unterstreicht paradigmatisch die breite Heterogenität der psychischen Entwicklungsprozesse und -ausgänge in Abhängigkeit von den individuellen Krankheitsmerkmalen, den Belastungen und Anforderungen, den interagierenden Entwicklungsaufgaben sowie den moderierenden Risiko- und Schutzfaktoren sowie Bewältigungskompetenzen (vgl. Abb. 1 und 2).

Gegenüber Betroffenen und deren Familien kann der Verweis auf mögliche Resilienzentwicklungen die breiten Spielräume aufzeigen, die im Zuge eines Aufbaus von funktionalen Bewältigungsstrategien und Selbstmanagementkompetenzen sowie die Aktivierung von Ressourcen zur Stabilisierung des eigenen Wohlbefindens trotz der großen Herausforderungen einer chronischen Erkrankung erreichbar bleiben. Eine solche Ermutigung ist mit Respekt und gebotenen Vorsicht zum Ausdruck zu bringen. Sie ist mit einer Validierung der erlebten Leidenserfahrungen zu begleiten und in Einklang zu bringen. Sie sollte nicht die Botschaft transportieren, nun selbst an psychischen Beeinträchtigungen Schuld zu sein, da andere Personen es ja augenscheinlich schaffen, die Belastungen leicht zu überwinden und sogar noch dadurch stärker zu werden.

Das Phänomen der Resilienzentwicklung konnte exemplarisch bei Überlebenden einer lebensbedrohlichen Krebserkrankung aufgezeigt werden (Noeker 2002b, 2008, 2012; Noeker und Petermann 2015). Dies darf als Hinweis gewertet werden, dass einem Entwicklungsgewinn regelhaft eine besonders außergewöhnliche Bedrohung vorausgeht, deren glückliche Wendung dann aber als besonders stabilisierend für zukünftige Krisensituationen verarbeitet wird.

In der Abb. 1 wurde die Entstehung dieser Variabilität über die vier Abstufungen hergeleitet aus einer Interaktion der erkrankungs- und behandlungsbedingten Faktoren mit den psychologischen Merkmalen des Patienten. Bei den letzteren wird die Wichtigkeit schon prämorbide vorliegender kognitiv-emotionaler Schemata und verhaltensbezogener Kompetenzen für den Langzeitverlauf herausgestellt. Abb. 4 differenziert diese Konzeption weiter aus. Leitend ist die Vorstellung, dass prämorbide funktionale Schemata auch zu einer funktionaleren und kompetenteren Integration der bedrohlichen Krankheitserfahrungen disponieren. Dies mündet wiederum in erfolgreichere Bewältigungsergebnisse, die internal mit Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Stolz attribuiert werden können oder als Beleg für hilfreiche Glaubenssysteme im Sinne einer letztlich doch Sicherheit und Geborgenheit vermittelnden Welt gewertet werden. Prämorbide vulnerable Personen, die in Familien mit niedrigem Funktionsniveau aufwachsen, tragen ein hohes Risiko, Fehlschläge und traumatisch wirksame Erfahrungen im Zuge der Auseinandersetzung beispielsweise mit einer Krebserkrankung zu kumulieren und damit wiederum das Risiko für eine psychopathologische Dekompensation und Symptombildung weiter zu erhöhen. Umgekehrt gilt der gleiche Verlauf mit umgekehrten Vorzeichen: Prämorbide schon kompetent verarbeitende und bewältigende Personen haben gute Chancen zu einer auch erfolgreichen Lösung der erkrankungsbedingten Herausforderungen und damit weiteren Stärkung positiver, optimistischer Glaubenssysteme. Über die Erfahrung eigener erfolgreicher Bewältigungsleistungen wird das Kind zum eigenständigen Akteur seiner Resilienzentwicklung. Eine realistische und stolze Handlungs- und Selbstbewertung von Bewältigungsleistungen stärkt trotz und mitunter sogar gerade wegen der wiederkehrenden Exposition an belastende Umgebungsbedingungen die zunehmende Ausdifferenzierung und hierarchische Integration von Fähigkeiten zur effektiven Problemlösung und Emotionsregulation.