• V12: […] Wir sind, glaube ich, schon noch eine relativ vernünftige Familie, die da nicht ein großes Theater aus dem Zeug [dem Übertritt] macht. Wir denken auch daran, es ist ja auch ein Prozess und im Moment, wie wir das gehört haben, können sie ja nachher auch noch irgendwo gefördert werden und so weiter. Ja, unser Ziel war es nie, dass wir da zwei Akademiker züchten. Ich denke auch, das Leben besteht nicht aus Schule und Beruf alleine. Es gibt so viele andere wichtige Dinge auch. Das versuchen wir ihnen auch mitzugeben, auf eine Art. Wobei auch klar ist, dass Schule wichtig ist. Zum Teil eben auch- das haben wir auch zusammen diskutiert und finden wir ziemlich bedenklich. Dass selbst für eine handwerkliche Lehrstelle, dass auch heute die Noten und Zeugnisse sehr stark beachtet und gewichtet werden. Und das, das hat er schon auch ein wenig gemerkt. Das haben wir probiert zu erklären, warum man eben versuchen muss, sich ein wenig zusammenzunehmen und das Beste zu geben in dieser Schulzeit. (Interview G2, 01:00:00)

Auch wenn der alltägliche Sprachgebrauch suggeriert, dass Schule und Elternhaus mit Blick auf die kindliche Entwicklung über gänzlich getrennte Funktionen und Zuständigkeiten verfügten – in der Schule lernen die Kinder und ihre Lehrkräfte lehren sie, in der Familie entwickeln sich die Kinder und ihre Eltern erziehen sie, spielen und leben mit ihnen (vgl. Krumm, 2010, S. 117) – so ist unbestritten, dass die Eltern einen wesentlichen Beitrag zur schulischen Entwicklung ihres Kindes leisten. Auch wenn mit dem Eintritt in die Schule und mit zunehmendem Alter außerfamiliale Akteure wie Lehrkräfte und Peers markant an Einfluss gewinnen, so bleibt die Bedeutung der Eltern (und der Familie) für die Lern- und Leistungsentwicklung laut Pekrun (2001, S. 89) aus mindestens drei Gründen bestehen:

  • Transmission des Genotyps

    Biologische Eltern nehmen durch die Weitergabe ihrer Gene auf schulrelevante Merkmale Einfluss, namentlich auf Intelligenz und motivational-affektive Dispositionen. Mit Blick auf die Befunde der zahlreichen in den vergangenen Jahrzehnten durchgeführten populationsgenetischen Analysen (namentlich in Form einer Vielzahl von Zwillings- und Adoptionsstudien) geht die Verhaltensgenetik heute davon aus, dass ein bedeutsamer Anteil der kognitiven, aber auch affektiven interindividueller Unterschiede auf vererbte biologische Faktoren zurückzuführen ist. Der genetische Anteil der Varianz von Intelligenz im Verhältnis zu Umweltfaktoren wird in westlichen Staaten bei Kindern auf 20 %, bei Jugendlichen auf 40 %, bei Erwachsenen auf 60 % und bei älteren Erwachsenen auf 80 % veranschlagt (Plomin & Deary, 2015, S. 99). Dabei ist aber zu beachten, dass sich die Prozentwerte jeweils nur auf die Varianz einer Stichprobe beziehen, sie jeweils in Abhängigkeit der Umweltvarianz gesehen werden müssen und es sich somit keinesfalls um «Naturkonstanten» handelt (Stern & Neubauer, 2016, S. 24). Die Werte deuten an, dass ein komplexes Zusammenspiel zwischen genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen besteht. Menschen scheinen je älter und selbstbestimmter sie werden, zunehmend Umwelten gemäß ihrem Genotyp aktiv aufzusuchen und zu gestalten. Ebenso scheinen sie aber je jünger sie sind, darauf angewiesen zu sein, dass sie in einem Umfeld leben, welches ihnen im Sinne von «nature via nurture» (Ridley, 2003) Erfahrungen ermöglicht, die sie ihr vererbtes Potential entfalten lässt, indem die biologischen Eltern ihnen ihrem Genotyp entsprechende Bedingungen und Aktivitäten anbieten bzw. die nicht-biologischen Eltern auf eine ihrem Genotyp entsprechende Art auf sie reagieren (vgl. Helmke & Schrader, 2010, S. 93; Helmke & Weinert, 1997, S. 119).

  • Einfluss auf Entwicklungsprozesse im Vorschulalter

    Vor der Einschulung des Kindes nimmt primär das Elternhaus Einfluss auf die Entwicklung seiner selbstbezogenen Kognitionen sowie seiner motivational-affektiven und sozialen Dispositionen. Eltern wirken somit weit früher als die Schule, zu einem Zeitpunkt, wenn sich viele dieser lern- und leistungsrelevanten dispositionalen Merkmale in «kritischen Entwicklungsphasen»Footnote 1 befinden und «von erheblicher Entwicklungsdynamik gekennzeichnet» sind (Pekrun, 2001, S. 89), durch ihr Verhalten und ihr Handeln auf diese persönlichkeitsbezogenen Prozesse ein. Wie die Arbeitsgruppe um Carol S. Dweck z. B. zeigen konnte (zusf. Dweck & Master, 2009), reagieren Vorschulkinder, die zuhause einen harschen, überkontrollierenden Erziehungsstil (coercion, vgl. Abschnitt 2.2.2.4) erleben, überdurchschnittlich negativ auf Misserfolge. Solcherlei frühe elterliche Reaktionen auf Erfolge und Misserfolge, so meinen Wigfield, Eccles, et al. (2015), «can set children on different motivational pathways moving forward» (S. 4) (vgl. Abschnitt 5.3.2.2). Ebenso ist das Elternhaus in dieser Zeit auch die primäre Quelle für den Erwerb jenes deklarativen und prozeduralen Wissens, an das Unterricht und Schule anschließen und das bis zu einem gewissen Grad von den schulischen Akteuren erwartet wird (vgl. Schneewind, 2010, S. 188–190). Nebst basalen mathematischen, naturwissenschaftlichen, sportlichen und ästhetisch-gestalterischen Kenntnissen und Verfahren gehören dazu insbesondere grundlegende sprachliche Wissensbestände sowie diskursive Fertigkeiten (vgl. Busse & Helsper, 2008, S. 469). Sprachliche Sozialisationsmuster, die zu Hause erlernt wurden (home-based literacy practices), dürften eine wichtige Basis für das Erlernen der Rollen und Handlungen des Unterrichtsdiskurses bieten (school-based literacy practices) (vgl. O’Connor & Michaels, 1993; Rogoff, 2003, S. 20–39). Je größer die Passung diesbezüglicher Fähigkeiten und motivationaler Orientierungen des Kindes mit den entsprechenden Erwartungen und Angeboten der Lehrkräfte ausfällt, desto reibungsloser dürfte der Übergang in die Schulzeit gelingen (vgl. Michaels, 2006; Wells, 2006).

  • Anhaltend primäre Bezugspersonen

    Gemäß der Bindungstheorie (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978; Bowlby, 2009) können Eltern dadurch, dass sie in der frühen Kindheit «verfügbar sind, feinfühlig auf die Signale des Kindes reagieren und liebevoll und bereitwillig auf das Kind eingehen, wenn es Schutz, Trost oder Hilfe sucht» (Bowlby, 2009, S. 25), beim Kind die Ausbildung des Verhaltensmusters einer sicheren BindungFootnote 2 begünstigen. Ist das entsprechende emotionale Band zwischen Eltern und ihren Kindern einmal etabliert – und tatsächlich verfügen Kinder in westlich-entwickelten Gesellschaften laut Berk (2005, S. 256) großmehrheitlich über sichere Bindungen –, so bleiben die Eltern laut der aktuellen Befundlage zur Langzeitstabilität von Bindungsmustern (vgl. Waters, Merrick, Treboux, Crowell & Albersheim, 2000) in der Regel auch während der Schulzeit namentlich in schwierigen Situationen die zentralen Bezugspersonen, die ihnen die notwendige soziale, psychische und emotionale Sicherheit im Sinne einer «refuling base» (Bodenmann, 2016, S. 88) bieten.

    Mit dem Eintritt in die Schule sieht sich das Kind – wie Parsons (1968, S. 179) es ausdrückt – gezwungen, «sich von den primären emotionalen Bindungen an seine Familie» zu emanzipieren, «eine Ebene gesellschaftlicher Werte und Normen» zu verinnerlichen, «die eine Stufe höher liegt als jene, die ihm nur durch seine Familie vermittelt wird» und sich mit «der differentiellen Bewertung des Leistungserfolgs» sowie mit der Tatsache der «Selektion und Verteilung der menschlichen Ressourcen entsprechend dem Rollensystem der Erwachsenen» abzufinden. Die meisten Kinder und Jugendlichen dürften das familiale Beziehungssystem angesichts dieser Aufgaben in der Regel als Rückzugsort erleben, als «Ökologie der Sicherheit» (Schneewind, 2010, S. 191). Während ihre Beziehungen zu den Lehrkräften von den universalistischen Orientierungen geprägt sind, die in der leistungsorientierten öffentlichen Erwachsenenwelt gelten (vgl. Ecarius, Köbel & Wahl, 2011, S. 106–107; Tillmann, 2000, S. 128), sind es in ihren Beziehungen zu den Eltern die partikularistischen Orientierungen, die mit Privatheit, Stabilität und Intimität einhergehen (vgl. Schneewind, 2010, S. 21–34). Die Interaktionen zwischen Eltern und Kinder dürften somit im Regelfall eine weit höhere Dichte aufweisen als diejenige mit den Lehrkräften und dürften auch in qualitativer Hinsicht weit persönlicher und emotionaler ausfallen. Pekrun (2001) konstatiert, dass Eltern denn auch über eine «regelmäßig größere Emotionsmacht» (S. 89) als Lehrkräfte und Mitschüler*innen verfügten – Einflussmöglichkeiten, die sie bei der Verfolgung ihrer schulbezogenen Ziele und Aspirationen für das Kind geltend machen könnten (vgl. Abschnitt 5.6).

Helmke (2017) spricht vor diesem Hintergrund von einer «überragenden Wichtigkeit» des Elternhauses (S. 80) für die Entwicklung der individuellen kognitiven, konativen und motivational-affektiven Lernvoraussetzungen, die definieren, inwiefern ein Kind das schulische Lernangebot nutzt und entsprechende Leistungen erbringen kann.

Historisch rückte vor allem die als Coleman-Report bekannt gewordene Studie «Equality of Educational Opportunity» (Coleman, J. S. et al., 1966) die Bedeutung des Elternhauses für den Bildungserfolg von Kindern ins Blickfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Coleman und seine Mitarbeitenden konnten der Grundlage von Befragungen, Leistungstests und Dokumentenanalysen bei einer nationalen, rund 5 % der Schülerschaft der öffentlichen Schulen in den USA umfassenden Stichprobe (ca. 600.000 Schülerinnen und Schüler aus 4000 Schulen) u. a. zeigen, dass die Ressourcen der Familie (namentlich der Bildungsgrad und die Bildungsaspirationen der Eltern) mit einem Anteil von 10 bis 25 % den größten Beitrag zur Aufklärung von Schulleistungsunterschieden zwischen den ethnischen bzw. sozialen Gruppen leisteten – einen größeren als alle anderen, insbesondere schulischen Faktoren (u. a. Merkmale der Lehrkräfte, curriculare Merkmale, Ausgaben pro Schüler*in, Größe der Schulklasse) (vgl. Coleman, J. S. et al., 1966, S. 299–302; Mayer, 1998, S. 184). Auch wenn in der Folge die Coleman’schen Befunde vereinfachend und unzutreffend immer wieder so dargestellt wurden, wonach der Schule bzw. den Lehrkräften und ihrem Handeln kaum Bedeutung für den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern zukomme und im Grunde genommen vor allem die sozioökonomischen oder soziokulturellen Merkmale des Elternhauses entscheidend seien, so dämpfte die Studie und ähnlich gelagerte Nachfolgestudien (Jencks & Bartlett, 1979; Wang, Haertel & Walberg, 1993) die vorab geäußerte Erwartung von Bildungspolitik und -verwaltung, wonach sich mit einer besseren materiellen Ausstattung und einer gleichmäßigeren Verteilung der Mittel auf die Schulen höhere und regional/sozial ausgeglichenere schulische Leistungen erzeugen ließen. Ebenso setzte sich aber auch die Erkenntnis durch, dass die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler (kognitive und sprachliche Fähigkeiten, Motivation und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen) – «das, was die Schule als ‘Input’ geliefert bekommt» (Ditton, 2017, S. 275) – und somit der familiale Hintergrund bzw. die «häuslichen Vorgänge» (Jencks, Smith, Krappmann & Abel, 1973, S. 275), nebst der sozialen Zusammensetzung der Schulen und der Qualität der konkreten Lehr-Lern-Prozesse im Unterricht maßgebend für den Bildungserfolg sind (vgl. Ditton, 2017).

In jüngerer Zeit sind es die großen internationalen Vergleichsstudien, die auf markante, noch immer bestehende Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern aus privilegierten Familien und denjenigen aus Familien der unteren Sozialschicht bezüglich deren Leistungen und motivationalen Orientierungen beim Lesen, in Mathematik, in Naturwissenschaften sowie beim ProblemlösenFootnote 3 und somit auf die Bedeutung der Ressourcenallokation im Elternhaus hinweisen. Auch wenn sich die Konzeptionen zur Erhebung des soziokulturellen Hintergrunds sowie das Ausmaß der sozialen Disparitäten über die jeweils teilnehmenden Länder hinweg z. T. stark unterscheiden, so ergibt sich dennoch ein konsistentes Bild, wonach a) die Leistungen von Jugendlichen und Kindern systematisch mit deren Sozialschichtszugehörigkeit zusammenhängen, b) dieser Zusammenhang zugunsten der Kinder und Jugendlichen aus privilegierten Familien ausfällt und c) die Koppelung hierbei aber nicht so eng ist, dass von einem deterministischen Verhältnis zwischen der sozialen Herkunft und dem Schulerfolg gesprochen werden kann (vgl. Ehmke & Jude, 2010, S. 234). Einerseits gibt es jeweils genügend Kinder und Jugendliche mit sehr guten Leistungsergebnissen aus unteren sozialen Schichten und umgekehrt (vgl. u. a. Baumert & Schümer, 2001, S. 387; Rost, J., Prenzel, Carstensen, Senkbeil & Groß, 2004, S. 61), andererseits zeigt sich, dass es einigen Staaten bei vergleichbarer Sozialstruktur mittels ihres Schulsystems offenbar besser gelingt, die primären Herkunftseffekte (vgl. Abschnitt 3.1.1) zu verringern als anderen, zu denen u. a. auch Deutschland und die Schweiz gehören (vgl. Wendt et al., 2012, S. 188). Beides verweist darauf, dass zum Verstehen und Erklären der Prozesse, wie Bildungserfolg zustande kommt bzw. wie soziale Disparitäten sich intergenerationell vererben, in die kulturellen und sozialen Praktiken Einblick genommen werden muss, mit denen die Akteure in Familie und Schule Kinder bei der Entwicklung ihrer fachlichen Kompetenzen sowie motivational-affektiven Bereitschaften und selbstbezogenen Überzeugungen unterstützen und durch die Bildungsinstitutionen ins Erwachsenenleben begleiten. So kann «ein Schüler […] aus oberen Sozialschichten nicht von vornherein besser lesen, weil er in der Regel Eltern hat, die selber Akademiker sind» (Wendt et al., 2012, S. 61), sondern insbesondere dadurch, dass diese ihn an die entsprechenden gesellschaftlichen Werte und Bildungsziele heranzuführen vermögen, denen die Schule (ebenfalls) eine hohe Bedeutung beimisst, und sie ihm jene kulturell geprägten Mittel weitergeben, die sie selber im Rahmen ihrer Sozialisation im Elternhaus und während ihrer Ausbildung internalisiert haben.

In diesem Kontext hat sich in den letzten Jahren – spätestens mit den vertieften Analysen in der PISA-Studie, die auf komplexeren Strukturmodellen beruht haben (z. B. Watermann & Baumert, 2006) – auch in der quantitativ arbeitenden Sozialforschung die Erkenntnis durchgesetzt, dass zur Erklärung des Einflusses des sozialen Hintergrunds auf den Bildungserfolg von Kindern nicht allein auf die Familienkonstellation und die sozioökonomische Lage der Eltern – meist an der beruflichen Stellung und an den erreichten Bildungsabschlüssen der Eltern gemessen – abgestellt werden kann, sondern dass dazu Modelle entwickelt und Einflussgrößen erhoben werden müssen, die näher an die angesprochenen Vermittlungs- und Entscheidungsprozesse heranreichen (vgl. Watermann & Baumert, 2006, S. 63–64). Hierbei hat sich die Kapitaltheorie Bourdieus (1983) mit ihrem Postulat einer herausgehobenen Bedeutung struktureller und prozessualer Aspekte des kulturellen Kapitals für den Bildungserfolg des Kindes als zentral erwiesen. Im Folgenden wird dieser kulturtheoretische Erklärungsansatz erläutert und die angesprochenen diesbezüglichen Befunde aus Vertiefungsstudien von PISA 2000 namentlich für die deutschsprachigen Länder kurz erläutert (vgl. Baumert, Watermann & Schümer, 2003). Abschließend wird das Konzept des Habitus – «ein in klassenspezifischer Sozialisation erworbenes System von Dispositionen und Schemata, das [dem Individuum] als Beurteilungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsmatrix» dient (Becker, R., 2017a, S. 540) – mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand des elterlichen verbalen Motivierungshandelns näher erörtert und mit dem Konstrukt des Belief (Überzeugung) in Beziehung gebracht, dem in der pädagogisch-psychologischen Forschung um die häusliche Sozialisation eine Schlüsselstellung zukommt.

4.1 Die Bedeutung des kulturellen Kapitals – Bourdieus kulturtheoretischer Ansatz

Bourdieus Theorie der kulturellen Reproduktion besagt im Kern, dass sich in modernen, auf meritokratischen Prinzipien beruhenden Gesellschaften die Aufrechterhaltung sozialer Disparitäten nicht allein mit der ungleichen Verfügbarkeit von ökonomischem Kapital erklären lassen, sondern im Volumen und im Zusammenspiel von mindestens drei Kapitalformen zu suchen sind, über die Familien bzw. Individuen verfügen. Er unterscheidet zwischen dem ökonomischen, dem sozialen und dem kulturellen Kapital, wobei die Kapitalarten grundsätzlich ineinander überführbar sind. Das ökonomische Kapital repräsentiert insbesondere das Einkommen und Eigentum, das «unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar ist» (Bourdieu, 1983, S. 185) und zeichnet sich dadurch aus, dass es sich verhältnismäßig leicht in die anderen Kapitalarten transformieren lässt (Bourdieu, 1983, S. 195). Das soziale Kapital bezeichnet das Handlungspotential bzw. die Macht, die sich aus «dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens» ergibt (Bourdieu, 1983, S. 190, Hervorhebung im Original). Mit anderen Worten beruht diese Ressource auf der Zugehörigkeit zu mehr oder weniger institutionalisierten Gruppen, insbesondere zur Familie. Soziales Kapital generiert «Sicherheit wie Kreditwürdigkeit in sozialen Beziehungen» (Bourdieu, 1983, S. 188), bedingt dabei aber die Pflege stetiger Interaktion bzw. den «materiellen und/oder symbolischen» Austausch zwischen den Mitgliedern (Bourdieu, 1996a, S. 63), in der sich die Anerkennung gegenseitig immer wieder bestätigt. Die Zugehörigkeit zu gesellschaftlich institutionalisierten Gruppen wie Vereinen, Verbänden, Parteien, Schulen oder auch Nationen ist nicht nur mit einem gemeinsamen Namen, sondern mit zahlreichen Institutionalisierungsakten verbunden, die die Mitgliedschaft nach innen und außen sowie für das betroffene Individuum selber erkenn- und ausweisbar macht. Der Einzelne verfügt in dem Maße über soziales Kapital, in dem es ihm gelingt, ein umfangreiches Beziehungsnetz mit Individuen aufzubauen und zu pflegen, die nicht nur über ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen, sondern auch bereit sind, dieses in die Beziehung einzubringen (vgl. Bourdieu, 1996a, S. 64–66).

Insbesondere aber im kulturellen Kapital, dem Verfügen über gesellschaftlich nachgefragte Umgangs- und Denkformen, kulturelle Güter und Praktiken sowie Bildungstitel, erkennt Bourdieu eine besondere Bedeutung für die Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse. Auf der Basis empirischer Analysen der französischen Gesellschaft der 60er- und 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts kommt er zum Schluss, dass die soziale Position eines Individuums in der gesellschaftlichen Hierarchie mittels einer nach primär ökonomischen Differenzen vorgenommenen Zuordnung zu Klassen oder Schichten nur unzureichend bestimmt werden könne, sondern um die kulturelle Dimension erweitert werden müsse (Bourdieu, 1996a, S. 128). Deutlicher als die quantifizierbaren ökonomischen machten die qualitativ-symbolischen Differenzen in Form von «Kleidung, Sprache oder Akzent und vor allem die ‘Manieren’, Geschmack und Bildung» (Bourdieu, 2015, S. 60), die feinen, aber laut Bourdieu entscheidenden Unterschiede aus, die am klarsten die Verortung in der Sozialstruktur ermöglichten und «als Mittel im Kampf um gesellschaftliche Positionen» (Ecarius et al., 2011, S. 85) eingesetzt werden könnten. Die entsprechenden kulturellen Kompetenzen und Güter werden im Zuge der primären Sozialisation im Elternhaus ab der frühen Kindheit aufgebaut bzw. intergenerational vererbt und bestimmen auf der Basis von gesellschaftlichen und individuellen – meist unbewusst im Rahmen milieuspezifischen Wahrnehmungs- und Denkmustern ablaufenden – Ausleseprozessen die Art und den Grad der Teilhabe an der herrschenden bürgerlichen Kultur.

Dem Bildungssystem kommt laut Bourdieu bei diesem Reproduktions- und Positionierungsprozess eine entscheidende Rolle zu. Über die ganze schulische Laufbahn, aber namentlich bei Übergängen würden Kinder und Jugendliche nicht allein nach ihren Leistungen bewertet, sondern immer auch hinsichtlich ihres vererbten kulturellen Kapitals: «[Das Bildungswesen] trennt […] mit Hilfe einer Reihe von Auslesevorgängen die Besitzer von ererbtem kulturellem Kapital von Nichtbesitzern. Und da die Unterschiede der Befähigung von den durch das ererbte Kapital bedingten sozialen Unterschieden nicht zu trennen sind, trägt es zur Aufrechterhaltung der bestehenden sozialen Unterschiede bei» (Bourdieu, 1998, S. 36). Kinder aus Familien mit geringerem sozioökonomischem und soziokulturellem Status, deren kulturelles Kapital, insbesondere deren Habitus (vgl. Abschnitt 4.1.2), eine geringe Passung zur Anforderungsstruktur der Schule, einer Institution der oberen Mittelschichten, aufweist, werden hinsichtlich der schulischen Bewertungs- und Ausleseprozesse gleich behandelt wie Kinder, die aus Elternhäusern dieser Sozialklassen stammen, die aufgrund ihrer privilegierten, mit Zeit und/oder Geld verbundenen Stellung passendes kulturelles Kapital zu vererben vermögen (vgl. Becker, R., 2017a, S. 540; Fuss, 2006, S. 92–93): «Um den Preis der Energie, die auf den Ausleseprozess verausgabt werden muss, erhält [das Bildungswesen] die bestehende Ordnung aufrecht, das heißt den Abstand zwischen den mit ungleichen Quantitäten von kulturellem Kapital versehenen Schülern» (Bourdieu, 1998, S. 36). Indem die Schule alle Kinder «in ihren Rechten und Pflichten» gleichbehandelt, obwohl sie faktisch ungleiche Ausgangsbedingungen haben, begünstigt sie die Kinder aus privilegierten Elternhäusern (vgl. Bourdieu, 2001, S. 39). Mit Blick auf seine Statusallokation entfaltet sich die Bedeutung der Sozialisationsprozesse im Elternhaus für das Kind demnach erst im Zusammenspiel mit den entsprechenden Prozessen im Bildungssystem:

Die Familie ist eine sehr wichtige Übertragungsinstanz, die das Schulsystem ablöst, indem es die familiale Vermittlung ratifiziert. Das Schulsystem wird sagen: «dieses Kind ist mathematisch begabt», ohne die fünf Mathematiker in seinem Stammbaum zu sehen. Oder es ist in Brasilianisch oder Französisch nicht begabt, ohne zu sehen, dass es aus einem Immigrantenmilieu kommt. Das Schulsystem trägt also dazu bei, kulturelles Erbe, das von der Familie gekommen war, als schulischen Verdienst zu ratifizieren, zu sanktionieren und zu transformieren. (Bourdieu, 2001, S. 175)

Spätestens durch die Verteilung von Bildungszertifikaten, die auf dem Arbeitsmarkt unterschiedlich nachgefragt sind, trägt das Bildungswesen laut Bourdieu zur Konservierung der bestehenden sozialen Verhältnisse bei (vgl. Becker, R., 2017a, S. 544). Von Bourdieu als «institutionalisiertes Kulturkapital» bezeichnet, fungieren solche Bildungspatente und akademischen Titel als gesellschaftliche Anerkennung des von einem Individuum tatsächlich (oder bisweilen nur nominell) besessenen kulturellen Kapitals. Die dauerhaften und rechtlich abgesicherten Titel ermöglichen die Vergleichbarkeit ihrer Inhaber, garantieren die Kompetenz derselben, ohne dass sie sich wie Autodidakten ständig beweisen müssen, übertragen ihnen einen in ökonomisches Kapital konvertierbaren Wert und ermöglichen es ihnen, bei Vakanzen die Nachfolge anderer Titelträger anzutreten (vgl. Bourdieu, 1983, S. 190; 2001, S. 118–119).

Der Bildungstitel ist die objektivierte Form jener zweiten und wichtigsten Manifestation des kulturellen Kapitals, die von Bourdieu als «inkorporiertes Kulturkapital» bezeichnet wird und von ihm mit Bildung (bzw. frz. culture) gleichgesetzt wird (vgl. Bourdieu, 2001, S. 113). Wie es der Name andeutet, zeichnet sich diese Form des kulturellen Kapitals dadurch aus, dass sie körpergebunden ist und im Unterschied zu kulturellen Gütern wie Bücher, Kunstgegenstände, Musikinstrumente, Spielzeuge und Maschinen – der dritten Form kulturellen Kapitals, derjenigen des «objektivierten Kulturkapitals» – vom Individuum persönlich in einem Zeit kostenden Verinnerlichungsprozess aktiv erarbeitet werden muss und nicht durch Schenkung, Kauf oder Vererbung erworben werden kann. Inkorporiertes Kulturkapital ist in dem Maße vergänglich, wie es sein Träger und dessen Gedächtnis sind (vgl. Bourdieu, 1983, S. 114).

Die Familie ist «the site of social Reproduction» (Bourdieu, 1996b, S. 22, Hervorhebung E. S.), insofern als hier insbesondere das inkorporierte Kapital in der alltäglichen Kommunikation erworben wird und seine Prägung erfährt. Dem Kind erscheinen die sozialen und kulturellen Praktiken, aber auch die gesellschaftlichen Möglichkeiten und Grenzen der Familie von Anfang an als Normalität oder Selbstverständlichkeit, obwohl sie laut Bourdieu keineswegs frei gewählt, sondern genuin klassenspezifischenFootnote 4 Logiken folgen. Es ist dieses unreflektierte «privilege of being comme il faut» (Bourdieu, 1996b, S. 23), mit denen die Familie im Rahmen sozialisatorischer Prozesse die bestehenden sozialen Ordnungen reproduziert:

This privilege is, in reality, one of the major conditions of the accumulation and transmission of economic, cultural and symbolic privileges. The family plays a decisive role in the maintenance of the social order, through social as well as biological reproduction, i. e. reproduction of the structure of the social space and social relations. lt is one of the key sites of the accumulation of capital in its different forms and its transmission between the generations. lt safeguards its unity for and through this transmission. lt is the main «subject» of reproduction strategies. (Bourdieu, 1996b, S. 23)

Die Transmission des kulturellen Kapitals in der Familie, die soziale Vererbung, kann sich nach Ansicht Bourdieus ohne bewusst intendierte Erziehungsmaßnahmen seitens der Eltern vollziehen (vgl. Bourdieu, 1983, S. 187), prägt aber die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums und entfaltet so seine Wirkung über das ganze Leben. Notwendig zur Transmission ist vor allem ein Zeitinvestment der Eltern und anderer Familienmitglieder und dass sie – im Sinne sozialen Kapitals – als Interaktionspartner und Modelle zur Verfügung stehen. Entscheidend ist für Bourdieu die Eigenleistung des Kindes. Dabei ist zu beachten, dass der Term Verinnerlichung die Tragweite der Inkorporation des kulturellen Kapitals nur unzureichend zu fassen vermag, wenn dabei lediglich kognitive Prozesse verstanden werden. Geformt wird durch die vorgefundenen Bedingungen der ganze Körper und nicht nur der Geist: «Erfahrungen, Verletzungen, Wachstum, Arbeit wie Freizeit, Essen wie Hungern hinterlassen ihre Spuren, nicht nur sichtbar, sondern in Zuständen und Prägungen des Körpers, die nicht allein zentralnervlicher Art sind» (Spranger, 2011, S. 34). Für Bourdieu ist «Inkorporation» wörtlich zu verstehen. Das seit der frühen Kindheit akkumulierte kulturelle Kapital wird zu einem festen körperlichen Bestandteil des Individuums, zu seinem Habitus, zu einem Besitz der «gewissermaßen […] in Fleisch und Blut übergeht» (Fuss, 2006, S. 53) und von einem «Haben» zu einem «Sein» wird (Bourdieu, 1983, S. 187). Die Identifikation sei mitunter so umfassend, dass Erwachsene (bzw. Lehrkräfte) dann dem Missverständnis anheimfielen, wonach der eigene Habitus (bzw. derjenige ihrer Schülerinnen und Schüler) etwas Angeborenes bzw. genetisch Vererbtes sei, und dann von «natürlichen Begabungen» sprächen (Bourdieu, 2001, S. 41).

4.1.1 Empirische Befunde zur Bedeutung kultureller Praxen zur Aufklärung des schulbezogenen Einflusses der Familie

Obgleich Bourdieu sich selbst nur rudimentär mit den tatsächlichen Prozessen der Weitergabe und Aneignung des kulturellen Kapitals in den Familien beschäftigt hat, so sind seine Thesen bezüglich dieser Kapitalsorte sowie bezüglich ihres Zusammenspiels mit den anderen Kapitalien in der Familien- und Bildungsforschung rege rezipiert worden (vgl. Lange & Xyländer, 2011, S. 48). Qualitativ ausgerichtete Forschende weisen mit Bezug auf Bourdieus Postulate seit längerem darauf hin, dass kulturelle Denk- und Handlungsmuster von Familien einbezogen werden müssen, wenn der Einfluss der Herkunft auf den Bildungserfolg und den Kompetenzerwerb erklärt werden soll (z. B. Lareau, 1996, S. 275–278). Seit der ersten PISA-Studie wird auch in der quantitativ ausgerichteten Bildungsforschung der soziale Hintergrund vermehrt nicht mehr allein durch die sozioökonomische Stellung der Eltern (gemessen über deren berufliche Tätigkeit und Einkommen und/oder deren Bildungsabschluss) erhoben, sondern über eine mehrdimensionale Konzeption, die sowohl strukturelle als auch prozessuale Merkmale aller drei Kapitalsorten umfasst. (vgl. Baumert & Maaz, 2006). Auf diesbezüglichen PISA-Daten aus dem Jahr 2000 hat die Arbeitsgruppe um Baumert ein Strukturmodell zum Zusammenhang von sozialer Herkunft und der Bildungsbeteiligung bzw. des Kompetenzerwerbs entwickelt (vgl. Watermann & Baumert, 2006), das im Falle der strukturellen Dimension des ökonomischen Kapitals auf Indizes des sozioökonomischen Status zurückgreift und bei der prozessualen Dimension dieser Kapitalsorte das konsumtive Verhalten der Familie (Investitionen in Wohlstandsgüter) einbezieht. Beim kulturellen Kapital wird in struktureller Hinsicht auf dem Bildungsniveau (höchster Bildungsabschluss in der Familie) und in prozessualer Hinsicht auf den kulturbezogenen Familienalltag (Familiensprache, Investitionen in Kulturgüter wie Bücher und Theaterbesuche) aufgesetzt. Beim sozialen Kapital wird der Migrationsstatus der Familie auf der strukturellen Ebene und die sozial-kommunikativen Praktiken (Gesprächsintensität in der Familie, Diskussionen über kulturelle Sachverhalte) einbezogen. Wie Baumert, Watermann, et al. (2003) auf dieser Basis für die alten und neuen Bundesländer zeigen können, lassen sich bei einer simultanen Berücksichtigung von strukturellen und prozessualen Merkmalen Gewinne in der Varianzaufklärung von über 15 % erzielen, als wenn nur die Strukturmerkmale sozioökonomische Stellung, Migrationsstatus und Verweildauer in Deutschland mit der Lesekompetenz in Beziehung gesetzt werden: «Die Kopplung zwischen Merkmalen der familiären Lebensverhältnisse und schulischem Kompetenzerwerb wird [folglich] systematisch und bedeutsam unterschätzt, wenn ausschließlich Strukturmerkmale berücksichtigt werden» (Baumert, Watermann, et al., 2003, S. 63). Dabei zeigte sich, dass die Effekte der sozioökonomischen Stellung und des Bildungsabschlusses primär über die kulturellen Praktiken in der Familie vermittelt sindFootnote 5. Dem Bourdieu’schen Konstrukt des kulturellen Kapitals, so die Autoren, komme demnach eine hohe Konstruktvalidität zu, da es selbst bei einer äußerst sparsamen Operationalisierung einen hohen Anteil des tatsächlich vorherrschenden Zusammenhangs zwischen der sozialen Herkunft und der Bildungsbeteiligung bzw. dem Kompetenzerwerb der nachfolgenden Generation zu erklären vermöge (vgl. Baumert, Watermann, et al., 2003, S. 68).

Aus psychologischer Sicht wird die oben dargestellte sparsame Operationalisierung des prozessualen Merkmals des kulturellen Kapitals der Komplexität des Bourdieu’schen Konstrukts des Habitus aber (selbstredend) nur bedingt gerecht. Der Begriff des Habitus verweist auf mentale Ressourcen des Elternhauses, die alltagssprachlich mitunter als «Weltbilder», «Sichtweisen», «Geisteshaltung», «Grundeinstellung» o. ä. bezeichnet werden und in der Psychologie als Schemata, Frames, Haltungen (attitudes) oder aber als Überzeugungen (beliefs) firmieren. Laut der Erwartungs-Wert-Theorie von Eccles und Kolleg*innen (vgl. Wigfield, Eccles, et al., 2015) sind es diese kognitiven Ressourcen, die die Situationswahrnehmung und das Handeln von Individuen beeinflussen und steuern. In Unterstützungssituationen werden die Eltern ihr Kind und die jeweilige Aufgabe demnach auf der Basis seiner soziokulturell geformten Überzeugungen wahrnehmen und einschätzen, ein Handlungsziel bestimmen und schließlich bestimmte Unterstützungsformen wählen. Beim schulbezogenen verbalen Motivieren des Kindes dürften diese mentalen Gebilde, die das bezeichnen, was das Individuum aufgrund seiner Erfahrungen für wichtig und richtig hält, die Eltern nicht nur bei der Entscheidung, in die schulbezogenen Prozesse beim Kind einzugreifen, und bei Wahl der Mittel und der Kommunikationsmodi beeinflussen (vgl. Abschnitt 2.2.2.4). Vielmehr dürften die Eltern ihre Überzeugungen oft auch als Argumente explizit versprachlichen, wenn sie mit ihren Wertregulationen versuchen, dem Kind die Bedeutsamkeit eines bestimmten schulischen Ziels zu verdeutlichen, oder wenn sie mit ihren Kontrollregulationen deutlich machen wollen, inwiefern ein Erfolg oder ein Misserfolg erwartbar sei bzw. gewesen sei (vgl. Kapitel 5). Nach einer detaillierteren Erörterung und Bewertung des Habitus-Konzepts Bourdieus wird im Folgenden auf das Schlüsselkonzept der elterlichen Überzeugungen (parental beliefs) eingegangen und die diesbezügliche Befundlage erläutert, wie sie sich im Licht der Forschung um das von Eccles und Kolleg*innen vorgebrachte «Modell motivations- und leistungsbezogener Sozialisation im Elternhaus» (vgl. Simpkins et al., 2015a, S. 617) darstellt.

4.1.2 Habitus und elterliche Überzeugungen

Mit Habitus wird bei Bourdieu ein «System dauerhafter Dispositionen» (Bourdieu, 1976, S. 143) bezeichnet, welches, die «zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte» (Bourdieu, 1987, S. 105) eines Individuums repräsentiert und als «Beurteilungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsmatrix» (Becker, R., 2017a, S. 540) den Raum seines Denkens und Handelns absteckt:

Der Begriff Habitus bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person versperrt ist. Wer z. B. über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt, der hat eben auch, wie Marx einmal sagt: Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann. Deshalb sind für ihn bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich, gibt es Sachen, die ihn aufbringen oder schockieren. (Bourdieu, 1989b, S. 26–27)

Die nicht angeborenen Dispositionen entwickeln sich im Rahmen der Sozialisationsbedingungen, die mit dem Aufwachsen in einer spezifischen Position in der Gesellschaft verbunden sind. Die klassenspezifischen Praktiken in der Familie, «die Pflichten und Zwänge, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten» (Spranger, 2011, S. 35) bzw. die jeweils verfügbaren Zugänge zu Handlungsfeldern, Objekten und Kapitalien, erzeugen bzw. konditionieren die typischen Habitusformen (vgl. Bourdieu, 1987, S. 98), die sich nebst den oben bereits genannten symbolischen Ausdrucksformen auch in den «scheinbar automatischsten Gebärden und unbedeutendsten Körpertechniken – der Art zu gestikulieren oder zu gehen, sich zu setzen oder zu schneuzen [sic], beim Sprechen oder Essen den Mund zu bewegen» manifestieren (Bourdieu, 1984, S. 727). Die von Bourdieu ebenfalls zum Habitus geschlagenen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata bringen es ferner u. a. in Form eines «gesellschaftlichen Ordnungssinns» oder des «Geschmacks» mit sich, dass die Individuen, «spüren oder […] erahnen», was auf sie «mit einer bestimmten sozialen Position voraussichtlich zukommt und was nicht», was ihnen «entspricht und was nicht» und sie «auf die praktischen Handlungen, Aktivitäten und Güter» hinlenkt, die «ihnen […] entsprechen, zu ihnen ‘passen’» (Bourdieu, 1984, S. 728).

Zusammengefasst konzipiert Bourdieu mit dem Habitus einen Begriff, der das gesamte kulturell-symbolische Erleben und Sich-Ausdrücken einer Person umfasst und dabei immer klassen- bzw. milieuspezifisch ist und bleibt – «die Körper gewordene soziale Ordnung» (Bourdieu, 1984, S. 740). Er bezeichnet Dispositionen, die primär in der kindlichen Sozialisation im Rahmen der Teilhabe an Praktiken erworben wurden, welche von den Habitusformen der jeweiligen Sozialagenten geprägt wurden, und nun das Wahrnehmen und Denken strukturieren und das Feld der Interessen und Handlungsstrategien abstecken, denen das Individuum folgt.

Tendenziell tritt dabei eine deterministische Position zutage, insofern als die Herkunftsfamilie und deren soziale Praxis über Konditionierungs- und Zuschreibungsprozesse Handlungs- und Orientierungsmuster bei Heranwachsenden hervorbringen, die über die ganze Lebensspanne wirksam bleiben. Bourdieu hat wohl dem Vorwurf des Determinismus Vorschub geleistet, indem er sich verschiedentlich explizit auf Leibnitz’ Diktum berufen hat, wonach Menschen «in Dreiviertel [ihrer] Handlungen Automaten» (vgl. Bourdieu, 1984, S. 740) seien und das Denken und Handeln von Menschen grundlegend durch die Struktur der Lebensbedingungen gestaltet würden. Individuen würden sich verhältnismäßig selten ihrer situativen und gesellschaftlichen Begrenzungen bewusst und prüften die Opportunitäten in den jeweiligen Situationen mittels Kosten-Nutzen-Erwägungen (vgl. Bourdieu, 1987, S. 98). Bourdieu betont allerdings auch, dass er weder einen deterministischen Strukturalismus noch einen voluntaristischen Konstruktivismus, sondern vielmehr die vermittelnde Position eines «konstruktivistischen Strukturalismus» vertrete (Bourdieu & Schwibs, 1992, S. 135). So stecke der Habitus zwar die Grenzen der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten ab, lege diese aber nicht eigentlich fest:

Aber innerhalb dieser seiner Grenzen ist [der Mensch] durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer voraussehbar. Die Analogie von Lebensstil und künstlerischem Stil gewinnt von hier aus ihren Sinn: Der Stil der Epoche ist genau diese spezifische Kunst des Erfindens, so dass man zwar nie genau weiß, was ein Künstler schaffen wird, aber doch vorweg schon die Grenzen kennt, in denen er schöpferisch tätig sein wird. Das Gleiche gilt für jeden von uns: Wir alle sind frei innerhalb von Grenzen. Und wir können uns zusätzliche Freiheit dadurch schaffen, dass wir uns diese Grenzen bewusst machen [sic]. (Bourdieu, 1989b, S. 27)

In diesem Licht erscheint der Habitus zwar als stabil, aber nicht als unveränderlich. Bourdieu meint denn auch, dass der Habitus immer in Relation zu den Handlungsfeldern begriffen werden müsse: In gewohnten Handlungsfeldern, «dann, wenn die inkorporierten Erwartungsstrukturen auf Strukturen von Chancen stoßen, die mit den Erwartungen objektiv übereinstimmen» (Bourdieu, 1989a, S. 407), aktualisiere und verstärke er sich – ein Zustand, der für das Individuum mit Wohlbefinden einhergehen dürfte. In ungewohnten Handlungsfeldern, dann «wenn das Erwartungsniveau, die Anspruchslage sich erhöht oder aber sinkt» (Bourdieu, 1989a, S. 407), verändern sich die habitualisierten Dispositionen genauso, wie sie ursprünglich gebildet wurden: Primär über Konditionierungen und Modelllernen – allerdings sind auch diese Modifikationsprozesse begrenzt durch die sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen des jeweiligen Erfahrungsfeldes, in welches das Individuum vorgestoßen ist. Die notwendigen Lernprozesse sind für das Individuum vergleichsweise aufwändig, gehen mit Unsicherheit einher und erfordern Zeit. Insofern ist dem Habitus, wie Ecarius et al. (2011) schreiben, ein gewisses Maß an Trägheit inhärent:

Im Allgemeinen reagiert der Habitus sehr inflexibel auf neue Situationen, die er handlungspraktisch zu bearbeiten nicht (ausreichend) in der Lage ist – ob dies nun ungewohnt auftretende Ereignisse im Alltag sind, auf die es zu reagieren gilt, oder neue Anforderungen im Zuge von Modernisierungsprozessen, mit der soziale Milieus und ihre Mitglieder konfrontiert sind. Dennoch ist er prinzipiell veränderlich und bereit, auf veränderte gesellschaftliche Konstellationen […] und auf neue Bedingungen in seiner Laufbahn zu reagieren […]. (Ecarius et al., 2011, S. 91)

Damit wird deutlich, dass auch Bourdieu dem Individuum grundsätzlich Entscheidungsfreiheit zugesteht. Die Frage stellt sich, wie sich seine Theorie im Vergleich zur eingangs ausführlich dargelegten «aufgeklärten» (Becker, R., 2017b, S. 111) Rational Choice-Theorie von Esser positioniert (vgl. Abschnitt 2.1).

Gemeinsam ist beiden Theorien, dass sie auf die Mikro-Ebene fokussieren und dabei die individuellen Handlungsentscheidungen aber gleichzeitig als durch die gesellschaftlichen Bedingungen der Makroebene beschränkt begreifen. Bei Bourdieu wirkt die Makro-Ebene stets in Form der dem Individuum zur Verfügung stehenden Kapitalien (Ausmaß und Zusammensetzung derselben) sowie der Verfasstheit des jeweiligen Habitus auf die Mikro-Ebene ein, wobei dieser die Situationsinterpretation dermaßen dominiert, dass ein rationales Abwägen meist hinfällig ist (vgl. Schütte, 2013, S. 41). Bourdieu gelingt es so zu erklären, wie die große Konstanz sozialer Disparitäten trotz – oder gerade wegen – des beständigen sozialen Wandels zustande kommt (Ecarius et al., 2011, S. 90). Wie Fuss (2006, S. 50) anmerkt, trifft die Metapher des «sozialen Autopiloten» den Sachverhalt aber besser als diejenige des von Bourdieu bei Leibnitz entlehnten «Automaten», der die Vorstellung kausaler Determiniertheit des Handelns evoziert. So lange sich Individuen in für sie alltäglichen Situationen befinden – für Bourdieu sind dies für die Klassenlage typische Situationen –, solange scheint es funktional zu sein, die Steuerung gewissermaßen den Wahrnehmungs- und Handlungsprogrammen zu überlassen. Das Individuum fühlt sich dann sprichwörtlich «wohl in seiner Haut» und handelt spontan und routiniert nach seiner Manier. Je stärker sich aber in einer Situation die Passung mit den Wahrnehmungs- und Handlungsschemata als mangelhaft erweist, ein komplexeres, ill-defined Problem vorliegt (vgl. Reusser, 2005), welches ressourcenträchtigere Nachdenkens- und Entscheidungsprozesse notwendig macht, desto geringer dürfte der Einfluss des Habitus sein und desto stärker dürfte das Individuum mit seinem Willen und der Fähigkeit reflektiert Ziele zu setzen gewissermaßen die Steuerung wieder übernehmen. Sozialgruppenspezifisches Verhalten, etwa in Form von «Jargon», dürfte dann ganz bewusst und kontrolliert eingesetzt werden – um den Anforderungen der ungewohnten sozialen Situation aus der Sicht des Individuums zu genügen oder aber um sich bewusst von einer als etabliert empfundenen Mehrheits- bzw. Erwachsenenkultur abzugrenzen.

In Essers Theorie der rationalen Wahl, in der auf der Mikro-Ebene das individuelle Handeln stets als mehr oder weniger routiniertes Problemlösen verstanden wird, ist einerseits die allgemeine Entscheidungsregel operativ, wonach Menschen «immer eine ‘Wahl’ haben» (Esser, 1999a, S. 238, Hervorhebung im Original), andererseits auch die Selektionsregel, gemäß welcher ein Akteur mehr oder weniger bewusst jene Handlungsoption wählen wird, die gemäß seiner subjektiven Interpretation der äußeren Umstände sowie seiner Dispositionen hinsichtlich der Konsequenzen die günstigsten Ergebnisse erwarten lassen. Im Extremfall sieht der Akteur aufgrund der von ihm subjektiv wahrgenommenen gesellschaftlichen Bedingungen keine Wahlalternative, wodurch dem Individuum die Selektion der entsprechenden Handlungsoption zwingend erscheint (vgl. Abschnitt 2.1). Beim Abwägungsprozess greift es auf Frames und Habits zurück, welche erfahrungsbasiert und somit ähnlich wie der Habitus immer auch gesellschaftlich geformt sind. Im Unterschied zu diesem, der im Prozess der Inkorporation weitgehend unbewusst erworben und modifiziert wird, kann im Reframing-Prozess, den Esser detailliert skizziert, bei einem Mismatch zwischen Frame und wahrgenommenen situativen Bedingungen aber auch bewusst nach alternativen Situationsdeutungen bzw. Handlungsoptionen gesucht werden. Mit anderen Worten ist es dem Individuum in Essers Ansatz bei Bedarf möglich, intentional, «findig, kreativ, reflektiert und überlegt» (Esser, 1999a, S. 238) alternative kognitive Schemata zu entwickeln und sich dieses Lernprozesses bewusst zu sein (vgl. Schütte, 2013, S. 66).

Während sich der Soziologe Esser in seinem Erwartungs-Wert-Ansatz zur Modellierung der mentalen Prozesse des Akteurs vorwiegend schematheoretischer Konstrukte bedient, die in der Wissenspsychologie verschiedentlich bezüglich ihrer Vagheit – gerade auch bezüglich des Verhältnisses zwischen unbewussten und bewussten Informationsverarbeitungsprozessen – kritisiert wurden (vgl. Mandl, Friedrich & Hron, 1988, S. 124–135) operieren Eccles und Kolleg*innen in ihren motivationspsychologischen, das mentale Geschehen differenziert modellierenden Erwartungs-Wert-Konzeptionen mit dem Begriff des Belief, der im deutschen Sprachraum meist mit «Überzeugung» übersetzt wird.

In seinem Aufsatz über das Konstrukt des teacher belief schreibt Pajares (1992, S. 307) einleitend, dass Überzeugungen gemeinhin als beste Indikatoren für die Entscheidungen gelten würden, die Individuen im Verlauf ihres Lebens treffen, und stellt gleichzeitig fest, dass es sich um ein «messy construct» handle, insofern als der Term Belief auch im wissenschaftlichen Kontext selten trennscharf von anderen Kategorien wie z. B. derjenigen der attitude oder der implicit theory abgehoben werde. Unklar, so meint er, sei aber insbesondere die Abgrenzung vom Begriff des Wissens (knowledge) und diese lasse sich theoretisch auch nur schwer bewerkstelligen. Tack (2006) begründet diesen Umstand damit, dass «real existierendes menschliches Wissen nie den strengen Anforderungen idealisierten Wissens genügt, und dass man kaum davon ausgehen kann, dass Menschen mit ihrem Wissen (im strengen Sinne) anders umgehen als mit ihrem vermeintlichen Wissen (von dem sie lediglich überzeugt sind)» (S. 495). Reusser und Pauli (2014) konstatieren, dass auch wenn sich keine kategoriale Grenze zwischen den beiden Konstrukten ziehen ließe, Einigkeit darüber bestehe, «dass sich das Konzept [der Überzeugung] auf mentale Zustände bezieht, in denen subjektive Bewertungen eine Rolle spielen» (S. 643). Laut Rokeach (1976) handelt es sich bei einer Überzeugung bzw. einem Belief um «a simple proposition, conscious or unconscious, inferred from what a person says or does, capable of being preceded by the phrase, ‘I believe that …’» (S. 113). Mit anderen Worten sind Überzeugungen von Menschen, die diesen nur zum Teil in einem deklarativen Sinne bewusst und mental zugänglich sind, von außen lediglich über deren verbales oder nonverbales Verhalten erschließbar und bedürfen stets der Interpretation (vgl. Rokeach, 1976, S. 2). Überzeugungen können deskriptive (z. B. «Mein Sohn ist bis 16 Uhr in der Schule»), evaluative («Ich war nie gut in Mathematik») oder normativ-präskriptive Aussagen («Meine Tochter muss regelmäßig an die Hausaufgaben erinnert werden, damit sie diese auch wirklich macht») über die physische, psychische oder soziale Realität sein (vgl. Rokeach, 1976, S. 113). Als Propositionen weisen Überzeugungen sodann einen Gegenstandsbezug auf, sind also «intentional stets auf etwas gerichtet» (Reusser & Pauli, 2014, S. 644). Dabei kann die Aussage über die Welt generellen Charakter haben kann («Kinder sind…») oder sich auf spezifische Aspekte und Elemente («mein Kind ist…») beziehen. Überzeugungen lassen sich ferner danach unterscheiden, ob sie selbst- oder fremdbezogen sind und stehen laut Rokeach (1976, S. 2) nicht für sich alleine, sondern sind im Überzeugungssystem (belief system) eines Menschen immer «in some organized psychological but not necessary logical form» vernetzt mit anderen. Überzeugungen gruppieren sich in komplexer Form um die jeweiligen Objekte, Personen, Situationen oder Konzepte, auf die sie sich beziehen («Der Übertritt ist …», «Mein Sohn sieht sich dabei vor die Wahl gestellt, …», «Ich glaube, dass sich unsere Beziehung wegen des Übertritts …» etc.) (vgl. Rokeach, 1976, S. 116). Solche Cluster von Überzeugungen – «belief about constructs» (Pajares, 1992, S. 316, Hervorhebungen im Original), bilden oftmals «theorieförmige, quasi-logische Strukturen im Sinne rekonstruierbarer, mehr oder weniger elaborierter semantischer Netzwerke» (Reusser & Pauli, 2014, S. 644), die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen als subjektive Theorien bezeichnet werden.

Stehen weniger Wenn-Dann-Beziehungen, sondern summative, emotional eingefärbte und zeitlich stabile Bewertungen in den aus Überzeugungen gebildeten Clustern im Vordergrund, handelt es sich um eine attitude bzw. Einstellung, die das Individuum dem Objekt gegenüber hegt: «Attitudes […] imply positive/approach tendencies or negative/avoidance tendencies and involve summaries of the value of the object» (Olson & Kendrick, 2012, S. 230). Am Beispiel des folgenden Interviewausschnitts der Mutter S11 lässt sich dies illustrieren:

  • I: Inwiefern haben Ihre eigenen schulischen und beruflichen Erfahrungen in den letzten Monaten, in denen es um die Übertrittsentscheidung ging, eine Rolle gespielt?

  • S11: Ja, dass sie mir mehr leid tun heute, also ich denke, bei uns war das alles irgendwie viel weniger – also sie tun mir eigentlich leid. Der ganze Druck, sie tun mir leid, weil ich finde, sie sind jetzt in der sechsten, sie sind noch nicht in der Sek, und irgendwie in der Primarschule, finde ich einfach, sollte man noch ein wenig unbeschwert – schon, nachher hast du die Sek, wo ein Druck kommt, und ich finde, die Primarschule müsste definitiv ein bisschen mehr sein, wie wir sie gehabt haben. Ich finde es verrückt, wenn irgendwie ein Elfjähriger sich schon Gedanken machen muss, ich muss jetzt in die Sek kommen, damit ich dann nachher in eine Schule, damit ich dann nachher einen Beruf – Also ich habe doch mit elf nicht über einen Beruf nachgedacht, und welche Schule ich machen muss, damit ich nachher – ich wusste ja gar nicht, was ich wollte, und irgendwie finde ich das absurd, das finde ich sehr traurig, ja. (Interview G2, 01:37:52)

Die Mutter äußert eine Reihe von Beliefs zur Übertrittsentscheidung und bringt mit ihren summativen bewertenden Aussagen ihre negative Einstellung dem Konzept gegenüber zu erkennen. Mühelos lassen sich die Implikationen erahnen, die ihre Wert-Überzeugungen in motivationaler Hinsicht beim Übertritt ihres jüngeren Kindes haben mögen (vgl. Abschnitt 5.5). Olson und Kendrick (2012) heben die handlungserleichternde Funktion von attitudes hervor, die Rokeach (1976, S. 120) als «predisposition to respond» bezeichnet:

Such precomputed summary judgments of attitude objects are functional in that they help prepare the individual for action so that one does not need to deliberately make important decisions from scratch every time a behavioral opportunity arises. In other words, because people know what they like and dislike, they can spend less time pondering what to buy and consume, for whom to vote, how to behave, and with whom to affiliate. They need only consult their attitudes toward the relevant object and act in accordance with it. Indeed, attitudes have been considered ‘ready aids’ for sizing up the world and how to live in it, and it is difficult to imagine how people could function without having a grasp of the things that benefit and sustain them and things that could potentially hinder or harm them. (Olson & Kendrick, 2012, S. 230)

Überzeugungen können unterschiedlich stark und stabil und in solchen Netzwerken entsprechend eher zentral oder peripher sein. Orientiert an der Metapher des Atommodells postuliert Rokeach (1976, S. 3), dass je zentraler und wichtiger eine Überzeugung sei, desto resistenter sie sich auch gegenüber Veränderungen und Zweifeln erweise. Die Zentralität einer Überzeugung definiert sich laut Rokeach über die Menge ihrer Verbindungen (connectedness), die sie mit anderen Überzeugungen eingeht: «the more a given belief is functionally connected or in communication with other beliefs, the more implications and consequences it has for other beliefs and, therefore, the more central the belief» (Rokeach, 1976, S. 5). Überzeugungen, die sich auf das Selbst bzw. die Identität beziehen (existential beliefs) und denen «subjektiv bedeutsame Prämissen der Welt- und Selbstsicht [des] Individuums zugrunde liegen» (Reusser & Pauli, 2014, S. 645), sind grundsätzlich zentraler, vernetzter mit anderen Überzeugungen, somit veränderungsresistenter und haben weitreichende Konsequenzen für das ganze Überzeugungssystem, falls sie sich verändern. Unter den existenziellen Überzeugungen sind wiederum diejenigen besonders stark vernetzt und entsprechend resistent, welche mit anderen Menschen einer sozialen Gruppe geteilt werden (shared beliefs: «I believe, and everyone else who could know believes it too») (vgl. Rokeach, 1976, S. 5–6). Ferner haben Überzeugungen, die auf selbstgemachten Erfahrungen mit dem Objekt beruhen (underived beliefs), funktional mehr Verbindungen und Konsequenzen, da sie u. a. wegen des «I saw it with my own eyes»-Phänomens (Pajares, 1992, S. 318) stärker mit dem Selbst verbunden sind, als Überzeugungen, die auf der Basis von (instruktionalen) Überzeugungsbemühungen anderer geformt wurden (underived beliefs). Reusser und Pauli (2014, S. 645) verweisen denn auch auf die Schwierigkeiten, vor die man sich gestellt sieht, wenn man von außen solcherlei «tiefsitzenden und erfahrungsgesättigten» Überzeugungen und Einstellungen zu verändern sucht. Vergleichbar mit den Prozessen, wie sie die Conceptual Change-Forschung (Posner, Strike, Hewson & Gertzog, 1982; Vosniadou, 2013) beschreibt, seien diese mentalen Umstrukturierungen langwierig, komplex und mitunter konfliktreich:

Damit häufig zuerst kognitiv […] angebahnte Umstrukturierungen auf die Handlungsebene durchdringen, müssen [dem Individuum] alternative Wahrnehmungsmuster, Strategien, Routinen und Handlungsmittel objektiv und subjektiv (durch Lernen) verfügbar gemacht und [von diesem] als verständlich, einleuchtend und produktiv wahrgenommen werden […]. (Reusser & Pauli, 2014, S. 645)

In Kapitel 5, in dem die Prozesse zur Beeinflussung schulbezogener Kontroll- und Wert-Überzeugungen des Kindes durch die Eltern im Zentrum stehen, wird der Frage vertiefter nachgegangen, unter welchen Bedingungen sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Kinder die Botschaften der elterlichen Bedeutungszuschreibungen und evaluativen Feedbacks, die ihrerseits Ausdruck von deren entsprechenden wert- und kontrollbezogenen Beliefs sind, in ihr Überzeugungssystem integrieren und dann im besten Fall handlungswirksam werden lassen (vgl. Abschnitt 5.7). Gestalten sich solche elterlichen Einflussnahmen auf die noch verhältnismäßig fluiden motivationalen Orientierungen des Kindes – nicht zuletzt durch die Leistungserfahrungen in der Schule und die mitunter konkurrierenden Sichtweisen von Lehrkräften und Peers – oft bereits schwierig, so dürfte dies umso mehr gelten, wenn man versucht, generelle bildungsbezogene Überzeugungen der Eltern – z. B. ihre Wert-Überzeugungen gegenüber bestimmten Fächern, ihre epistemologischen Überzeugungen, aber auch ihre unterstützungsbezogenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen – etwa im Rahmen von familialen Leseförderungsprogrammen zu beeinflussen (van Steensel, McElvany, Kurvers & Herppich, 2011; Villiger Hugo, Niggli, Wandeler & Kutzelmann, 2011). Im Folgenden stehen diese psychologischen Ressourcen im Zentrum, die – wie von Bourdieu beschrieben – aus jahrelangen Erfahrungen in den jeweiligen sozialen, kulturellen und ökonomischen Opportunitätsstrukturen gewonnen wurden. Auf der Grundlage des «Modells motivations- und leistungsbezogener Sozialisation im Elternhaus» von Eccles und Kolleg*innen (vgl. Simpkins et al., 2015a, S. 617) wird die Befundlage dazu herausgearbeitet, wie ausgewählte elterliche bildungsbezogene Überzeugungen mit demografischen Charakteristika der Familie sowie mit elterlichen motivationsbezogenen Unterstützungsformen interagieren.

4.2 Charakteristika der Familie und elterliches Unterstützungshandeln – Befundlage

Obwohl antezedente Bedingungen elterlichen schulbezogenen Engagements – mit Ausnahme kindspezifischer Leistungserwartungen und Aspirationen (vgl. Abschnitt 2.2.2.4) – weit weniger im Fokus der Forschung zum parental involvement in schooling (vgl. Abschnitt 2.2) standen als dessen Konsequenzen (Pomerantz, Moorman Kim, et al., 2012, S. 433), ist man über die Jahre auch stetig der Frage nach den sozialen und psychologischen Faktoren nachgegangen, die das Handeln der Eltern positiv zu beeinflussen vermögen. Antworten auf die Frage «What drives parents’ involvement?» (Pomerantz, Moorman Kim, et al., 2012, S. 427) gelten als Schlüssel für die Konzeption der oben angesprochenen eltern- und familienbezogenen Unterstützungsprogramme und Beratungsangebote, insofern als sie Hinweise zu den Ursachen für Problemlagen im Bereich schulbezogener häuslicher Unterstützungspraktiken geben (vgl. Pomerantz et al., 2007, S. 400).

Abbildung 4.1 stellt das von Jacquelynne S. Eccles mit ihren Mitarbeitenden erstmals in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts vorgelegte «Modell motivations- und leistungsbezogener Sozialisation im Elternhaus» dar, welches bei Wigfield et al. (2006, S. 969) unter der Bezeichnung Model of parental influences on children’s motivation and achievement firmiertFootnote 6 und im Lauf der Zeit mit den Fortschritten in Theoriebildung und Befundlage sowie im Bereich statistischer Analysemöglichkeiten kontinuierlich angepasst wurde (vgl. z. B. Barber & Eccles, 1992, S. 117; Eccles, 1989, S. XY; Jacobs & Eccles, 2000, S. 416; Simpkins et al., 2015a, S. 617; Wigfield, Eccles, et al., 2015, S. 22). Es visualisiert die vor dem Hintergrund der Erwartungs-Wert-Theorie der Leistungsmotivation (vgl. Kapitel 5) als relevant erachteten Komponenten der Sozialisation im Elternhaus sowie die Pfade, auf denen diese ihren Einfluss auf das Unterstützungshandeln der Eltern (Box E, F, G) und auf die motivationale Orientierung bzw. das Lern- und Leistungshandeln des Kindes entfalten (Box H).

Wie Wigfield, Eccles, et al. (2015, S. 21–22) festhalten, sind einige Komponenten und deren Zusammenspiel mittlerweile recht breit erforscht. Das gilt insbesondere für die Beziehung exogener Faktoren (Box A und B) mit generellen elterlichen Beliefs (Box C) und/oder mit Child Outcomes (Box H). In einigen Studien werden sodann zusätzlich Aspekte des Unterstützungshandelns der Eltern (Box E, F, G) in die Analyse miteinbezogen. Im Folgenden wird der Forschungsstand zur Frage erörtert, wie sozial-strukturelle Merkmalen der Familien, generelle bildungsbezogene Überzeugungen der Eltern sowie Merkmale des Kindes das Unterstützungshandeln der Eltern beeinflussen.

Forschungsergebnisse zu kindspezifischen elterlichen Überzeugungen (Box D) – die, wie bereits in Abschnitt 2.2.2.4 bezüglich Erwartungen und Aspirationen erörtert, situativer und veränderlicher sein dürften als die generellen bildungsbezogenen Überzeugungen in Box C – und deren Zusammenspiel mit dem konkreten elterlichen Motivierungshandeln (Box G) sowie den Kontroll- und Wert-Überzeugungen des Kindes (Box H) werden in Kapitel 5 berichtet.

Abbildung 4.1
figure 1

(aus Simpkins et al., 2015a, S. 617; mit freundlicher Genehmigung von © Guilford Publications, Inc. 2020. All Rights Reserved)

Das Modell motivations- und leistungsbezogener Sozialisation im Elternhaus von Eccles et al.

4.2.1 Sozialstrukturelle Merkmale der Familie und psychologische Merkmale der Eltern

4.2.1.1 Demografische Charakteristika

Pomerantz, Moorman Kim, et al. (2012, S. 428) halten in ihren Übersichtsartikeln zum Stand der Involvement-Forschung fest, dass der sozioökonomische Status (SES)Footnote 7 (vgl. Abbildung 4.1, Box A) einer Familie generell nicht nur die Schulleistungen des Kindes prädiktiert, sondern auch die Qualität und Quantität des elterlichen Engagements in der Schule (involvement based at school, vgl. Abschnitt 2.2.1): So zeigte sich zum Beispiel nach Zahlen des amerikanischen National Center for Education Statistics aus dem Jahr 2008, dass je schlechter Eltern bezüglich ihres Einkommens und ihres Bildungsstandes gestellt seien, desto geringer die Wahrscheinlichkeit sei, dass sie an Elternabenden oder Schulbesuchstagen teilnähmen, sich an Eltern-Kind-Projekten im Unterricht beteiligten oder sich zur Wahl für Elterngremien stellten. Auch beim häuslichen schulbezogenen Engagement (involvement based at home, vgl. Abschnitt 2.2.2) sowie bildungsbezogenen Überzeugungen zeigen sich entlang des SES in den meisten Studien signifikante Unterschiede: Je tiefer Einkommen und erzielter Bildungsabschluss der Eltern sind, desto geringer fällt ihre schulbezogene Unterstützung aus und desto problematischer sind die Opportunitätsstrukturen der häuslichen Lernumgebung (vgl. Mahoney, Vandell, Simpkins & Zarrett, 2009) und die praktizierten Unterstützungsformen aus lern- oder motivationspsychologischer Sicht zu beurteilen (z. B. Davis-Kean, 2005; Englund, Luckner, Whaley & Egeland, 2004; Halle, Kurtz-Costes & Mahoney, 1997; Keith et al., 1998; Melby, Conger, Fang, Wickrama & Conger, 2008; Shumow & Miller, 2001). Etliche Studien belegen, dass dabei vor allem der Bildungsabschluss der Eltern ein signifikanter Prädiktor nicht nur für das Unterstützungshandeln und die dabei praktizierten Kommunikationsmodi (vgl. Deslandes, Potvin & Leclerc, 1999; Klebanov, Brooks-Gunn & Duncan, 1994), sondern auch für die unterstützungsbezogenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Eltern (vgl. Abschnitt 5.3.2.1), für deren schulbezogene Rollendefinition sowie die Höhe und/oder die Realitätsnähe der Leistungserwartungen sind (vgl. Alexander, Entwisle & Bedinger, 1994; Davis-Kean, 2005; Gill & Reynolds, 1998; Shumow & Lomax, 2002; Singh et al., 1995). In der Studie von Davis-Kean (2005) mit Daten der Eltern von 868 acht- bis zwölfjährigen Kindern, in der das elterliche Engagement in gemeinsames Lesen, gemeinsames Spiel (Sport, Games, Puzzles, Basteln) sowie warmes zugewandtes Elternverhalten (u. a. positive feelings, warmth, respond, praise) aufgeschlüsselt wurde und das Einkommen und der Bildungsstand der Eltern getrennt in die Analyse einflossen, zeigten sich beim Einkommen zwar kleine positive direkte Effekte auf die elterlichen Bildungserwartungen, aber keine direkten auf die drei Formen der Unterstützung. Der Bildungsgrad der Eltern hatte bei der Gruppe der European Americans, nicht aber bei den African Americans einen kleinen, aber signifikanten Einfluss auf den elterlichen Kommunikationsmodus (zugewandtes, warmes Verhalten), aber nicht auf die anderen Unterstützungsformen. Bei beiden Kohorten erwiesen sich die elterlichen Bildungserwartungen als der zentrale Prädiktor für alle drei Formen der Unterstützung, am stärksten für das gemeinsame Lesen und den Kommunikationsmodus. Damit zeigt sich konform zum Mediationsmodell in Abbildung 4.1, dass der Bildungsstand, noch stärker aber das Einkommen der Eltern, indirekt – vermittelt über ihre bildungsbezogenen Überzeugungen (Box C) – mit ihrem Unterstützungshandeln assoziiert sein können und verschiedene Formen elterlicher Unterstützung differentiell mit demografischen und sozialen Charakteristika der Eltern verbunden zu sein scheinen. Aus einer Studie von Grolnick, Benjet, Kurowski und Apostoleris (1997) mit 209 Müttern und ihren Kindern in der 4. oder 5. Klasse (über 80 % European American, je zu ungefähr einem Drittel ober-, mittel- oder unterschichtszugehörig, urbaner Kontext), die in Mehrebenenanalysen u. a. die Effekte familialer und elterlicher Variablen auf drei Formen elterlicher Unterstützung untersuchte, geht hervor, dass sich aus einer Reihe demografischer Faktoren der SES (Einkommen und Bildungsstand) auch bei Einbezug von psychografischen Merkmalen der Eltern (u. a. Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Wahrnehmung des Kindes als schwierig) als starker Prädiktor für das school involvement (z. B. Teilnehme an Elternabenden und Besuchstagen) und das cognitive involvement (kognitiv stimulierende häusliche Aktivitäten, Lernunterstützung), nicht aber für das personal involvement (elterliche Kommunikation über schulische Angelegenheiten) erwies. Demnach dürften sich Eltern gewöhnlich unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund und ihrem Bildungsstand für das schulische Leben und Wohlbefinden ihres Kindes interessieren und diese Aspekte auch regelmäßig zur Sprache bringen.

Grolnick und Slowiaczek (1994) zeigen in einer Studie mit 302 11- bis 14-jährigen Schülerinnen und Schülern und deren 18 Lehrkräfte ferner, dass verschiedene Formen der Unterstützung nicht nur mit dem Bildungsstand und dem Einkommen differenziell verbunden sein können, sondern auch mit dem Geschlecht der Eltern: So erwies sich der Bildungsstand zwar sowohl bei den Vätern als auch den Müttern als Prädiktor für deren kognitiv-intellektuelles und deren personales Unterstützungsverhalten (Autonomieförderung, Wärme und Struktur, Box E, vgl. Abschnitt 2.2.2.3), nur aber bei den Vätern für deren Engagement in der Schule (Beteiligung an Elternabenden und Schulbesuchstagen, Gespräche mit Lehrkräften).

Aus mehreren Studien geht sodann hervor, dass weitere Merkmale der beruflichen und sozialen Situation der Eltern gerade bei jenen Unterstützungsformen einen Einfluss ausüben, die ein stärkeres zeitliches Investment verlangen: Wie Green, Walker, Hoover-Dempsey und Sandler (2007) belegen, sind Eltern, die von Zeitmangel und Stress bezüglich ihrer Arbeitsstelle und/oder ihren familiären Pflichten berichten, sowohl in der Primar- als auch in der Sekundarstufe im häuslichen Bereich, aber insbesondere auch direkt in der Schule weniger involviert als andere Eltern. Dass dies gerade auf Ein-Eltern-Haushalte – meist handelt es sich konkret um Single-Mütter-Haushalte – zutrifft, belegen u. a. auch Benner, Graham und Mistry (2008): Unabhängig vom Bildungsstand der Mutter berichten Jugendliche der Sekundarstufe I aus Ein-Eltern-Haushalten über weniger schulbezogene Unterstützung als solche aus Zwei-Eltern-Haushalten (vgl. auch Deslandes et al., 1999). Auch in der oben bereits erwähnten Studie von Grolnick et al. (1997), die drei elterliche Unterstützungsformen unterscheidet, erweist sich das Merkmal Single-Mutter-Haushalt als prädiktiv, allerdings nur für school involvement, was Aktivitäten in der Schule umfasst, nicht aber für das cognitive involvement (kognitiv stimulierende häusliche Aktivitäten, Lernunterstützung) und das personal involvement (elterliche Kommunikation über schulische Angelegenheiten). Pomerantz, Moorman Kim, et al. (2012) vermuten mit Blick auf eine Studie von Sheldon (2002), die bei Kontrolle von Hintergrundfaktoren und elterlichen Überzeugungen belegen konnte, dass die Größe des sozialen Netzwerks der Eltern das Ausmaß und die Qualität deren schulbezogenen Engagements zu Hause und direkt in der Schule vorauszusagen vermag und dass gerade Single-Eltern oft nur marginal über ein solches Netzwerk mit anderen Eltern der Schule ihres Kindes verfügen. Vermutlich fehlt ihnen wiederum die notwendige Zeit zum Aufbau und zur Pflege solcher Kontakte, die das eigene Unterstützungshandeln offenbar befördern.

Zusammengefasst präsentiert sich in diesen auf psychologischen Modellen basierenden Studien das Bild, dass strukturelle Merkmale des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals von Eltern und Familien zwar mit dem elterlichen Unterstützungshandeln verknüpft sind, sich die Wirkungen dieser Merkmale aber insbesondere indirekt über die generellen und kindspezifischen elterlichen Überzeugungen und die Opportunitätsstrukturen im Umfeld des Kindes entfalten (vgl. Simpkins et al., 2015a, S. 619; Wigfield et al., 2006, S. 970). Ferner liegt die Vermutung nahe, dass diese demografischen Merkmale in komplexer Weise untereinander und mit verschiedenen Unterstützungsformen und Überzeugungen zusammenspielen (vgl. Eccles, 2007, S. 671).

4.2.1.2 Bildungsbezogene Überzeugungen der Eltern

Wie oben aber bereits deutlich wurde, müssen auch generelle bildungsbezogener Überzeugungen der Eltern (parents’ general beliefs, vgl. Abbildung 4.1, Box C) genauer in den Blick genommen werden, wenn man deren Unterstützungshandeln sowie deren Interpretation des Lern- und Leistungsverhaltens des Kindes zu verstehen versucht. Nebst wertbezogenen Überzeugungen der Eltern hinsichtlich bestimmter schulischer und außerschulischer Bildungsdomänen (v. a. Mathematik und Erstsprache bzw. Sport und Musik) standen in der bisherigen Forschung vor allem drei Gruppen genereller bildungsbezogener Überzeugungen im Fokus: Geschlechtsrollen-Stereotype, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen sowie Einstellungen gegenüber dem Lernen und Leisten (u. a. schulbezogene Rollendefinitionen von Eltern und implizite Fähigkeitstheorien und Zielorientierungen) (vgl. Gonida, Karabenick, Makara & Hatzikyriakou, 2014; Jacobs & Eccles, 2000; Pomerantz, Moorman Kim, et al., 2012; Simpkins et al., 2015a, S. 618; 2015b). Wie das Model of parental influences on children’s motivation and achievement in Abbildung 4.1 illustriert, kann davon ausgegangen werden, dass solche generellen Überzeugungen a) direkt das elterliche Unterstützungshandeln prägen (z. B. «Ich glaube, dass ich meinem Kind bei seinen Mathematikhausaufgaben kaum eine Hilfe sein kann, deshalb lasse ich es besser gleich», «Ich mag Mathematik und verwickle meine Kinder immer wieder in Rätsel von der Art jener Textaufgaben, die sie in der Schule haben»), b) auch die kindspezifischen Überzeugungen (Box D) direkt beeinflussen (z. B. «Jungen sind besser in Mathematik als Mädchen, also erwarte ich bei meinem Sohn weniger Probleme in diesem Fach als bei meiner älteren Tochter») sowie c) einen moderierenden Einfluss auf die Interpretation von Leistungsergebnissen und anderen Merkmalen des Kindes ausüben (Einfluss auf die Beziehung zwischen Box B und Box D: z. B. «Ich glaube, dass jeder Mensch ein bestimmtes Leistungspotential für ein Fach aufweist. Mein Sohn hat in letzter Zeit schlechte Noten in Mathematik nach Hause gebracht – vermutlich muss er sich damit abfinden, dass sich seine Noten nun auf diesem Niveau einpendeln»).

Einige Befunde zu den postulierten Zusammenhängen gibt es mit Bezug auf genderspezifische Überzeugungen von Eltern. So zeigen z. B. Bleeker und Jacobs (2004), dass Mütter, die glaubten, Jungen seien generell besser in Mathematik als Mädchen, tiefere Erwartungen gegenüber ihren Töchtern bezüglich mathematischer Fähigkeiten aufwiesen als Mütter, die diese Überzeugung nicht teilten. In einer weiteren Studie zeigen die beiden Forscherinnen (Jacobs & Bleeker, 2004), dass die untersuchten Eltern unabhängig von der Note des Kindes ihren Söhnen eher mathematik- oder naturwissenschaftsbezogene Spielzeuge kauften als ihren Töchtern. Demnach führen die stereotypen Überzeugungen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Begabungen dazu, dass Eltern ihren Söhnen und Töchtern unterschiedliche Opportunitätsstrukturen zum Einüben entsprechender Fertigkeiten zur Verfügung stellen – offenbar oft auch unabhängig vom Interesse der Kinder: «The gender-differentiated provision of math-related toys and activities is especially surprising in light of the fact that our regression analyses revealed that girls are significantly more interested in math and science than are boys» (Jacobs & Bleeker, 2004, S. 16). Während Jungen ein stimulierenderes Angebot an Spielzeugen zur Verfügung gestellt wurde, verhielt es sich bei der Hausaufgabenunterstützung in Mathematik allerdings gerade umgekehrt: Im Schnitt berichteten sowohl Mütter wie auch Väter von häufigeren diesbezüglichen Hilfestellungen bei Mädchen als bei Jungen. Die Autorinnen der Studie interpretieren den Befund so, dass auch hierbei die Überzeugung die Hauptrolle spielen dürfte, wonach Mädchen in dieser Domäne weniger begabt seien und deshalb mehr Hilfe benötigten (Jacobs & Bleeker, 2004, S. 16). Nebenbei stützt dies auch Befunde (Überblick bei Hoover-Dempsey & Sandler, 1995, S. 28), wonach Eltern sich stärker in der Pflicht sehen, das Kind bei Hausaufgaben zu unterstützen, wenn sie zur Überzeugung gelangen, dass ihr Kind Hilfe benötigt (Box D) – und diese mitunter gegen den Wunsch des Kindes auch aufdrängen (vgl. Jacobs & Bleeker, 2004, S. 17).

Im Anschluss an die Theorie Banduras (1997) bezeichnet der Term elterliche schulbezogene Selbstwirksamkeitsüberzeugungen das Vertrauen der Eltern in ihre Fähigkeiten, das eigene Kind erfolgreich bezüglich seiner schulischen Entwicklung zu unterstützen (vgl. auch Abschnitt 5.3.2.1). Neben dieser globalen Operationalisierung sind in der Forschung eine Reihe von spezifischeren behavioralen Aspekten des home-based- und des school-based involvements untersucht worden, auf die sich diese Kontrollüberzeugungen richten können: u. a. fachliche Schwierigkeiten im Kontext von Hausaufgaben erfolgreich beheben, motivationale Probleme des Kindes meistern, das Kind gegenüber negativen Peer-Einflüssen abschirmen, das Kind in Gesprächen mit den Lehrkräften erfolgreich unterstützen können (vgl. Eccles & Harold, 1993, S. 572; Grolnick et al., 1997, S. 542; Hoover-Dempsey & Sandler, 1997, S. 19; Shumow & Lomax, 2002, S. 128). Wie bereits oben angedeutet, korrelieren solcherlei Selbstwirksamkeitsüberzeugungen meist deutlich mit der Höhe des Schulabschlusses der Eltern (u. a. Coleman, P. K. & Karraker, 1997; Hoover-Dempsey, Bassler & Brissie, 1992; Seefeldt, Denton, Galper & Younoszai, 1998) bzw. mit der Einschätzung eigener Fähigkeiten in schulischen Domänen (Green et al., 2007): Demnach scheint zu gelten: Je länger die schulische Ausbildung der Eltern dauerte, desto wirksamer nehmen sie sich bei schulbezogenen Hilfestellungen auf der Primar- und Sekundarstufe I wahr, desto persistenter zeigen sie sich beim Unterstützen des Kindes und desto sicherer fühlen sie sich in Gesprächen mit schulischen Akteuren (vgl. Bandura, Barbaranelli, Caprara & Pastorelli, 1996; Grolnick et al., 1997; Hoover-Dempsey et al., 1992; Hoover-Dempsey et al., 2001; Seefeldt et al., 1998). Allerdings weisen die Befunde mehrerer (neuerer) Studien darauf hin, dass nach Formen des Unterstützungshandelns unterschieden werden muss: elterliche Selbstwirksamkeitsüberzeugungen erweisen sich in diesen Studien zwar als moderater Prädiktor für das Unterstützungshandeln zu Hause, aber nicht für das elterliche Engagement in der Schule (Anderson & Minke, 2007; Green et al., 2007; Hoover-Dempsey et al., 1992). In der Studie von Deslandes und Bertrand (2005) mit 770 Eltern von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I in Quebec zeigt sich neben diesem Befund ferner, dass sich bei Kontrolle von Familien- und Kindmerkmalen die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Eltern mit jedem Schuljahr als weniger prädiktiv für die Entscheidung erweisen, das Kind zu unterstützen. Während Überzeugungen bezüglich der erfolgreichen Einflussnahme bei Hausaufgaben (u. a. «I feel successful about my efforts to help my adolescent learn») erst im dritten Jahr der Sekundarstufe I keinen Beitrag mehr zur Varianzaufklärung leisten, ist dies bei Überzeugungen zum persönlichen Einfluss im Vergleich zu anderen signifikanten Akteuren (u. a. «Other adolescents have more influence on my adolescent’s motivation to do well in school than I do») bereits nach einem Jahr der Fall. Während sich explizite Einladungen durch Lehrkräfte und vor allem Anfragen des Kindes in dieser Studie durchgängig als stärkste Prädiktoren für das Engagement zeigten, erwies sich die schulbezogene Rollenkonstruktion des Elternteils – genauer deren unterstützungsbezogene Wert-Überzeugungen (z. B. «It’s important that I let someone at school know about things that concern my teenager» und «I make it my business to stay on top of things at school») lediglich in der 7. Klasse als Prädiktor für deren Engagement zu Hause und in der Schule. In der 9. Klasse, also vor dem Übertritt ins Berufsleben, prädiktierte die Rollendefinition der Eltern wieder deren Engagement, nun allerdings nur jenes in der Schule. Auch in der oben bereits erwähnten Studie von Sheldon (2002) mit 195 Müttern zur Bedeutung von elterlichen Netzwerken an der Schule wurden neben der Selbstwirksamkeit sowie der perzipierten Beteiligungserwartung anderer Eltern auch die schulbezogenen Rollenkonstruktionen der Eltern erhoben, hier jedoch über die Einschätzung elterlicher Verantwortlichkeiten (z. B. «It is parents’ responsibility to help their child understand his or her homework», «… to keep track of their child’s progress in school», oder «… to contact the teacher before academic problems»). Wie sich zeigte, erwiesen sich diese bei Einbezug von Background-Variablen, der erhobenen elterlichen Beliefs sowie Angaben zur Netzwerkgröße als starker Prädiktor für das Unterstützungshandeln zu Hause und in der Schule: Je wichtiger demnach die Eltern ihre Rolle im schulischen Kontext erachteten, desto stärker waren sie zu Hause und in der Schule des Kindes engagiert – wobei das soziale Umfeld und dessen Erwartungen vor allem beim involvement based at school von Bedeutung war. Eine Reihe anderer Studien stützen diesen Befund (vgl. Chrispeels & Rivero, 2001; Drummond & Stipek, 2004; Grolnick et al., 1997): Generell zeigt sich, dass Eltern, die sich in einer aktiven Rolle sehen, initiativer und umfassender am schulischen Leben ihres Kindes beteiligen als solche, die ihre Rolle eher als beobachtend-passiv definieren, und dass die elterlichen Rollenkonstruktionen, ähnlich wie bei der Formation von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (vgl. Abschnitt 5.3.2.1), von Erfolgserfahrungen, dem Modellverhalten vergleichbarer Eltern sowie insbesondere durch aktive Einladungen durch das Kind, die Lehrkräfte und andere Eltern beeinflusst waren (vgl. Green et al., 2007, S. 533; Hoover-Dempsey et al., 2005, S. 108; Whitaker & Hoover-Dempsey, 2013).

Pomerantz, Moorman Kim, et al. (2012, S. 429) vermuten auf der Basis einer eigenen experimentellen Studie, dass sich Überzeugungen von Eltern bezüglich der Veränderbarkeit von intellektuellen Fähigkeiten auf ihre Interpretation der Leistungen ihres Kindes (vgl. Abbildung 4.1, moderierender Einfluss von Box C auf die Beziehung zwischen Box B und D), ihre Wahl von kindspezifischen Zielen (Box B) sowie direkt auf ihr Unterstützungshandeln auswirken. Ursprünglich arbeiteten Dweck und Leggett (1988) die Bedeutung solcher «impliziter Intelligenztheorien» für Kinder heraus: Im Kontext der Goal Orientation Theory (vgl. Dweck, 1986; Nicholls, 1984) und der Attributionsforschung (vgl. Hong, Chiu, Dweck, Lin & Wan, 1999) (vgl. Abschnitt 5.3.3.1) stellten sie fest, dass die Überzeugungen der Schülerinnen und Schüler davon, wie stabil ihre eigenen intellektuelle Fähigkeiten seien, konsistent deren Zielorientierungen und deren Attributionsmuster vorhersagten. Diejenigen, die eine Stabilitätstheorie (entity theory of intelligence) vertraten und intellektuelle Fähigkeiten als von Geburt an fixierte und unkontrollierbare Eigenschaft begriffen, wiesen in der Regel eine performance goal orientation auf und waren darauf bedacht, sich vor anderen als kompetent zu erweisen (bzw. die vermeintlichen Defizite nicht manifest werden zu lassen). Ebenso tendierten sie dazu, ihre Misserfolge mit einem Mangel an Talent zu erklären. Diejenigen Kinder, die demgegenüber eine Veränderbarkeitstheorie (incremental theory of intelligence) vertraten und meinten, dass Intelligenz eine wandelbare, nicht zum Vornherein festgelegte und somit eine willentlich steigerbare Größe sei, wiesen in der Regel eine mastery goal orientation auf, waren darauf fokussiert, die eigenen Kompetenzen in der jeweiligen Domäne zu verbessern und tendierten dazu, Misserfolge auf fehlende Anstrengung und mangelhafte Vorgehensweisen zurückzuführen (vgl. Blackwell, Trzesniewski & Dweck, 2007; Dweck & Leggett, 1988; Hong et al., 1999):

Although both entity and incremental theorists may see ability and effort as relevant causes of performance, the implicit theory they hold may orient them to assign unequal weights to these causes. Whereas entity theorists would weight ability relatively more heavily, incremental theorists would view effort as relatively more important. In the face of failure, incremental theorists would then be more likely than entity theorists to exert effort to remedy the skills they lack. (Hong et al., 1999, S. 589)

Analog dazu nahmen bereits Hoover-Dempsey und Sandler (1995) an, dass auch das schulbezogene Unterstützungshandeln der Eltern in starkem Maß davon beeinflusst sei, ob sie ein incremental mindset oder ein entity mindset aufwiesen:

Incremental theorists’ learning goals would motivate them to increase the child’s competence as well as their own. These goals would enable parents to focus on gaining new ideas about hel** children, maintain relative openness about their own perceived shortcomings, construe errors and difficulties (their own and their children’s) as part of a learning process, and to encourage children not only to do the work assigned but to think about the issues and principles underlying specific assignments-that is, reaching toward higher levels of competence. (Hoover-Dempsey & Sandler, 1997, S. 24)

Hoover-Dempsey und Sandler (1997) vermuteten also nicht nur positive Effekte einer impliziten Veränderbarkeitstheorie auf die elterliche Motivation sich zu engagieren – die damit einhergehende Mastery-Zielorientierung macht dies wahrscheinlich –, sondern auch günstige Effekte auf deren konkretes motivationsbezogenes Unterstützungsverhalten (u. a. beim Kind auf eine Mastery-Zielorientierung hinwirken, auf die Bedeutung von Anstrengung und Lernstrategien hinweisen und ihm gegenüber gerade so viel Hilfestellung leisten wie notwendig, vgl. Abschnitt 2.2.2.3) sowie produktive Effekte auf deren eigene diesbezügliche KompetenzentwicklungFootnote 8. Demgegenüber vermuteten sie, dass Eltern mit einer impliziten Stabilitätstheorie aufgrund ihrer performance goal orientation wichtig sein dürfte, dass das eigene Kind in Leistungssituationen seine Kompetenz beweist und keine Schwächen zeigt bzw. diese verbirgt. Entsprechend problematisch dürfte deren Unterstützungshandeln gerade dann ausfallen, wenn sie Probleme im schulbezogenen Handeln des Kindes wahrnehmen. Ihr Motivierungshandeln dürfte eine deutliche Fokussierung auf das Leistungsereignis bzw. dessen Ergebnis aufweisen, eher kontrollierend-invasiv ausfallen und von sichtbarem Frust und Ungeduld begleitet sein – nicht zuletzt bei denjenigen, die sich selber als hilflos wahrnehmen, weil sie sich selber eine tiefe Kompetenz hinsichtlich schulischer Belange zuschreiben. Ebenso kann vermutet werden, dass gerade diese Eltern in der Logik ihres entity mindsets eher darauf bedacht sein könnten, ihre missliche Situation gegenüber schulischen Akteuren zu verbergen (vgl. Hoover-Dempsey & Sandler, 1997, S. 25).

Yamamoto und Holloway (2010) machen in ihrem Forschungsüberblick ferner auf die Auswirkungen der beiden mindsets auf das elterliche Attributionsverhalten bei Erfolgen und Misserfolgen des Kindes aufmerksam:

Parents who attribute achievement outcomes primarily to ability or intelligence expect performance to be stable because ability tends to be viewed as a stable entity that is difficult for the individual to change […]. For parents with this belief system, past performance is likely to be seen as a reliable indicator of future attainment. Those who believe that students’ effort – a more controllable and unstable commodity – is the primary cause of achievement are more likely to think that future performance can potentially be different from that of the past if the student changes the amount of effort they put into their schoolwork. (Yamamoto & Holloway, 2010, S. 197)

Es ist plausibel anzunehmen, dass die implizite Intelligenztheorie der Eltern nicht nur die Ursachensuche bei eigenen Erfolgen und Misserfolgen beeinflusst, sondern auch die Interpretation des Leistungshandelns des Kindes. Die von den elterlichen mindsets geformten Kausalattributionen dürften nicht nur die kindspezifischen Leistungserwartungen, Ziele und Aspirationen der Eltern (Abbildung 4.1, Box D) beeinflussen, sondern dem Kind in gemeinsamen Gesprächen auch explizit mitgeteilt bzw. implizit über Gesten der Anerkennung oder über Frustrationsbekundungen übermittelt werden (vgl. Abbildung 4.1, Box G) und so dessen eigene Ursachenzuschreibung und Kontrollüberzeugungen beeinflussen (vgl. Abschnitt 5.3).

Anders als bei Schülerinnen und Schülern (Überblick bei Wigfield, Eccles, et al., 2015, S. 6–7, 11–13), wurden die Auswirkungen impliziter Intelligenztheorien und Zielorientierungen von Eltern auf ihr Handeln erst sporadisch erforscht. In der oben angesprochenen Studie forderten Moorman und Pomerantz (2010) 79 Mütter auf, verschiedene Problemlöseaufgaben mit ihren Grundschulkindern zu meistern. Vorab wurde rund die Hälfte der Mütter mit vermeintlichen Forschungsbefunden zur Unveränderbarkeit von intellektuellen Fähigkeiten bekannt gemacht und die andere Hälfte mit ausführlichen Informationen über deren Veränderbarkeit versorgt. Die solcherlei induzierten incremental mindsets oder entity mindsets der Mütter zeigten die vermuteten Effekte während des gemeinsamen Problemlösens: Mütter mit einer Stabilitätstheorie ließen während der Problembearbeitung deutlich ein Elternverhalten erkennen, das Moorman und Pomerantz (2010, S. 1357) als «nicht-konstruktiv» erachten: Ihr Verhalten war stärker performanz-orientiert (u. a. «demonstrating how to solve the problems but not teaching children how to do so»), deutlicher kontrollierend-invasiv (u. a. «regulate children’s behavior through such practices as directives, commands, orders […], or taking over») und klarer mit dem Ausdruck negativer Emotionen («frustration, annoyance, hostility, or negative feedback») verbunden als dasjenige von Müttern mit einer Veränderlichkeitstheorie. Die Befunde deuten darauf hin, dass vor allem jene Kinder und Jugendlichen eine problematische Konstellation vorfinden, deren Eltern über ein entity mindset verfügen, und von diesen als defizitär hinsichtlich ihrer schulischen Kompetenzen wahrgenommen werden und/oder selbst geringe schulbezogene Kontroll-Überzeugungen aufweisen. Wie in Abschnitt 5.3 noch zu zeigen sein wird, sind es gerade diese Kinder, die vermehrt auf motivationale Probleme beim selbstregulierten häuslichen Lernen stoßen und entsprechend auf Unterstützungsformen der Eltern angewiesen wären, die selbstzugeschriebene Erfolge ermöglichen und von Verständnis und Ermutigungen geprägt sind. Studien, die auf Zielorientierungen der Eltern fokussieren, bestätigen die vermuteten Zusammenhänge: Eltern, die für ihr Kind eine performance goal-orientation hegen, engagieren sich seltener bei mathematik- und lesebezogenen Aktivitäten zuhause und zeigen sich beim gemeinsamen Arbeiten eher kontrollierend-invasiv und gestresst. Eltern, die eine mastery goal orientation aufweisen, betonen demgegenüber die Bedeutung von Anstrengung (vs. Begabung), engagieren sich häufiger bei schulbezogenen häuslichen Aktivitäten und zeigen sich dabei eher autonomieförderlich, strukturgebend und emotional-zugewandt (vgl. Abbildung 4.1, Box E) (vgl. Aunola, Nurmi, Onatsu‐Arvilommi & Pulkkinen, 1999; Kinlaw, Kurtz-Costes & Goldman-Fraser, 2001; Muenks, Miele, Ramani, Stapleton & Rowe, 2015; Stipek, Milburn, Clements & Daniels, 1992).

Zusammengefasst präsentiert sich bezüglich genereller bildungsbezogener Überzeugungen der Eltern das Bild, dass die Forschung mit den hier erörterten Konstrukten eine Reihe von relevanten Größen identifiziert hat, die einen Beitrag zum Verstehen davon leisten, wie Eltern das schulbezogene Handeln ihrer Kinder – ebenso wie Einflussnahmen von Lehrkräften (vgl. Green et al., 2007) und anderen Personen ihres näheren sozialen und kulturellen Umfelds – interpretieren und wie sie ihrerseits versuchen, Einfluss auf die Motivation und das Lern- und Leistungsverhalten des Kindes zu gewinnen. Dabei wurde aber augenfällig, dass bis anhin querschnittlich angelegte Studien mit entsprechend korrelativen Verfahren überwiegen und es kaum längsschnittliche sowie experimentelle Studien gibt, die über die Richtung der Einflüsse Auskunft geben könnten (vgl. Pomerantz, Moorman Kim, et al., 2012, S. 433). Auch gibt es wenige Studien, die mehrere der hier erläuterten Beliefs gemeinsam in ihrem Zusammenspiel mit Merkmalen des Kindes und verschiedenen Formen des Unterstützungshandelns in den Blick nehmen (vgl. Yamamoto & Holloway, 2010, S. 208). Ferner wurde deutlich, dass europäische bzw. im deutschen Sprachraum entstandene Studien zu den genannten generellen bildungsbezogenen Überzeugungen bislang weitgehend fehlen und die Befundlage mit wenigen Ausnahmen auf die soziale und kulturelle Situation in den USA beschränkt bleibt.

4.3 Ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen der an der Studie beteiligten Familien

Zum Abschluss dieses Hauptkapitels richtet sich die Aufmerksamkeit wiederum auf die 20 Elternteile, deren Motivierungshandeln in der vorliegenden Studie untersucht wurde. Nachdem in Abschnitt 3.3 bereits deren kindbezogene Einschätzungen und Überzeugungen – namentlich deren kindspezifische Zuteilungserwartungen und Aspirationen – thematisiert wurden (vgl. Tabelle 3.2), welche sich im «Modell motivations- und leistungsbezogener Sozialisation im Elternhaus» der Box D (Parents’ child-specific beliefs) zuordnen lassen (vgl. Abbildung 4.1), so wird nun mit Hilfe einer Reihe von Datenpunkten die Ressourcenlage der Elternteile und ihrer Familien klarer umrissen. Konkret werden Merkmale der Elternteile (vgl. Tabelle 4.1 und Tabelle 4.5), ihrer Partnerinnen und Partner (vgl. Tabelle 4.2), der ganzen Familie (vgl. Tabelle 4.3) sowie der Kinder (vgl. Tabelle 4.4) dargestellt, die sich im Modell von Eccles und Kolleg*innen (vgl. Abbildung 4.1) in der Box A (Parent and family characteristics), in der Box B (Child characteristics) sowie in der Box C (Parents’ general beliefs) verorten lassen und somit mehr oder weniger direkt auf das Motivierungshandeln der Elternteile ausgewirkt haben dürften. Die Mehrheit dieser Daten wurde im Rahmen des qualitativen Projektteils der TRANSITION-Studie mit Hilfe eines Kurzfragebogens erhoben, den die teilnehmenden Elternteile im Anschluss an den ersten Interviewtermin (Interview G1, vgl. Abbildung 6.1) im November 2008 ausgefüllt hatten. Daten zur sozialen Position der Familien wurden im Rahmen der Zürcher Längsschnittstudie (vgl. Angelone, Keller & Moser, 2013; Moser, Buff, Angelone & Hollenweger, 2011; Moser & Hollenweger, 2008; Moser, Stamm & Hollenweger, 2005), in die sich die TRANSITION-Studie eingliederte (vgl. Kapitel 6), mittels eines Elternfragebogens zum Zeitpunkt der ersten Lernstandserhebung im Jahr 2003 ermittelt. Die Angaben zu den subjektiven Fähigkeitstheorien der Elternteile (vgl. Tabelle 4.5) entstammen sodann dem Eltern-Datensatz der ersten Erhebungswelle vom Herbst 2008 des quantitativ ausgerichteten Projektteils der TRANSITION-Studie (vgl. Dinkelmann, Buff, Steiner & Reusser, 2013)Footnote 9.

Tabelle 4.1 Charakteristika der an der Studie teilnehmenden Elternteile
Tabelle 4.2 Charakteristika der nicht an der Studie teilnehmenden Elternteile («Partner*innen»)
Tabelle 4.3 Charakteristika der Familien
Tabelle 4.4 Charakteristika des Kindes
Tabelle 4.5 Generelle bildungsbezogene oder spezifisch kindbezogene Überzeugungen der teilnehmenden Elternteile

In der sich über acht Monate erstreckenden Erhebungszeit wurde im qualitativen Projektteil der TRANSITION-Studie jeweils derjenige Elternteil befragt, den die Eltern zu Beginn der Erhebungszeit als denjenigen benannt hatten, der im Verlauf des vorangegangenen Jahres stärker in das häusliche schulbezogene Lernen des Kindes involviert gewesen war (vgl. Abschnitt 6.2). Wie Tabelle 4.1 offenbart, waren dies mit Ausnahme der Väter M11, V12 und Z22 bei den allermeisten Familien die Mütter. 14 Elternteile gaben im studieninternen Fragebogen Schweizerdeutsch als Muttersprache an, die Mütter D11, S11, H11, R11 und Z11 sowie der Vater M11 wiesen eine andere Erstsprache auf. Auch diese Elternteile fühlten sich des Deutschen oder Schweizerdeutschen so mächtig, dass sie an den Interviews ohne Übersetzer*in teilnehmen konnten.

Alle Mütter gaben im studieninternen Fragebogen mindestens als zweite Berufsbezeichnung «Hausfrau (und Mutter)» an. Wie Tabelle 4.1 verdeutlicht, geht lediglich die Mutter R12 zum Zeitpunkt der Befragung keiner außerhäuslichen beruflichen Tätigkeit nach, sondern war auf Stellensuche. Mutter D12 war während der Erhebungszeit mit einer Weiterbildung beschäftigt, die unter der Woche mit täglichen Präsenzzeiten in einem Institut verbunden war. Die drei Mütter D11, Z12 und Z31 besaßen je eine eigene kleine Firma ohne Angestellte im Körperpflege- oder Therapiebereich. Bei den drei teilnehmenden Vätern war M11 zum Erhebungszeitpunkt auf Stellensuche, V11 beruflich selbständig und Z22 leitete ein Team von zehn Mitarbeitenden. Mit Ausnahme des Vaters V12 (landwirtschaftlicher Sektor), arbeiteten alle im Dienstleistungssektor: als Pfleger*in, Therapeut*in oder medizinische(r) Praxisassistent*in, als Kellner*in, als Friseur*in, als Sachbearbeitende, als Produktionsassistent*in, als Techniker*in, als Verkäufer*in oder Verkaufsberater*in, als Katechet*in oder Sozialarbeiter*in. Die vier Elternteile S12, V12, Z12 und Z22 arbeiteten in einem Vollzeit-Pensum, die anderen berufstätigen Elternteile gingen wöchentlich zwischen 4 und 30 Stunden einer außerhäuslichen Beschäftigung nach (M = 21.8 Stunden, SD = 13.9 Stunden). Insgesamt waren elf der 20 teilnehmenden Elternteile unter 20 Stunden außerhäuslich beschäftigt, was in der Schweiz üblicherweise einer Teilzeitbeschäftigung mit einem Arbeitspensum von weniger als 50 % entspricht (Elternteile D11, D12, S11, M11, M12, R11, R12, S11, S12, Z31, Z32). Fünf Elternteile (H11, H12, V11, Z11, Z21) waren zwischen 50 und 100 % außerhäuslich beschäftigt.

14 Elternteile hatten eine Berufslehre absolviert, wobei Vater V12 seine Ausbildung mit einer Meisterprüfung abgeschlossen hatte. Die Mütter D11 und V11 hatten ihre berufliche Ausbildung im Rahmen eines Studiums an einer höheren Fachschule bzw. einer Fachhochschule abgeschlossen. Die vier Elternteile S11, H11, M11 und Z32 verfügten über keine formale berufliche Ausbildung, sondern wurden über innerbetriebliche Kurse (Mutter S11) oder on the job angelernt. Wirft man einen Blick auf die Daten zur Schulbildung, so zeigt sich, dass lediglich die beiden Elternteile D11 und V22 in der Sekundarstufe I einen Bildungsgang besucht hatten, der ihnen später Zugang zu einer Hochschule ermöglichte bzw. ermöglicht hätte. V22 hat in der Schweiz das Langgymnasium besucht, welches er mit der Matura abgeschlossen hat. Danach hat er eine Berufslehre sowie besagte Ausbildung zum Meister absolviert. D11 hat in einem westeuropäischen Land einen Schultyp besucht, der nach dem Abschluss den Zugang zur Fachhochschule ermöglicht. In einer solchen hat sie in ihrem Herkunftsland anschließend eine medizinisch-therapeutische Ausbildung gemacht und abgeschlossen. Neun Elternteile haben eine Sekundarschule mit Grundansprüchen besucht (in Tabelle 4.1 als «Sekundarschule B» oder als «Sek (B) im Herkunftsland» bezeichnet). Es sind dies die Elternteile S12, M11, M12, S12, Z11, Z21, Z22, Z31, Z32). Die neun Elternteile H11, H12, R11, R12, S11, Z12, D12, S11, V11 haben eine Sekundarschule mit erweiterten Ansprüchen (in Tabelle 4.1 als «Sek A» oder als «Sek A im Herkunftsland» bezeichnet) besucht.

Zwei Elternteile bezeichneten sich im studieninternen Fragebogen als «alleinerziehend». Einerseits ist dies die zur Erhebungszeit stellenlose Mutter R12, andererseits die Mutter H12, die während 30 Wochenstunden außerhaus arbeitet und währenddessen ihre drei Kinder von den in der Nachbarschaft lebenden Tageseltern betreuen lässt.

Falls der Partner bzw. die Partnerin ebenfalls im gleichen Haushalt wohnte, haben die teilnehmenden Elternteile im studieninternen Fragebogen auch Auskunft über dessen bzw. deren kulturelle Herkunft sowie bildungsbezogene und berufliche Situation Auskunft gegeben.

Wie Tabelle 4.2 illustriert, ist bei einer fehlenden Angabe (der alleinerziehenden Mutter R12) Schweizerdeutsch bei acht Partnern nicht die Erstsprache: Die Väter S11, S11, S12, V11 und Z21 sprechen eine Sprache südeuropäischen Ursprungs, der von der Familie getrennt lebende Vater H12 wurde in einer südostasiatischen Sprache, die Mutter M11 in einer nahöstlichen Sprache und der Vater R11 in einer anderen mitteleuropäischen Sprache sozialisiert. Damit haben die Eltern in sechs Familien eine unterschiedliche Erstsprache (D11, H11, H12, S11, S12, V11). In vier weiteren Familien sprechen beide Elternteile nicht Schweizerdeutsch als Erstsprache (S11, M11, R11, Z21). Mit Ausnahme der Familie M11, in der nur die Erstsprache der Eltern gesprochen wird, kommunizieren die Eltern in allen Familien sowohl in der Erstsprache als auch in Deutsch bzw. Schweizerdeutsch mit ihren Kindern.

Von den Partnerinnen und Partnern waren zum Erhebungszeitpunkt lediglich der Vater R11 stellenlos und meist zuhause. Als Hausfrauen ohne Zweitstelle waren auch die beiden Mütter M11 und Z22 zuhause anwesend. Die übrigen Partnerinnen und Partner waren fast ausnahmslos in Vollzeitpensen außerhaus tätig: Die Mutter V12 im land- und forstwirtschaftlichen Sektor, die Väter D11, S12, M12 und Z21 im industriellen und handwerklichen Wirtschaftssektor, die beiden Väter D12 und Z12 im Staatsdienst und die neun Väter S12, H11, H12, S11, S12, V11, Z11, Z31 und Z32 im Dienstleistungssektor. Konkret waren die Partnerinnen und Partner als Sacharbeiter*in, Projektleiter*in, als Polizist*in, Fluglotse/Fluglotsin, Gebäudereiniger*in, Werbetexter*in, Informatiker*in, Auto- oder Feinmechaniker*in, Kaufmann bzw. Kauffrau, Bauer bzw. Bäuerin und Elektriker*in außerhäuslich beschäftigt. Die fünf Väter D11, H12, S11, V11, Z11 besitzen ihre eigene Firma, die Mutter V12 führt mit ihrem Mann zusammen einen Betrieb.

Zehn Partnerinnen und Partner (D11, D12, M12, V11, V12, Z11, Z12, Z22, Z31, Z32) haben eine Berufslehre absolviert. Der Vater D11 hat seine Ausbildung mit einer Meisterprüfung abgeschlossen, die Väter S11, S12, H11 und Z12 verfügen über den Abschluss einer höheren Fachschule, der Vater R11 hat ein Studium an einer Fachhochschule abgeschlossen und der Vater S11 eines an einer Universität in seinem Herkunftsland. Die zwei Väter S12 und Z21, beide mit Migrationshintergrund, haben an firmeninternen Ausbildungsgängen teilgenommen. Über keine berufliche Ausbildung verfügen die Väter H12 und V11, die beide einen eigenen Betrieb führen, sowie die Mutter und Hausfrau M11. Alle drei Personen haben einen Migrationshintergrund. Der insgesamt besseren beruflichen Ausbildung der Partner und Partnerinnen ging bereits eine im Schnitt leicht anspruchsvollere schulische Grundausbildung der mehrheitlich Männer umfassenden Gruppe voraus: Die beiden Väter R11 und V11 haben im Herkunftsland ein Gymnasium besucht, die sechs Väter D11, D12, S11, H11, Z22, Z31 sowie die Mutter V12 haben eine Sekundarschule mit erweiterten Ansprüchen abgeschlossen (in Tabelle 4.2 als «Sek A» bezeichnet). Eine Sekundarschule mit Grundansprüchen haben die acht Väter S12, M12, S12, V11, Z11, Z12, Z21 sowie Z32 absolviert. Der Vater H11 und die Mutter M11 haben in ihrem Herkunftsland lediglich die Grundschule besucht.

Insgesamt gibt es in der Stichprobe somit vier Familien, in denen mindestens ein Elternteil über eine Matura oder einen äquivalenten Abschluss der Sekundarstufe II verfügt: D11, R11, S11 und V12. Die Väter der Familien D11 und V12 weisen zudem eine höhere Fach- oder Berufsausbildung auf. Die Mutter D11, der Vater R11 sowie der Vater S11 haben ein Fachhochschul- oder ein Universitätsstudium abgeschlossen. In neun Familien (D12, S11, H11, H12, R11, V11, Z12, Z22 und Z31) hat mindestens ein Elternteil eine Sekundarschule mit erweiterten Ansprüchen («Sek A») besucht. In sieben Familien (S12, M11, M12, S12, Z11, Z21 und Z32) ist eine Sekundarschule mit Grundansprüchen («Sek B») der höchste Bildungsgang, den die beiden Elternteile im Rahmen ihrer regulären Schulzeit besucht haben. Mit Ausnahme der Familie M11, die aus einem Kriegsgebiet des Nahen Ostens in die Schweiz geflüchtet ist, hat in allen Familien wenigstens ein Elternteil mindestens eine firmeninterne Ausbildung, meist aber eine Berufslehre absolviert.

Tabelle 4.3 illustriert weitere Charakteristiken der teilnehmenden Familien. Deren sozioökonomische Situation wurde bereits im Rahmen der Zürcher Längsschnittstudie (vgl. Angelone et al., 2013; Moser et al., 2011; Moser & Hollenweger, 2008; Moser et al., 2005) über einen Elternfragebogen erhoben. Als Indikator für das ökonomische Kapital der rund 2000 an dieser Studie teilnehmenden Familien wurde die Wohnungsgröße (Anzahl Zimmer ohne Bad und Küche) durch die Anzahl der Mitglieder des Haushalts dividiert. Das kulturelle Kapital wurde über die höchste Schulbildung der beiden Elternteile sowie die Anzahl Bücher im Haushalt ermittelt. Mittels einer z-Transformation wurde aus diesen Indikatoren ein Index gebildet, welcher zur besseren Interpretation entlang der Quartile in gleich große Gruppen unterteilt wurde. Die vier Gruppen beschreiben die Lernvoraussetzungen, welche die Kinder in ihren Familien vorfanden (vgl. Moser & Hollenweger, 2008, S. 132–133). Aus dem Sample der 20 in der vorliegenden Studie im Fokus stehenden Familien finden sich im ersten Quartil, das «sozial benachteiligende Lernvoraussetzungen» beschreibt, die beiden im gleichen Ort wohnhaften Familien M11 und M12. Im zweiten Quartil, demjenigen «sozial eher benachteiligender Lernbedingungen», befinden sich die acht Familien D12, H12, R12, S12, Z12, Z21, Z31 und Z32. Im dritten Quartil, demjenigen «eher privilegierter Lernvoraussetzungen», ordnen sich die sechs Familien S11, S12, H11, V11, Z11 und Z22 ein und im vierten Quartal mit «privilegierten Lernvoraussetzungen» die vier Familien D11, R11, S11, V12. Mit anderen Worten befindet sich die Hälfte der untersuchten Kinder mit Blick auf die bildungsbezogenen Sozialisationsbedingungen in einer günstigen und die andere Hälfe in einer eher ungünstigen Lage.

Die kulturelle Vielfalt, die sich in der sprachlichen Situation in den Familien schon offenbarte, widerspiegelt sich auch in den im studieninternen Fragebogen erhobenen Daten zu Migrationserfahrungen in den Familien. Bei der Hälfte der teilnehmenden Familien sind beide Elternteile und das Kind in der Schweiz geboren (D12, S12, M12, R12, V12, Z11, Z12, Z22, Z31, Z32), bei weiteren acht Familien ist ein Elternteil im Ausland geboren (D11, S11, H11,H12, S11, S12, V11, Z21) und bei zwei Familien sind beide Elternteile und das Kind nach dessen Geburt in die Schweiz eingewandert (M11, R11). Die Familien D11, D12, M11, M12, R11, R12 sowie S11 und S12 leben in steuergünstigen Gemeinden in Stadtnähe, die eine multiethnische Wohnbevölkerung sowie viele z. T. international tätige Dienstleistungsunternehmen aufweisen. Die Familien E11, E12 sowie die Familien Z11, Z12, Z21, Z22, Z31 und Z32 leben dahingegen in eher ländlichen Gemeinden mit einer verhältnismäßig hohen Steuerquote, die in einem größeren Radius um die Stadt Zürich liegen und nebst einem hohen Anteil an kleineren und mittleren Industriebetrieben auch große landwirtschaftlich genutzte Zonen besitzen. Die Familien H11, H12 sowie V11 und V12 leben, wenn auch nicht in unmittelbarer Zentrumsnähe, so doch innerhalb der Grenzen der Stadt Zürich in einem urbanen Umfeld.

Wie Tabelle 4.4 zeigt, waren die Kinder, je zehn Mädchen und zehn Jungen, zu Studienbeginn im Schnitt knapp 12 Jahre alt (M = 144.5 Monate, SD = 4.0 Monate). 13 Kinder (D11, D12, S11, S12, H11, R12, S11, S12, V12, Z12, Z21, Z22 und Z31) hatten ein Geschwister, vier Kinder (H12, V11, Z11 und Z32) hatten zwei Geschwister, der Junge M11 hatte vier Geschwister und die Kinder M12 und R11 waren Einzelkinder. Zwölf Kinder hatten ältere Geschwister, die ihre Erfahrungen mit dem Übertritt in die Sekundarstufe I in die Familie tragen konnten: D11, D12, S11, M11, R12, V11, Z11, Z12, Z21, Z22, Z31 und Z32.

Der Leistungsstand des Kindes in den Hauptfächern Mathematik und Deutsch ist eine Größe, die das schulbezogene Denken und Handeln der Eltern gerade im Kontext des Übertritts stark beeinflussen dürfte (vgl. Abbildung 4.1, ebenso Abschnitt 3.1). In Tabelle 4.4 sind die diesbezüglichen Notenwerte des letzten Zeugnisses vor dem Übertrittsentscheid dargestellt, welches die Kinder Ende Januar 2009 innerhalb der Erhebungszeit erhalten haben (vgl. Abschnitt 6.1). In Mathematik bewegen sich die Zeugnisnoten zwischen 3.5 und 5.0 und liegen im Schnitt etwas über der 4.0 (M = 4.2, SD = 0.5). Ungenügend sind die Kinder D11, R12, Z11 und Z12. Notenwerte von 5.0 weisen die beiden Kinder S12 und V11 auf. Im Fach Deutsch bestehen die Zeugnisnoten der 20 Kinder entweder aus einer 4.0 (bei den Kindern M11, M12, V12, Z12 und Z32) oder einer 4.5 (übrige 15 Kinder) (M = 4.4, SD = 0.2)Footnote 10.

Körperliche Merkmale des Kindes, die sich direkt lernhinderlich oder solche die sich wegen den damit verbundenen Schmerzen indirekt leistungsschwächend auswirken, dürften weitere Faktoren sein, die die kindspezifischen Überzeugungen der Eltern sowie ihr Unterstützungshandeln unmittelbar beeinflussen (vgl. Abbildung 4.1). In den Interviews G1 und G2 (vgl. Abschnitt 6.1) thematisierten fünf Elternteile solche lernbeeinträchtigenden körperlichen Merkmale ihres Kindes, die zum Zeitpunkt des Übertrittsverfahrens gemäß ihren Aussagen allerdings in unterschiedlichem Maß virulent waren. Die Mutter D11 berichtet im Interview G1 ausführlich über die ADS-Problematik ihrer Tochter und die Anzeichen von Schulverweigerung, die ihre Tochter in den vorangegangenen Jahren gezeigt hatte:

  • D11: Unsere Tochter ist ein ADS-Kind. Das wurde eigentlich erst in ihrem 9. Lebensjahr nachgewiesen. Wir haben eigentlich immer gewusst, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie hat ein ADS mit einer sehr großen sozialen Komponente, das heißt, dass sie sich in großen Gruppen sehr schlecht bewegen kann. Und wir wissen das seit dem Ende ihres 9. Lebensjahres, das ist noch nicht so wahnsinnig lange. Und dann ist sie noch in der Schule in eine ganz unruhige Gruppe gekommen, was natürlich ihr Lernverhalten enorm beeinträchtigt. Und seit sie zehn Jahre alt ist, haben wir eine Psychologin, die sie betreut. Und schulisch wird sie eigentlich auch erst im Notfall Betreuung bekommen. Sie hat mehr IF-Stunden [IF = Individuelle Förderung] gehabt. […]

  • Und sonst, kann es für K01 von der einen zur anderen Stunde sehr verschieden aussehen. Sie kann wochenlang mit Freude in die Schule gehen und dann nach Hause kommen und sagen: «Ich gehe da nicht mehr hin!».

  • I: Was ist denn der Grund, wenn so was passiert? 00:18:01–8

  • D11: Sie hat einen menschlichen Konflikt, wenn sie dann manchmal doch wieder aus der Gruppe gestoßen wird, was sie dann trotzdem trifft. Oder dass sie etwas versucht hat, das misslingt. Dass sie denkt, sie kann mitmachen, und dann rausgeworfen wird. Enttäuschungsreaktion. Aber es ist auch schon mal vorgekommen, dass die Lehrerin die Ursache war, dass sie ihr etwas vorgeworfen hat, vielleicht etwas unüberlegt, und K01 das sehr persönlich auffasst. Und sie ist dann tatsächlich kaum in die Schule zu bekommen, bis es sich wieder etwas gelegt hat.

  • I: Und was heißt das, wie muss ich mir das vorstellen, dass sie kaum mehr in die Schule zu bringen ist?

  • D11: Dass sie dann nach Hause kommt und nicht mehr wegwill. 00:18:41–8

  • I: Und Sie müssen sie dann am nächsten Tag überreden oder- 00:18:47–4

  • D11: Nein, so dass ich sie beinahe mit Gewalt unter den Arm nehmen und sagen muss: «Das ist nicht der richtige Weg, zu fliehen!» Und sie ist schon ein bisschen ein Fluchttier. Das haben wir in der Schule mittlerweile geregelt. Weil das war letztes Jahr- sie war zweimal einfach verschwunden. Und sie findet hier in der Umgebung zum Glück immer Unterschlupf. Ich bin nämlich auch zum Teil berufstätig und nicht immer zu Hause. Unsere Kinder haben keine Schlüssel, weil ich das nicht eine gute Lösung finde. Und sie ist dann zweimal bei einer Nachbarin aufgekreuzt. Dieses Jahr ist sie tatsächlich auch einmal am Morgen um elf Uhr- nein nach der Zehn-Uhr-Pause nach Hause geflüchtet und hat niemanden zu Hause vorgefunden. Zum Glück hat sie zu einer Nachbarin nach Hause gefunden und eine Stunde später bin ich dann auch nach Hause gekommen. Und sie hat mich dann auch angerufen. Da wollte sie dann nach dem Mittag überhaupt nicht mehr zur Schule gehen. Da musste ich tatsächlich durchgreifen (lacht), aber mit einem Kind, das fast schon so groß ist wie du selbst, ist es schwierig. Danach haben wir dann ein Schulgespräch gehabt und nun hat sie Fluchtpersonen, das heißt, dass sie zur Schulleiterin oder zum Schulsozialarbeiter kann. […] (Interview G1, 00:21:00)

Die Mutter M12 berichtet von den gelegentlich auftauchenden entzündlichen Gelenkschmerzen ihres Sohnes, die von einer Juvenilen idiopathischen Arthritis herrühren und mit großen Schmerzen verbunden sind:

  • M12: Im Moment läuft es wieder recht gut, ich bin sehr erstaunt, also, also unser Sohn hat ja eine leichte Form von Arthritis und das hat ihn vor dem letzten Jahr, da hat er ganz starke Schübe gehabt und dann ist es in der Schule recht runtergegangen. Er hat dann viel verpasst, bis wir es dann endlich kapiert haben- weil sie haben immer gesagt, das seien Wachstumsstörungen und- bis ich dann selber mal gefunden habe, jetzt ist fertig. Dann sind wir ins Kinderspital gefahren und dann ist es also recht – er ist sehr ein guter Schüler gewesen, ein bombastischer Schüler. Von da an ist es abwärts gegangen, und jetzt kommt es wieder, jetzt macht er gute Noten, jetzt auf einmal hat er wieder wie den Knopf aufgemacht, jetzt wissen wir auch mit dieser ganzen Krankheitsgeschichte oder- ja, jetzt leben wir einfach damit, nicht wahr.

    I: Also es hat sich nicht verändert, jetzt geht es ihm einfach sonst in der Schule besser, obwohl die Arthritis immer noch da ist?

  • M12: Ja, das ist natürlich schon da oder, es geht natürlich nicht, es geht wahrscheinlich nie weg, nicht wahr. […] (Interview G1, 00:10:24)

Die Mutter S12 berichtet von der diagnostizierten Lese-Rechtschreibstörung ihres Sohnes. Sie meint allerdings, dass diese zum Zeitpunkt des Übertritts kaum mehr handlungshinderlich sei. Der Ausschnitt stammt aus dem Interview G2, zum Zeitpunkt als klar war, dass ihr Sohn in die Abteilung B eingeteilt wird:

Als ein Thema war, das war in der zweiten Klasse, als man uns sagte, dass wir unseren Sohn abklären lassen müssten wegen Legasthenie – Ende zweite Klasse war das, glaube ich, oder dritte sogar. Dann sind wir zum Schulpsychologischen Dienst gegangen und haben das abklären lassen, und dann hieß es, ja er hätte Legasthenie. Und jetzt habe ich aber eher das Gefühl – also wenn ich jetzt sein Deutsch anschaue, dann denke ich mir nicht, dass er Legasthenie hat. Weil ich Legasthenie habe und deshalb weiß – also mit den «ie» oder «eu» und solche Sachen – da hat er überhaupt keine Mühe mehr. Und dann haben sie uns auch so: «Ja, klärt das ab, macht» – das Größte war dann eben noch, dass sie uns gesagt haben, wir müssten uns selber anmelden, und dann habe ich das gemacht, und dann hieß es dort, nein, nein, das müsste von der Lehrerin aus kommen. Da habe ich auch gedacht, also da wird einem etwas an den Kopf geworfen, und dabei wissen die nicht einmal, wie das funktioniert. Das hat mich sehr gestört, und jetzt im Nachhinein – Wir haben das dann auch seiner jetzigen Klassenlehrerin gesagt, eben dass er Legasthenie hätte, und […], und ich habe jetzt – gerade im Deutsch, wenn ich jeweils seine Rechtschreibung anschaue – sicher macht er auch Fehler, aber also ich habe nicht das Gefühl, dass das Legasthenie ist. (Interview G2, 00:26:34)

Die Mutter V11 berichtet im Interview G2 von der ADS-Diagnose ihres Sohnes, die bereits einige Monate vor Beginn des Übertrittsverfahrens erfolgt war und seither mit einer Medikation einherging. Die Mutter bringt zum Ausdruck, dass sich dadurch die schulische Situation ihres Sohnes – auch leistungsmäßig – seither stark gebessert habe:

  • V11: Es gab mal eine Phase, aber das ist jetzt weniger auf die jetzige Klassenlehrerin bezogen, bevor wir herausfanden, warum unser Sohn in der Schule Mühe hat, stand er oft als der da- er hat ja immer alles vergessen. Er hat doch, ich weiß nicht wie viele Turnsäcke und Badesäcke ich irgendwie wieder neu besorgen musste, weil es nicht mehr zurückkam. Und so hatte er auch umgekehrt, wenn er Sachen nicht nach Hause gebracht hat, hat wieder das gefehlt, als Aufgaben wieder das Buch und das- und ständig sind wir den Sachen nachgerannt. Überall, nicht die Lehrerin, aber vom Hort und er hatte so einen Förderlehrer, überall wurde zurückgemeldet «K13 du musst besser schauen, besser studieren, du musst dich konzentrieren» und ich sagte ihm am Morgen Dinge, er ging da raus und bis er oben war, hatte er es schon vergessen. Es ist nicht, weil es ihn nicht interessiert. Er hat es vergessen! Und alle sagten immer, «jetzt musst du doch, wir haben dir doch gesagt» und so. Ich wusste immer, so unterschwellig, eigentlich, er macht’s nicht extra. Es ist nicht aus Mamaliebe, dass ich alles schön- ich wusste immer, er kann nichts dafür. Und es ist ja eigentlich auch, seit er die Diagnose ADS hat und Ritalin nimmt, hat es sich aufgelöst in Minne. Es ist nichts mehr davon da. Und das ärgert mich manchmal auch, wenn diese Kinder einfach so einen negativen Stempel aufgedrückt bekommen.

  • I: Seit wann nimmt er das Ritalin? Seit wann ist er abgeklärt?

  • V11: So in der 4. Klasse haben wir es abgeklärt. Vielleicht so zu Beginn der 5. Klasse nimmt er Ritalin.

  • I: Und da hat sich das gebessert?

  • V11: Ja. Die schulischen Leistungen und alles. Hat sich enorm gebessert. (Interview G2, 00:17:22)

Der Junge V12 besucht zum Zeitpunkt der Erhebungen Therapiestunden in seiner Schule, um seine Lese-Rechtschreibstörung zu bearbeiten. Sein Vater berichtet im Interview G1 kurz davon:

  • I: Haben Sie auch schon Nachhilfe in Anspruch genommen für Ihren Sohn?

  • V12: Nein in dem Sinne für Hausaufgaben nicht. Er ist einmal, anfänglich in der ersten Klasse, war er in der Logopädie, aber- nein, doch,. Er hat immer noch- wir haben so einen leisen Verdacht, so für, er hat teilweise Mühe Wörter zu erfassen- jetzt fällt mir gerade das Wort nicht ein. Mit dem Deutsch (I: Legasthenie). Legasthenie, genau. Er hat jetzt so eine Speziallehrerin. Bei der ist er eine Stunde pro Woche, und die mit Absprache mit der Klassenlehrerin, glaube ich, so ein wenig probiert, seine Schwierigkeiten ein bisschen auszubügeln. (Interview G1, 00:34:52)

Zum Abschluss dieser Übersicht über die Ressourcenlage der 20 teilnehmenden Familien soll im Folgenden schließlich noch den subjektiven Theorien der Elternteile zur Veränderbarkeit intellektueller Fähigkeiten sowie ihrer Wahrnehmung des Bedarfs an Wert-und Kontrollregulation bei ihrem Kind größeres Augenmerk geschenkt werden, insofern als diesen Aspekten für den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit eine besondere Bedeutung zukommen dürfte. Wie in Abschnitt 4.2.1.2 dargestellt, kann davon ausgegangen werden, dass die diesbezüglichen Überzeugungen der Eltern nicht nur deren Zieltendenzen beeinflusst – ein entity mindset geht mit einer performance goal-orientation und ein incremental mindset mit einer mastery goal-orientation und entsprechenden selbst- und kindbezogenen Handlungsweisen einher –, sondern auch die Basis für Begründungen dafür bilden, mit denen sie sich und ihren Kindern gegenüber dessen Erfolge und insbesondere Misserfolge erklären. Wie Hong et al. (1999) zeigen konnten, attribuieren Individuen mit einer Veränderbarkeitstheorie Misserfolge mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auf unzureichende Strategien, noch lückenhaftes Fachwissen oder fehlende Anstrengung, während Individuen mit einer Stabilitätstheorie Misserfolge auf fehlende Fähigkeit, Talent oder Begabung zurückführen.

Im Rahmen des quantitativen Projektteils der TRANSITION-Studie wurden in der ersten Erhebungswelle (entspricht dem Zeitpunkt G1 der Leitfadeninterviews im Herbst 2008) mittels mehrerer Fragebogenitems u. a. auch die impliziten Intelligenztheorien der Elternteile erhoben. Wie in Tabelle 4.5 ersichtlich ist, ließen sich daraus zwei Skalen bilden, die unterschiedliche Dimensionen des Konstrukts zum Ausdruck bringen. Die erste, «Veränderbarkeit von Begabung in Mathematik» (Cronbach’s α = 0.73, M = 2.64, SD = 0.54, theoretischer Range: 1 = «stimmt überhaupt nicht» bis 4 = «stimmt genau») (vgl. Dinkelmann et al., 2013, S. 64–65), bildete ab, in welchem Ausmaß die befragten 457 Eltern glaubten, dass sich Begabung in Mathematik durch Wissenszuwachs bzw. geeignete didaktische Maßnahmen und Lernen verändern lasseFootnote 11. Die zweite Skala, «Kompensierbarkeit geringer Begabung in Mathematik» (Cronbach’s α = 0.73, M = 2.20, SD = 0.57, theoretischer Range: 1 = «stimmt überhaupt nicht» bis 4 = «stimmt genau») (vgl. Dinkelmann et al., 2013, S. 66–67), erfasste dahingegen, inwiefern die befragten Eltern glaubten, dass Schülerinnen und Schüler durch ein erhöhtes persönliches Engagement bzw. willentliche Anstrengung und genügenden Einsatz ihre geringe Begabung im Fach Mathematik wettmachen könnten. Die diesbezüglichen Werte der 20 Elternteile, die in acht Fällen den Fragebogen gemeinsam mit ihren Partner*innen ausgefüllt hatten, zeigen, dass die fünf Elternteile D11, D12, M12, S11 und Z31 der Meinung waren, dass Begabung – zumindest für Mathematik, die von vielen mit der Fähigkeit zum logischen Denken assoziiert wird – weder durch Wissensvermittlung und Lernen noch durch willentliche Anstrengung veränderbar sei. Deutlich überdurchschnittlich vertreten vor allem die vier Mütter D11 und Z31 sowie D11 und S11 eine diesbezügliche Stabilitätstheorie. Die Mutter M12 weicht nur leicht von der durchschnittlichen Meinungsausprägung ab. Zehn Elternteile geben dahingegen eine Veränderbarkeitstheorie zu erkennen: S11, S12, H12, M12, S12, V12, Z11, Z12, Z22 und Z32. Besonders ausgeprägt tritt ein solcherlei incremental mindset bei der Mutter S12 und dem Vater V12 auf. Der Vater Z22 hat bei den Items der ersten Skala, die auf Veränderung durch Wissensvermittlung und Lernen abhebt, sogar durchgängig mit der höchsten Ausprägung geantwortet. Bezüglich der Aussagen der zweiten Skala, die Kompensation durch volitionale Prozesse beim Kind betont, ist er aber wie fast alle Elternteile deutlich skeptischer bzw. durchschnittlicher in seiner Meinung. Lediglich die Elternteile S12, H11, V11 und Z21 sind stärker der Überzeugung, dass geringe mathematische Begabung durch eine größere Anstrengung des Kindes kompensiert werden könne als dass Begabung durch Wissenszuwachs veränderbar sei. Deutlich umgekehrter Meinung sind die beiden Mütter R11 und R12.

Im Zuge der höher-inferenten Ratings, die im vorliegenden Forschungsprojekt für mehrere Aspekte des Motivierungshandelns der individuellen Elternteile vorgenommen wurden («Analyseschritt C», vgl. Abschnitt 6.4.3) für eine ausführliche Erläuterung), beurteilten jeweils drei Rater*innen unabhängig voneinander auf der Basis der Originaläußerungen mit Hilfe einer vierstufigen EinschätzungsskalaFootnote 12 den von den Elternteilen gegenüber der interviewenden Person ausgedrückten Bedarf an Fremdregulation, den sie bei ihrem Kind mit Blick auf dessen Wert- und Kontrollüberzeugungen wahrnahmen. Wie sich zeigte (vgl. Tabelle 4.5), brachten die zehn Elternteile D11, D12, E11, E12, H11, R11, S12, V12, Z11 und Z22 (50 % overall) zum Ausdruck, dass bei ihrem Kind ein hoher Bedarf (4) an schulbezogenen Wert- und Kontrollregulationen notwendig sei. Die drei Elternteile H12, Z12 und Z32 (15.0 % overall) bekundeten einen eher hohen Bedarf (3). Ein eher geringer Bedarf (2) an solchen Interventionen wurde sodann von den sieben Elternteilen M11, M12, R12, S11, V11, Z21 sowie Z31 (35.0 % overall) beim eigenen Kind wahrgenommen.

Das abschließende Kapitel des Theorieteils richtet den Fokus nun auf das verbale Motivierungshandeln von Eltern und dessen Gelingensbedingungen. Gemäß erwartungswert-theoretischer Konzeptionen ergeben sich motivationale Zustände in einer Lern- und Leistungssituation aus dem Zusammenspiel der subjektiven Einschätzung eigener Kontrolle (bzw. der Erfolgserwartung) und des Wertes, welchen man der betreffenden Aktivität zuschreibt. Wollen Eltern ihr Kind verbal motivieren, sind sie dazu angehalten, mittels kontroll- und wertbezogener Appelle günstig auf diesen Einschätzungsprozess einzuwirken. Das Kapitel erörtert die Genese von Kontroll- und Wertkognitionen, deren Zusammenspiel und Auswirkungen auf das Lernen und Leisten von Kindern sowie die Effekte, die verschiedene Arten evaluativer Feedbacks (verbale Kontrollregulationen) und Bedeutsamkeitszuschreibungen (verbale Wertregulationen) der Eltern auf diese Prozesse haben dürften.