Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht die abendländische Denktradition im Zugang zu Körper und Leib in der Sozialen Arbeit. Er arbeitet heraus, inwieweit bzw. dass die historisch-abendländischen Traditionen des Denkens und mithin des Umgangs mit dem Körper die heutigen (sozial-)pädagogischen Adressierungsweisen prägen. Der Körper wird nicht nur als vernachlässigte Kategorie Sozialer Arbeit entlarvt, sondern in der Unsichtbarmachung zum Zwecke ihrer Regierung und Disziplinierung markiert. Um (versteckte) Disziplinierungen und Nutzbarmachungen des KörperLeibs im Kontext neoliberal geprägter Lebensverhältnisse sichtbar zu machen, wird im Beitrag für eine zumindest zunächst, theoretische Auseinandersetzung mit der Geschichtlichkeit von KörperLeib und der Arbeit am und mit dem Körper plädiert.
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Notes
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Ich wähle für diesen Beitrag die Schreibweise KörperLeib, um beide Phänomene gleichzeitig zu erfassen und eine Trennung zumindest im theoretischen Denken dabei zunächst aufzuheben. Diese Umgangsweise ist streitbar. Da ich jedoch keinen dezidierten theoretischen Abriss der beiden Begriffe liefern möchte, dies findet in zahlreichen anderen Beiträgen in diesem Sammelband statt, stellt dies eine Übergangslösung dar, um sowohl das Alltagsverständnis von Körper als „Hülle“ und „Ding“ (Descartes) als auch den Leib, der darüber hinaus geht, miteinander zu verbinden und diese Verbindung sichtbar zu machen.
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Ansätze der Reformpädagogik, dann der Gestaltpädagogik (z. B. Fatzer 2011) begründeten zunächst „ganzheitliche“ Ansätze von Erziehung und z. B. die Notwendigkeit der Gestaltungen von Lernumgebungen mit ‚Kopf, Herz und Hand‘, an denen heute keine methodisch-didaktischen Ansätze mehr vorbei kommen. In den vergangenen Jahren drängten sich auch Ansätze der sog. Neuropädagogik in die Diskussionen um Erziehung und Soziale Arbeit (kritisch siehe Becker & Roth 2004). Auch Ansätze, die davon ausgehen, dass Beschwerden psychosomatische Ursachen haben, sind verbreitet (z. B. Bilz (2008) für Schule, Siegrist (2015) für die Arbeitswelt).
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Besonders Ulle Jäger (2004) diskutiert die An- und Abwesenheit des Leibes im Poststrukturalismus, hier auch zur Unterscheidung der Begriffe und diesbezüglichen Auseinandersetzungen aus poststrukturalistischer und phänomenologischer Perspektive (ebd., ab S. 49).
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Ganz anders als Erasmus von Rotterdam diskutiert dies Käthe Meyer-Drawe (1984), die davon ausgeht, dass Subjektivität immer Inter-Subjektivität ist, Leiblichkeit immer Inter-Leiblichkeit, und wir daher immer erst in der Verwiesenheit und unter dem Blick der ‚anderen ‘in die Existenz kommen (vgl. dazu auch Zirfas 2013, S.27).
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In abgeschwächter Form ließe sich auch von ‚unvorteilhaftem‘ oder ‚vorteilhaftem‘ Verhältnis sprechen. Zu den Feldern Sozialer Arbeit: z. B. Drogensucht (Niekrens 2012), Straffälligkeit (Pohl 2013) sowie der große Bereich der Gesundheitsförderung: Reinicke (2003), Jost (2013), Homfeldt & Sting (2018), Gahleitner u. a. (2014), in denen auch medizinisches Vokabular weitestgehend Eingang in die Handlungsfelder der Sozialen Arbeit gefunden hat. Neu ist auch die Arbeit mit dem Begriff der Resilienz: dazu Lang (2019).
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Andere Perspektiven sprechen auch von einem „gefährlichen“ Körper an den sich Maßnahmen der Erziehung richten (z. B. Schmincke 2009.)
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Siehe die zahlreichen Literaturverweise weiter oben.
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Georg, E. (2021). Arbeiten mit und am Körper: Abendländische Denktraditionen im Zugang zu Körper und Leib in der Sozialen Arbeit. In: Schär, C., Ganterer, J., Grosse, M. (eds) Erfahren – Widerfahren – Verfahren. Zürcher Begegnungen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30780-6_2
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