Zusammenfassung
In der Debatte über pädagogische Professionalität in der Migrationsgesellschaft sind essentialistische Zuschreibungen von professioneller Handlungskompetenz an Lehrer*innen, die als ‚Migrationsandere‘ positioniert sind, aus verschiedenen Gründen kritisiert worden. Eine Kritik bezieht sich auf die verkürzte Vorstellung des Verhältnisses zwischen professioneller Kompetenz und eigenen Erfahrungen. Wie sich die Relation zwischen biographischen Erfahrungen und professionellen Selbstentwürfen konkret gestaltet, bleibt gleichwohl eine relevante Frage. Der Beitrag nähert sich diesem komplexen Zusammenhang aus einer biographieanalytischen Perspektive. Präsentiert werden Analysen aus einem laufenden Forschungsprojekt, das die (Berufs-)Biographien und Professionalisierungswege von Lehrer*innen untersucht, die sich in ihrer Schule für diversitätsbewusste Schulentwicklung einsetzen und damit auch eine Verantwortung für gesamtschulische Veränderungen übernommen haben. Anhand von zwei Fallanalysen wird exemplarisch gezeigt, wie die beruflichen Selbstentwürfe und Professionalisierungsprozesse der ‚Diversitätsakteur*innen‘ biographisch kontextualisiert sind und wie die Berufsbiographien der Akteur*innen mit den institutionellen Kontexten verschränkt sind, in denen diese handeln.
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Notes
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Der Begriff ‚Diversität‘ verweist darauf, dass sich das berufliche Handeln der Akteur*innen auf verschiedene, miteinander verschränkte Dimensionen von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen beziehen kann. Gleichwohl lässt er den Konstruktionscharakter sozialer Unterscheidungen unsichtbar werden und kann damit naturalisierende Vorstellungen von ‚Vielfalt‘ reproduzieren. Zudem können durch die affirmative Bezugnahme auf ‚Vielfalt‘ Machtverhältnisse de-thematisiert werden (z. B. Ahmed 2012). Eine begriffliche Alternative wäre „Inklusionsakteur*innen“; der Inklusionsbegriff wird jedoch zu oft auf die Dimension der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung reduziert.
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Wenngleich diese Begriffe auf sehr unterschiedliche Diskurse und Problemverständnisse verweisen, wird hier auf eine einheitliche Begriffsverwendung verzichtet, um der konzeptionellen Heterogenität der empirisch vorzufindenden Handlungsansätze Rechnung zu tragen.
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Bislang existieren auf Ebene der Bundesländer keine verbindlichen Vorgaben für die Institutionalisierung einer diskriminierungskritischen Ausrichtung von Schulen. Die Einrichtung entsprechender Funktionsstellen für Koordinationsaufgaben ist daher bislang den einzelnen Schulen überlassen. Dabei gibt es Hinweise darauf, dass solche Aufgaben sowohl von Personen wahrgenommen werden, die im institutionellen Auftrag handeln, als auch von Personen ohne formalen Auftrag. Die Grenzen zwischen informellem diversitätsbezogenem Engagement und institutioneller Beauftragung sind dabei potenziell fließend (Gomolla et al. 2016; Biermann 2007). Gleichwohl ist zu erwarten, dass die professionellen Handlungsmöglichkeiten je nach Institutionalisierungsgrad variieren.
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Der Begriff „diversitätsbezogen“ wird hier im Sinne des Prinzips der Offenheit im Forschungsprozess (Hoffmann-Riem 1980) verwendet, um das breite Spektrum empirisch vorfindbarer professioneller Handlungsorientierungen und Selbstverständnisse abbilden zu können und die Perspektive nicht bereits im Vorfeld normativ zu verengen. Anders als die Begriffe „differenzsensibel“, „diskriminierungs-“ und „rassismuskritisch“ setzt er die Reflexion von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen nicht zwingend voraus.
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Damit ist eine Standortgebundenheit des Biographiekonzepts markiert, deren Implikationen für Forschungen jeweils zu reflektieren sind.
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Die Funktionsbezeichnung wurde aus Gründen der Anonymisierung verändert.
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Zur Transkriptionsnotation: Kommata stehen für ein kurzes Absetzen, Trennstriche markieren Pausen unter einer Sekunde, Pausen von einer Sekunde und mehr werden in Zahlen in Klammern angegeben. Kursivsetzungen zeigen betonte Passagen an, Großschreibung kennzeichnet lauter gesprochene Passagen, Wortabbrüche werden mit einem Unterstrich markiert.
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Zugleich betont sie an anderer Stelle, dass sie grundsätzlich durchaus Möglichkeiten sieht, biographische Handlungsspielräume zu nutzen. So hebt sie die Notwendigkeit hervor, „ungünstigen Voraussetzungen“ mit „Widerstand“ zu begegnen, anstatt an diesen zu „kleben“ (63/20–37).
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Die Rekonstruktion der institutionellen Bedingungen, die dies ermöglichen, machen weitere Rekonstruktionen erforderlich. Als bedeutsam erweist sich im vorliegenden Fall das Selbstverständnis der Schule als „inklusive“ Schule, die bereits Schritte in diese Richtung vollzogen hat.
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Die Allgegenwärtigkeit des Pädagogischen in der Familie zeigt sich u. a. darin, dass die Erziehung der Töchter durch das professionelle Wissen der Mutter angeleitet wird, die sich in ihren Erziehungspraktiken an den neuesten Erkenntnissen der frühkindlichen Entwicklung und Förderung orientiert. Auch wird Irene Walter bereits im Kindergartenalter in die pädagogische Arbeit ihrer Mutter eingebunden. Die Erzählung ihrer Kindheit ist durch eine pädagogisch-diagnostische Außenperspektive der Biographin auf die eigene kindliche ‚Entwicklung‘ und die erfahrenen Erziehungspraktiken bestimmt.
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Die starke Identifikation mit der Mutter wird u. a. in der (enttäuschten) Erwartung des Kindes Irene versinnbildlicht, im Spiegel das Ebenbild der Mutter zu erblicken.
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Aktuell müssen Schulen für das Erlangen des Status als UNESCO-Schule Aktivitäten in mindestens drei der folgenden sechs Themenfeldern nachweisen: Demokratie- und Menschenrechtsbildung, interkulturelles und inklusives Lernen, Bildung für Nachhaltige Entwicklung, Global Citizenship, Risiken und Chancen im digitalen Zeitalter, UNESCO-Welterbebildung (vgl. Deutsche UNESCO-Kommission 2021).
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Schwendowius, D. (2022). Biographien und berufliches Engagement von ‚Diversitätsakteur*innen‘ in Schulen der Migrationsgesellschaft. In: Akbaba, Y., Bello, B., Fereidooni, K. (eds) Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse. Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29043-6_11
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