Fotografien und ihre Lesarten

Dokumentarische Interpretation von Bildrezeptionsprozessen

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Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis

Zusammenfassung

„Wie gelangt der Sinn in das Bild?“ fragte Roland Barthes in seiner „Rhetorik des Bildes“ (1990b, 28) und grenzte sich damit implizit von substantialistischen Auffassungen des Sinns ab. Der Sinn ist demnach keine Entität, die fest und unveränderlich im Bild angelegt wäre und in eindeutiger und gleichbleibender Weise von den Rezipierenden dem Bild ‚entnommen‘ werden könnte. Der Zusammenhang von Bild und Sinn ist vielmehr ‚fragwürdig‘, auf irgendeine Weise muss der Sinn erst mit dem Bild in Verbindung gebracht werden.

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Notes

  1. 1.

    Zur Auseinandersetzung mit der Rezeptionsforschung auf der Basis der dokumentarischen Methode siehe auch den Beitrag von Fritzsche i. d. Band.

  2. 2.

    Zu Konvergenzen und Divergenzen der praxeologisch fundierten Wissenssoziologie und der dokumentarischen Methode mit der Kultursoziologie Bourdieus siehe auch den Beitrag von Meuser i. d. Band.

  3. 3.

    Aus der Berücksichtigung des mit dem Habitus verbundenen praktischen Wissens ergeben sich weitere Unterschiede zur Konzeption von Schütz, von denen einige hier kurz dargestellt werden sollen: (a) Mit dem Habitus als konjunktivem Erfahrungsraum ist ein anderer, fundamentalerer Begriff der Sozialität verbunden. Schütz setzt mit seinen Überlegungen zum sinnhaften Aufbau der sozialen Welt bei den Sinnbildungsaktivitäten des handelnden Ego an. Sozialität bildet sich bei ihm erst über Interaktion mit Alter Ego heraus, bei der sich die Handelnden wechselseitig gleiche Motive unterstellen. Bohnsack spricht von einem „individualistischen Kommunikationsmodell“ (Bohnsack 1993a, 46) und führt aus: „Die beteiligten Akteure vermögen ihre bereits im vorhinein subjektiv entworfenen zweckrationalen Handlungspläne erst in der Kommunikationssituation zu koordinieren, um Inter-Subjektivität herzustellen“ (ebd.) Waldenfels kritisiert den Ansatz von Schütz als „egozentrisch“ (1979, 5) und setzt ihm einen grundlegenderen Begriff der Sozialität entgegen, der jeder Interaktion vorausliegt. Denn das Verstehen „eröffnet nicht erst den Zugang zu den Anderen, sondern ist von vornherein in einen sozialen Kontext eingebettet. Man müßte dementsprechend die ‚Generalthesis des alter ego‘, die die Existenz und Gleichartigkeit anderer Subjekte voraussetzt, umformen in eine ‚Generalthesis des Wir‘, die nicht formal anzusetzen wäre, sondern als ein konkretes Einverständnis und mögliches Nichteinverständnis, das von vornherein auch praktisch und affektiv geprägt ist“ (Waldenfels 1979, 7). Dies leistet das Modell des konjunktiven Erfahrungsraums, bei dem die Akteure „durch Selbstverständlichkeiten miteinander verbunden sind“ (Bohnsack 1997c, 497), die aus Gemeinsamkeiten des Schicksals und der Alltagspraxis resultieren. Durch Inkorporierung der gemeinschaftlichen Handlungsschemata wird ein milieuspezifischer Habitus geprägt. (b) Da das praktische Wissen in milieuspezifischen Handlungspraktiken wurzelt, sind die damit verbundenen Sinnbildungen „nicht universell für jedes wahrnehmende und handelnde Subjekt gültig“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 104). Es kommt vielmehr zu milieuspezifischen Unterschieden der Sinnbildung. Für deren Rekonstruktion ist die phänomenologische Soziologie jedoch schlecht gerüstet, da sie die „‚Seinsgebundenheit‘ von Wissen und Erfahrung, ihre Abhängigkeit von der sozialen Lage, in ihre theoretische und empirische Analyse nicht einzubeziehen vermag“ (Bohnsack 2000a, 176). (c) In Abgrenzung zu Schütz ergibt sich aus der Focussierung auf den modus operandi des Habitus auch eine andere Forschungsperspektive: Die phänomenologische Soziologie wendet sich in „natürlicher Einstellung“ dem gleichen Gegenstand zu wie die Akteure selbst, nämlich dem – für Akteur wie für Sozialwissenschaftlerin gleichermaßen reflexiv verfügbaren – kommunikativen Sinn. Als Konstruktionen zweiten Grades zeichnet sie diese Sinnbildungen ersten Grades nach, ohne nach ihrem Konstitutionszusammenhang zu fragen (vgl. Bourdieu 1979, 150f.). Es liegt auf der Hand, dass eine begriffliche Explikation der praktischen Wissensbestände und der mit ihnen verbundenen Sinnbildungsprozesse, die dem Akteur selbst intentional nicht verfügbar sind, mit der „natürlichen Einstellung“ der Lebenswelt brechen muss, d.h. die Perspektive der Epoché einnehmen muss.

  4. 4.

    In ähnlicher Weise hatte Barthes das Wissen charakterisiert, das für die „tautologische“ Lesart (s. o.) eines Fotos aufzubieten ist: „Um diese letzte (oder diese erste) Ebene des Bildes zu ‚lesen‘, benötigen wir kein anderes Wissen als das mit unserer Wahrnehmung verknüpfte“ (Barthes 1990b, 32).

  5. 5.

    Von dieser Stelle übernimmt Bourdieu den Begriff des Habitus (Bourdieu 1974, 125ff.). Im Ikonographie/Ikonologie-Modell wird der Habitus zwar nicht explizit benannt, der Sache nach ist er jedoch präsent, da sich Panofsky in der ersten Version seines Ikonographie/Ikonologie-Modells von 1932 („Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst“; hier: 1987a) auf den Dokumentsinn nach Karl Mannheim bezieht (ebd., 200), dessen Träger der Habitus ist (vgl. Bohnsack 1997a, 197). Panofsky beruft sich auf Mannheims Aufsatz „Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation“, dessen Titel er nicht nennt und für den er eine falsche bibliographische Angabe macht („Jahrbuch für Kunstgeschichte I (1922/23), 236 ff.“ statt: „Jahrbuch für Kunstgeschichte I (XV) (1921-22), 4, 236-274“; hier: Mannheim 1964a). Mannheim wiederum bezieht sich in diesem Aufsatz auf Panofsky und dessen Interpretation des Begriffs des „Kunstwollens“, den Panofsky im Anschluss an Alois Riegl entfaltet (Panofsky 1920; hier: 1964a). Mannheim schreibt hierzu: „Hier wird an Händen einer Analyse des Rieglschen Kunstwollens der Dokumentsinn bereits klar gesehen.“ (1964a, 123, Fn. 15; vgl. auch ebd., 128, Fn. 18). An anderer Stelle verwendet Mannheim den Begriff des Habitus ebenfalls, allerdings wenig spezifisch und stringent (1964b, 513; 1964e, 615; 1964f, 655). Diesen wissenssoziologischen Hintergrund des Habitus-Begriffs, an den Bohnsack anschließt, macht Bourdieu jedoch nicht deutlich.

  6. 6.

    Dass sich die dokumentarische Interpretation des Verstehensprozesses zunächst wiederum als intuitives Verstehen – diesmal auf Basis des Habitus der Rezeptionsforscherin – vollzieht, muss nicht eigens betont werden. Mit der Betonung der Rolle, die der Habitus des Bildbetrachters beim unkorrigierten Verstehen auf ikonologischer Ebene hat, soll nicht ausgeschlossen werden, dass auch in diesem intuitiven Verstehensprozess ein Bezug zum Habitus des Bildproduzenten hergestellt wird. Wie Bohnsack (in seinem Aufsatz zur Bildinterpretation i. d. Band) deutlich macht, können gerade bei Fotografien auf der Produktionsseite unterschiedliche Habitusaspekte ausgemacht werden: Neben dem modus operandi des Fotografen kann sich auch der Habitus oder Stil der abgebildeten Personen und der zu ihnen gehörenden Objekte im Bild dokumentieren. Diese Habitusaspekte können sich durchaus auch einem intuitiven Betrachter erster Ordnung erschließen. In der Perspektive der Bild-Rezipierenden-Interaktion gehen sie jedoch im Interaktionsfaktor „Bild“ auf. Relevant für ein ikonologisches Verstehen werden sie erst im Durchgang durch das Erleben konkreter Rezipierender, d. h. unter Bezug auf je unterschiedliche Rezeptionshabitus.

  7. 7.

    Zum Gruppendiskussionsverfahren vgl. Bohnsack 1997c; Loos/Schäffer 2001; Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2006a; Michel 2006b.

  8. 8.

    Zur sinngenetischen und soziogenetischen Typenbildung vgl. die Beiträge von Nentwig-Gesemann und Bohnsack, zur komparativen Analyse den Beitrag von Nohl i. d. Band. Zu den Umrissen einer kausalgenetischen Interpretation von Bildrezeptionsprozessen vgl. Michel/Wittpoth 2004 und 2006.

  9. 9.

    Aus einer detaillierten Analyse des Diskurses geht hervor, dass innerhalb von Gruppe ND offenbar ein Tabu hinsichtlich der Thematisierung der abgebildeten Person zu wahren ist. Auf dieses Problem kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Wie aus dem Diskurs aber ebenfalls hervorgeht, erschließt sich auch Gruppe ND die Ethnie des Protagonisten, so dass zurecht von einer hohen Übereinstimmung auf vorikonographischer Ebene geredet werden kann.

  10. 10.

    Abweichend von den Transkriptionsregeln im Anhang verwende ich u. a. Punkte „….“ , um eine über kurze Sprechpausen fortlaufende, nicht-absinkende Intonation anzuzeigen. Die Länge der Punktreihe entspricht der Länge der Pause. Überlappende Redebeiträge markiere ich bei Unklarheiten durch den Hinweis „((gleichzeitig mit Af))“, wobei das Sprecherkürzel angibt, mit wessen Beitrag sich eine Äußerung überlappt, und der Pfeil anzeigt, mit welchem Beitrag des betreffenden Sprechers sich die Äußerung überschneidet.

  11. 11.

    In der folgenden Sequenz (ND 940-960) verdichtet sich diese erst nur tastend und zögerlich geäußerte praktische Deutung zu einer Focussierungsmetapher, die die diffusen Empfindungen der Gruppenmitglieder kondensiert. In ineinandergreifender Rede wird sie von allen Gruppenmitgliedern bekräftigend wiederholt und kulminiert schließlich in einer elaborierten und dramaturgisch zugespitzten Version: „Wenn ix… wenn ich jetzt mir vorstell: ich mach die Tür auf und würd‘ dieses Bild sehn – also, ich würdse gleich wieder zu machen. Und zwar von außen ((lacht leise))“ (959/960). Als Focussierungsmetapher markiert sie den Focus der kollektiven Orientierung bzw. das konjunktive Erlebniszentrum der Gruppe und liefert wichtige Anhaltspunkte für eine Rekonstruktion des gruppenspezifischen modus operandi (vgl. Bohnsack 2000a, 75, 100 f., 152, 183).

  12. 12.

    Um sich zu vergegenwärtigen, dass die Sinnzuschreibung „Familie“ nicht auf dem „beinahe anthropologischen Wissen“ (Barthes) der vor-ikonographischen Ebene beruht, sondern erst durch die Kenntnis „von Bräuchen und kulturellen Traditionen, die einer bestimmten Zivilisation eigentümlich sind“ (Panofsky 1987b, 208), d. h. auf ikonographischer Ebene möglich wird, könnte man Panofskys australischen Buschmann herbeizitieren. Man kann aber auch an jenen Europäer des Jahres 2500 denken, den sich Eco in einer demografischen Vision ausmalt und für dessen Kultur die staatlich propagierte „Ein-Kind-Familie“ der Normalfall ist: „Nach zwei bis drei Generationen würden die Wörter ‚Bruder‘,.Schwester‘, ‚Onkel‘, ‚Tante‘, Vetter‘ und ‚Cousine‘ ihren Sinn verlieren“ (Eco 2000b, 177). Dieser Europäer könnte deshalb vermutlich weder – wie Eco annimmt – mit dem Begriff „Brüderlichkeit“ etwas anfangen, noch würde er die Personenansammlung auf dem Foto als „Familie“ deuten. Auf vor-ikonographischer Ebene könnte er auf dem Bild jedoch problemlos Männer, Frauen und Kinder wiedererkennen.

  13. 13.

    Bei der Metonymie wird ein Zeichen durch ein anderes aufgrund inhaltlicher Kontiguität (Nähe) ersetzt (und nicht aufgrund von Ähnlichkeit wie bei der Metapher). Beispiele für Kontiguität sind Teil-Ganzes-Relationen oder Exemplifizierungen. Das Familienbild fungiert als Metonymie, wenn es als exemplarischer Ausschnitt einer „heilen Welt“ angesehen wird.

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Michel, B. (2013). Fotografien und ihre Lesarten. In: Bohnsack, R., Nentwig-Gesemann, I., Nohl, AM. (eds) Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19895-8_5

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-19895-8_5

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  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

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