Erzählte Vergangenheit – „Dietegen“ und das Mittelalter in Gottfried Kellers Gegenwart

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Gottfried Keller – Spielräume der Phantasie

Part of the book series: Abhandlungen zur Literaturwissenschaft ((ABLI))

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Zusammenfassung

Im historischen Erzählen verbinden sich Fakten und Fiktion in vielfacher Weise. Auch Gottfried Keller betrieb im Umgang mit historischen Stoffen meist ausgiebige Quellenstudien, gleichzeitig betonte er aber die Eigengesetzlichkeit der Literatur. Exemplarisch dafür stehen die stofflich gut dokumentierten Züricher Novellen (1877). Auffallend unbeachtet blieb hingegen die Novelle Dietegen. Sie spielt in der Zeit der Burgunder- und Mailänderkriege und erschien 1874 in der erweiterten Fassung der Leute von Seldwyla. Dass „Seldwyla“ als fiktiver Ort vorgestellt wird, dürfte wesentlich zu einer enthistorisierenden Lesart beigetragen haben. Eine Relektüre fördert denn auch Überraschendes zutage. Es zeigt sich nicht nur, wie Keller Objekte, Figuren und Handlungschausplätze literarisiert, die in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft verhandelt werden, sondern auch, dass er in der erzählten Vergangenheit seine eigene Gegenwart spiegelt. Indirekt bezieht der Staatsschreiber der Zürcher Regierung dabei Stellung gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Mitte der 1870er Jahre auch in der Stadt Zürich heftig diskutiert wurde.

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Notes

  1. 1.

    Conrad Ferdinand Meyer: Erinnerungen an Gottfried Keller [1890]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 15 Bänden. Hg. von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 15. Bern 1985, 179–185, hier 181 f.

  2. 2.

    Der Teildruck erschien in der von Julius Rodenberg herausgegebenen Deutschen Rundschau in Berlin. Die Züricher Novellen kamen im November 1877 mit Vordatierung auf 1878 als zweibändige Buchausgabe in der G.J. Göschen’schen Verlagshandlung in Stuttgart heraus. Vgl. Michael Andermatt: „Züricher Novellen“ (1878). In: Gottfried Keller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Ursula Amrein. 2., revidierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2018, 110–123, hier 110.

  3. 3.

    Nachgewiesen ist Kellers Lektüre der Schweizergeschichte Melchior Schulers Die Thaten und Sitten der Eidgenossen (1838–1856), von Salomon Vögelins Stadtbeschreibung Das alte Zürich (1857), einer Abhandlung Ludwig Uhlands zum Minnesang, der Geschichte der Familie Manesse und der Geschichte der Abtei Zürich des Zürcher Universitätsprofessors Georg von Wyss sowie zeitgenössischer Ausgaben der Großen Heidelberger Liederhandschrift („Codex Manesse“, „Manessische Liederhandschrift“). Vgl. Andermatt (wie Anm. 2), 113. Mit Georg von Wyss, treibende Kraft bei der Verleihung der Ehrenpromotion an Keller, war er auch persönlich befreundet.

  4. 4.

    Der Narr von Manegg steht quellenspezifisch unmittelbar im Kontext des Hadlaub. Vgl. Andermatt (wie Anm. 2), 114. Für Ursula nutzte Keller neben Band 1 und 2 von Melchior Schulers Schweizergeschichte (1838–1856) vor allem eine zweibändige Monographie zu Ulrich Zwingli von Johann Caspar Mörikofer (1867/1869) und eine Zwingli-Studie von Johann Jakob Hottinger (1842); vgl. Andermatt (wie Anm. 2), 120.

  5. 5.

    Vgl. zuletzt Andermatt (wie Anm. 2).

  6. 6.

    Ebd., 113 und 120.

  7. 7.

    Vgl. Brief an Wilhelm Petersen vom 4. Juni 1876: „Dietegen, verehrter Herr, eigentlich Dietdegen, gehört zur Klasse der Dietrich, Diethelm, Dietmar usw. und heißt Volksheld, Volkskrieger oder so was. Der Name steht noch im gegenwärtigen Züricher Kalender, obwohl kaum noch jemand darauf taufen läßt. Ich habe ihn meiner Gewohnheit gemäß dort hervorgesucht.“ (GB 3.1, 349).

  8. 8.

    Zu Dietegen vgl. zuletzt Alexander Honold: Die Tugenden und die Laster. Gottfried Kellers „Die Leute von Seldwyla“. Berlin 2018, bes. 290–317; Alexander Honold: „Die Leute von Seldwyla“ (1856, 1873/74). In: Amrein (wie Anm. 2), 53–91, insbes. 83–87; Ulrich Kittstein: Gottfried Keller. Ein bürgerlicher Außenseiter. Darmstadt 2019, 281–286. Honold und Kittstein interessieren sich vor allem für die wechselvolle Beziehung zwischen Küngolt und Dietegen.

  9. 9.

    Selbstverständlich gibt es auch im Dietegen eine Fülle von „Einfällen“, für die Keller nicht auf die zeitgenössische Geschichtsschreibung zurückgreift, wie etwa der äußerst „spaßhafte Einfall“ (Keller an Jakob Baechtold, 3.11.1876; GB 3.1, 278) vom „freundlichen Nachbarn“ (5, 183–185), der wohl kein historisches Vorbild hat. Er erinnert an die Titelleiste des Nebelspalter, der erstmals am 1. Januar 1875 erschien.

  10. 10.

    Zur Verspiegelungspoetik des historischen Erzählens in den Züricher Novellen vgl. Andermatt (wie Anm. 2), 101–123; ebd. weiterführende Literatur.

  11. 11.

    Nachdem die Bundesverfassung von 1848 die Todesstrafe für politische Vergehen untersagt hatte, schafften daraufhin einzelne Kantone die Todesstrafe ganz ab, darunter auch Zürich 1869. Die revidierte Bundesverfassung von 1874 verbot die Todesstrafe schließlich für die ganze Schweiz. Aber schon 1879 erhielten die Kantone das Gesetzgebungsrecht für die Todesstrafe vom Bund zurück. Davon machten verschiedene Kantone Gebrauch. Im Kanton Zürich wurde 1883 – nach einem Doppelmord im April 1882 – eine Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe mit 28’600 Ja-Stimmen zu 25’330 Nein-Stimmen angenommen, gegen die Empfehlung des Kantonsrats. Der Kantonsrat unterbreitete den Abstimmungsberechtigten daraufhin einen abgeänderten Vorschlag, der in der Abstimmung vom 5. Juli 1885 abgelehnt wurde. Die Anwendung der Todesstrafe blieb untersagt. Vgl. Erich Wettstein: Die Geschichte der Todesstrafe im Kanton Zürich. Zürich 1958, 152–157.

  12. 12.

    Vgl. Jürg Fierz: Zürich – Wer kennt sich da noch aus. Die hundert besten Photos aus Alt-Zürich. Zürich 1971, 87.

  13. 13.

    Vgl. Maria Effinger: Der Codex Manesse und die Entdeckung der Liebe. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Heidelberg, des Instituts für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde sowie des Germanistischen Seminars der Universität Heidelberg zum 625. Universitätsjubiläum. Heidelberg 2010, 65–80.

  14. 14.

    Vgl. Bruno Weber: Mittelalterliche Stadt. Luzern 1990, 7 f.

  15. 15.

    Wenn hier und im Folgenden von „mittelalterlich“ die Rede ist, so ist damit ein „mentales Mittelalter“ gemeint, das bis weit ins 17. Jahrhundert reicht.

  16. 16.

    Vgl. 21, 36–39.

  17. 17.

    Notizblatt zur Fortsetzung der Leute von Seldwyla (21, 418 f.).

  18. 18.

    Vgl. Thomas K. Kuhn: Art. Johann Melchior Schuler. Version vom 19.8.2011. In: Historisches Lexikon der Schweiz HLS-online; https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010835/2011-08-19/ (15.9.2019).

  19. 19.

    Ebd.

  20. 20.

    Vgl. François de Capitani: Nationale Identität im Wechselspiel zwischen Geschichte, Monument und Museum. Das schweizerische Beispiel. In: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 55 (1998), 25–34, hier 27.

  21. 21.

    Ebd., 27–29.

  22. 22.

    Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. 5 Bände. Leipzig 1867–1880. 2. Bd. (1870), 1143.

  23. 23.

    De Capitani (wie Anm. 20), 27. – Spezifisch zu den Sängerfesten vgl. den Beitrag von Cristina Urchueguía in diesem Band.

  24. 24.

    Die Angabe der Bandnummern und Seitenzahlen stimmen überein mit der „dritten, neu bearbeiteten und vermehrten Auflage zweite[n] Ausgabe“, die ab 1842 in 8 Bänden in Zürich erschien. Der erste Band datiert auf 1842, der dritte auf 1843.

  25. 25.

    Indem er die historischen Ereignisse kommentiert („Aus Gnade sagte man!“), gibt Schuler seiner Empörung über das Geschilderte Ausdruck. Damit schwingt mit – ganz im Sinne der Wahrnehmung bzw. Konstruktion eines Mittelalters, von der sich die Gegenwart abgrenzt, – dass so etwas in der gegenwärtigen, modernen Zeit undenkbar wäre.

  26. 26.

    Melchior Schuler: Die Thaten und Sitten der Eidgenossen. Ein Handbuch der Schweizergeschichte. Erster Band, der dritten, neu bearbeiteten und vermehrten Auflage. Zweite Ausgabe. Zürich 1842, 405.

  27. 27.

    Melchior Schuler: Die Thaten und Sitten der Eidgenossen. Ein Handbuch der Schweizergeschichte. Dritter Band, der dritten, neu bearbeiteten und vermehrten Auflage. Zweite Ausgabe. Zürich 1843, 469–70.

  28. 28.

    Der Name „Seldwyla“ ist zusammengesetzt aus mittelhochdeutsch „saelde“ für „Glück, Heil“ und „wyla“, neuhochdeutsch „Weiler“, der Bezeichnung für einen kleinen Ort. Der Name „Ruechenstein“ setzt sich zusammen aus mittelhochdeutsch „ruch“ für „rau“ und „stein“, was eine Ortschaft auf oder an einem Felsen bezeichnet.

  29. 29.

    Vgl. Hanspeter Lanz: Silberschatz der Schweiz. Gold- und Silberschmiedekunst aus dem Schweizerischen Landesmuseum. Karlsruhe 2004, 16.

  30. 30.

    Ebd., 23.

  31. 31.

    Johann Jakob Keller: Die Becher der Gesellschaft der Böcke zum Schnecken in Zürich. Aufgenommen und photographirt im September 1861 von J. Keller. Zürich 1861.

  32. 32.

    Vgl. Ulrich Huber-Toedtli: „Der Gesellschaft Stolz“. Silberschatz und Kunstobjekte der Gesellschaft der Schildner zum Schneggen in Zürich. Zürich 2006, 15–86.

  33. 33.

    Keller (wie Anm. 31), [unpag.].

  34. 34.

    Dazu passt, dass das hoch aufgetakelte silberne Kriegsschiff, „sonst ganz ehrbar und staatsmäßig […] als Galion eine Galatea von den verwegensten Formen“ (5, 191) zeigte.

  35. 35.

    Darauf, dass die Ruechensteiner Kostbares nicht erkennen, weist das verdreckte Ölkännchen, dessen Wert die Pflegeeltern Dietegens so wenig zu schätzen wissen wie das edle Wesen Dietegens selbst. Vgl. Honold (wie Anm. 8), 294.

  36. 36.

    Disteli verwendet diese Art von Kommentierung auch andern Orts. Vgl. Alois Fuchs vor dem Ketzergericht (1834) oder die erste Illustration zu Peter Felbers Kurze und faßliche Beschreibung der Lebensgeschichte meines Herrn Vetters (1839).

  37. 37.

    In ihrer Gefangenschaft wird sie des Öfteren von einem Geistlichen besucht, dessen Aufgabe es ist, ihr geistlichen Beistand zu bieten, der allerdings, wenn er „sein Sprüchlein getan hatte, seine Erfrischung zu sich nahm und ersichtlich nur noch blieb, um die getröstete Sünderin ein bißchen anzugucken und etwa bescheidentlich ihre Hand zu streicheln“ (5, 235 f.). Die Szene erinnert an Disteli, wie bereits die Beschreibung der Ruechensteiner zu Beginn des Dietegen (vgl. 5, 182) an Disteli-Karikaturen erinnern.

  38. 38.

    Keller bricht die Beschreibung der bedrückenden Szene mit dem „spaßhaften Einfall“ (an Jakob Baechtold, 3.11.1876; GB 3.1, 278), dass der Nabel Adams wegen eines Fehlers des Hafners nicht vertieft ist, sondern „ein erhabenes rundes Knöpfchen auf dem Bauche“ (5, 239), über das Küngolt öfters lachen muss, wenn sie ihre Wange daran schmiegt (vgl. 5, 239).

  39. 39.

    Wilhelm Lübke: Ueber alte Oefen in der Schweiz, namentlich im Kanton Zürich. Zürich 1865.

  40. 40.

    Ebd., 127 (14).

  41. 41.

    Vgl. eHKKA; freundlicher Hinweis von Ursula Amrein.

  42. 42.

    Zum Fall Matter und seiner zeitgenössischen Beurteilung vgl. Nold Halder: Leben und Sterben des berüchtigten Gauners Bernhart Matter. Eine Episode aus der Rechts- und Sittengeschichte des 19. Jahrhunderts. Aarau 1947.

  43. 43.

    Eine Liste der vollstreckten Todesurteile zwischen 1800 und 1944 mit Namen und Alter der Getöteten, Datum und Ort der Hinrichtung, Delikt und Hinrichtungsart sowie einer Übersicht über die Abschaffung der Todesstrafe in den einzelnen Kantonen findet sich auf: http://www.capitalpunishmentuk.org/Switzerland.html (24.5.2019).

  44. 44.

    Elisabeth Joris: Liberal und eigensinnig. Die Pädagogin Josephine Stadlin – Die Homöopathin Emilie Paravicini-Blumer. Handlungsspielräume von Bildungsbürgerinnen im 19. Jahrhundert. Zürich 2011, 240. Zur Todesstrafe in der Schweiz vgl. auch Stefan Suter: Guillotine oder Zuchthaus? Die Abschaffung der Todesstrafe in der Schweiz. Basel 1997.

  45. 45.

    In einem Brief vom Februar/März 1873 würdigt Zehnder-Stadlin Keller als politischen Autor. Vgl. Joris (wie Anm. 44), 238 f.

  46. 46.

    Vgl. Klaus Schmidt: Gerechtigkeit – das Brot des Volkes. Johanna und Gottfried Kinkel. Eine Biographie. Stuttgart 1996, 9 und 180 f.

  47. 47.

    Vgl. Jacob Eberhard Gailer: Neuer Orbis pictus für die Jugend. Oder Schauplatz der Natur, der Kunst und des Menschenlebens in 316 lithographierten Abbildungen mit genauer Erklärung in deutscher, lateinischer und französischer Sprache. Nach der früheren Anlage des Comenius bearbeitet und den jetzigen Zeitbedürfnissen gemäß eingerichtet. Stuttgart 1832; freundlicher Hinweis von Paul Michel.

  48. 48.

    Vgl. Ernst Schubert: Räuber, Henker, arme Sünder. Verbrechen und Strafe im Mittelalter. Darmstadt 2007, 50–57.

  49. 49.

    Vgl. de Capitani (wie Anm. 20), 30.

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Günthart, R. (2024). Erzählte Vergangenheit – „Dietegen“ und das Mittelalter in Gottfried Kellers Gegenwart. In: Amrein, U. (eds) Gottfried Keller – Spielräume der Phantasie. Abhandlungen zur Literaturwissenschaft. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05983-3_8

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