Weimarer Republik/Deutschland – Film und Kino, Geschlecht und Sexualität

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Performative Figuren queerer Männlichkeit

Part of the book series: Szene & Horizont. Theaterwissenschaftliche Studien ((STHOTHST,volume 5))

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Zusammenfassung

Im Überblickskapitel zur Weimarer Republik werden die juristischen, technischen, ästhetischen, diskursiven und performativen Besonderheiten von Film und Kino von 1918 bis ca. 1933 besprochen. Dazu zählt die Besonderheit der nicht vorhandenen Zensur 1918/19. Es entstanden die sogenannten Aufklärungs- und Sensationsfilme. Dazu zählt selbstredend der expressionistische Film. Ebenso relevant ist die sezierende, geradezu präskriptive und dynamisierte Kamera ab ca. 1924. Der entsprechende Bildmodus dichtet das Sichtbare zugleich mit einem luminiszenten Überzug (glow) ab. Durch diese Aufmerksamkeitsstrategie thematisiert das Medium den Realitätsbezug der Themen. Das Verhältnis der Geschlechterordnung zum Apparat brachte im Zuge dessen die moderne Figur der femme fatale als Resultat einer spezifischen differenzialen Relationalität von ‚authentischer Identität‘ und (projektivem) ‚Schein‘ hervor. Diese äußerte sich für männliche Subjektivität in einer Spaltung von ‚psychischen Innenräumen‘ und ‚sozialer Realität‘, sprich in Dissoziationen und Dopplungen. Diese Aufteilungen lassen sich als spezifische Reorganisation eines nicht (mehr) exklusiv aufeinander bezogenen Geschlechterverhältnisses schließen. Die Implementierung des Tons ins Medium Film sowie in die Kinosäle ist ebenfalls von großer Bedeutung. Mit ihm reorganisiert sich die Konstituierungsweise von (geschlechtlicher und sexueller) Identität erneut. Auch im Musik- und Sängerfilm wird dies in aller Komplexität ins Verhältnis zu einer vermehrt durch Medien vermittelten sozialen Realität gesetzt.

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Notes

  1. 1.

    Vgl. hierzu einschlägig Peukert 1987, bes. S. 71 ff. sowie Weitz 2007. Zur Kultur der Weimarer Republik vgl. einschlägig Laqueur 1974.

  2. 2.

    Vgl. Elsaesser 2000, bes. S. 106 ff. Die Produktionsfirmen vertrieben ihre Produkte noch selbst. Es entstanden zudem Vertriebsfirmen. Dominant war immer noch das Monopolsystem mit Zweischlagerprogramm. Produzent*innen waren immer noch wichtiger als Regiseur*innen. Die Zeit der Blockbuchungen mit ihren Stars wie Asta Nielsen und Henny Porten ging zuende. Zum Starsystem in der Weimarer Republik vgl. Garncarz 2010b. Die Anzahl der Kinos stieg bundesweit von ca. 2.500 um 1919 bis 1929 auf 5000. Vgl. hierzu Müller 2003a, bes. S. 24. Dagegen Kleinhans 2003, bes. S. 14, der für die Jahreszahl 1917 bereits 31.030 Kinos anführt.

  3. 3.

    Prinzipiell wurden weniger ausländische Filme importiert und weniger deutsche Filme exportiert, wodurch die finanzielle Rentabilität niedriger war. Aufgrund der instabilen Währung waren die Investitionsspielräume klein, zumal die Firmen auf Fremdkapital aus dem Ausland angewiesen waren. Vgl. zum Lizenzsystem sowie zu Handelsverflechtungen von deutscher und US-amerikanischer Filmwirtschaft Gomery 1980. Weiterführend Barbian 1998, Spiker 1975, Bock u. a. (Hg.) 2001, Thompson 1996 sowie erneut Kreimeier 1992. Vgl. zum Kontingentsystem Toeplitz 1992, S. 1.

  4. 4.

    Zur Zensurpolitik in der Weimarer Republik vgl. erneut Barbian 1998, bes. S. 213 ff., Petersen 1995, Loiperdinger 2004 sowie erneut Spiker 1975. Spiker argumentiert, in der Praxis sei die Zensur eine Nachzensur, der Idee des Lichtspielgesetzes vom 15. Mai 1920 nach eine Wirkungs- und Geschmackszensur gewesen. Maiwald schreibt zum Lichtspielgesetz, dessen Wortlaut sei deutlich antisemitisch, antisozialdemokratisch sowie undemokratisch gewesen, was eine ebensolche Zensurpraxis befördert habe. Vgl. hierzu Maiwald 1983, bes. S. 30. Spiker führt weiter aus, dass diese negative Maßnahme durch eine positive substituiert wurde, nämlich durch das bereits im Kaiserreich etablierte Prädikatsystem, welches nun das Prädikat „künstlerisch wertvoll“ umfasste, um damit Kulturfilme durch Ausnahme von der Lustbarkeitssteuer rentabler und dadurch öffentlichkeitswirksamer zu machen. Vgl. hierzu erneut Spiker 1975, bes. S. 119. Weiterhin wurden, wie Maiwald argumentiert, bereits in der Weimarer Republik die Kontingentbestimmungen im Sinne einer politischen Zensur instrumentalisiert. Dies, insofern die Einfuhrbeschränkungen für ‚ausländische‘ Filme und die Anerkennung deutscher Produktionen nun nicht mehr wirtschaftlich, sondern kulturell legitimiert wurden, um damit den nationalen Film zu schützen. Hierzu wurden Unbedenklichkeitsscheine ausgestellt, deren Begründungen in der Nazi-Zeit leicht im völkischen Sinn umcodiert werden konnten, wie das auf den Zensurparagrafen im Lichtspiegesetz zutrifft. Vgl. hierzu erneut Maiwald 1983, bes. S. 38 ff., S. 95, S. 122 ff., S. 133 ff. und S. 159 sowie erneut Spiker 1975, bes. S. 111 ff. Zur Zensur in Fällen sozialer Tabus wie bspw. Homosexualität vgl. Steakley 1999.

  5. 5.

    Vgl. Widdig 2001.

  6. 6.

    Insbesondere der Kontakt zu Hollywood-Firmen wurde ausgebaut, indem man Leihverträge für Schauspieler*innen, Produzent*innen und Regisseur*innen abschloss. Auch finanzierten diese Firmen die deutschen teilweise mit, bauten zudem deutsche Dependencen, Tochterfirmen sowie eigene Kinoparks auf.

  7. 7.

    Bis Jahrzehntende war der merging-Prozess der Großunternehmen mit ihrem vertikal integrierten Aufbau abgeschlossen. Vgl. hierzu erneut Spiker 1975 sowie Crary 1989.

  8. 8.

    Die Debatte war nicht neu, insofern es um die generelle Frage nach der Vermitteltheit von Kultur durch Technik im größeren Kontext von lebensweltlicher Versachlichung und Rationalisierung ging. Durch die Projektion auf die Außengröße USA wurden die positiven und negativen Aspekte dieser Problematik durch Rückspiegelung auf die eigene Nation ausgehandelt. Vgl. zeitgenössisch Halfeld 1927. Vgl. einschlägig Nolan 1994 sowie Lüdtke u. a. (Hg.) 1996. Hinsichtlich Kino und Film vgl. erneut Kaes 1990, weiterführend Saunders 1994, Ellwood/Kroes (Hg.) 1994, Garncarz 1993 sowie Saekel 2011.

  9. 9.

    Vgl. hierzu Ward 2001, bes. S. 142 ff. sowie erneut Canjels 2011, bes. S. 67 ff.

  10. 10.

    Vgl. hierzu erneut Andriopoulos 2008.

  11. 11.

    Sabine Hake schreibt, dass ökonomische, juristische und soziale Aspekte von Kino und Film in der Geschichtsschreibung als deren Vorgeschichte deklariert wurden, wodurch man die Warenförmigkeit des Films, seinen schwachen Kulturwert als ‚niedrige‘ Kunstform sowie sein unkundiges Publikum aus der Theoriebildung peu à peu herausschreiben konnte. Vgl. erneut Hake 1993.

  12. 12.

    Kulturhistorisch betrachtet, hatte sich in Deutschland bis zu den 1920er Jahren die Konsumkultur durchgesetzt. Zur Konsumgesellschaft vgl. erneut Andriopoulos 2008, weiterführend Torp 2009 sowie Reuveni 2000. Hochindustrialisierte Arbeitsteilung (Administration und Produktion), erweiterter Freizeit- und Vergnügungssektor, Kultur- und Medienverbünde brachten, neben den neuen politischen Akteur*innen wie Arbeiter*innen und Frauen, die Angestellten als neue soziale Figur hervor, deren soziokulturelle Werte, Selbstverständnis und Handlungsmuster sich deutlich von traditionell-bürgerlichen abhoben. Vgl. zur Kultur der Angestellten zeitgenössisch Kracauer 1971. Weiterführend vgl. Stegmann 2008, Kocka (Hg.) 1981 sowie Hake 2008.

  13. 13.

    Vgl. Märten 1921. Weiterführend vgl. Heller 1984, bes. S. 157 ff.

  14. 14.

    Diese anti-mimetische Linie verfolgten insbesondere Walter Ruttmann und Hans Richter. Vgl. Ruttmann 1930. Darin argumentiert er, Technik müsse von der Kunst in Dienst genommen werden zu dem Zweck, den Sieg des Geistes über die Technik herbeizuführen. Damit liegt sein Ansatz nahe an denjenigen Ernst Jüngers, Filippo T. Marinettis oder auch Adolf Hitlers.

  15. 15.

    Vgl. Benjamin 1974, S. 471–508.

  16. 16.

    Vgl. erneut Benjamin 1980.

  17. 17.

    Vgl. Kracauer 1958, 1977. Anders dagegen Bela Balázs, der 1924 dem Film aufgrund der Ästhetik der technischen Reproduktion die Fähigkeit zuschrieb, eine vom Körper ausgehende, universelle Sprache zu entwerfen, die Menschheit jenseits realer sozialer Kämpfe und Heterogenitäten vereinen sollte. Vgl. Balázs 2001.

  18. 18.

    Vgl. Kracauer 1977.

  19. 19.

    Vgl. Kracauer 1958.

  20. 20.

    Vgl. Ihering 1961.

  21. 21.

    Vgl. zur historischen Avantgarde Bürger 1974, Hewitt 1993, Huyssen/Segal 1988.

  22. 22.

    Entgegen ihrer nationalen und internationalen Breitenwirkung war die Anzahl der Filme gering. Zur Wirkungsgeschichte von Das Cabinett des Dr. Caligari als Verflechtungsgeschichte nationaler und internationaler Rezeptionen vgl. Thompson 1990 sowie Pratt 1993.

  23. 23.

    Vgl. erneut Elsaesser 2000, bes. S. 18 ff. sowie 61 ff.

  24. 24.

    Die Vorlage hierfür bildete nun nicht mehr das Theater, sondern der Roman.

  25. 25.

    Michael Budd argumentiert dagegen, dass der Stil und nicht die Erzählform das Distinktionsmerkmal der Filme bilde. Vgl. Budd 1990, bes. S. 17 f. sowie S. 23 ff. Für Elsaesser stellt Das Cabinett des Dr. Caligari ein Unikat dar, insofern der Effekt des Neuen dieser Konstellation nicht wiederholbar sei, während der Filmstil kopiert werden konnte, wie bspw. in Genuine (D 1920; R: Robert Wiene), Das Wachsfigurenkabinett (D 1924; R: Paul Leni), Raskolnikow (D 1923; R: Robert Wiene), Von morgens bis mitternachts (D 1920; R: Karlheinz Martin) und Schatten (D 1923; R: Arthur Robison). Vgl. Elsaesser 2000.

  26. 26.

    Vgl. Budd (Hg.) 1990, Kaes 2009 sowie Koebner u. a. (Hg.) 2003.

  27. 27.

    Elsaesser argumentiert mit Bezug zur Filmform, sie sei konsequenter Ausdruck des Scheiterns der von der Arbeiterschaft ersehnten radikalen gesellschaftlichen Umwälzung. Sie transportiere die gesellschaftliche Stasis in Gestalt der universalisierten individuellen psychotischen Blockade. Antagonistische Kräfte prallten unversöhnlich in Form von Unbewusstem und Doppelgängern aufeinander. Vgl. erneut Elsaesser 2000. Anton Kaes wiederum sieht darin die im Ersten Weltkrieg erlebten Traumata ausgedrückt. Vgl. Kaes 2001.

  28. 28.

    Gerade in den Filmtheorien ab Mitte der 1920er Jahre wird deutlich, dass das Konstrukt eines aus unvermittelten, heterogenen Teilen bestehenden Ganzen in Gestalt visuell und ökonomisch zu konsumierender Oberflächen sehr wohl im soziopolitischen Sinn wahrgenommen und problematisiert wurde. Vgl. hierzu zeitgenössisch Stindt 1924 sowie Harms 1924. Hierin wurde bei der Wesensbestimmung des Films de facto seine Referenz auf die soziale Wirklichkeit vollständig aufgegeben, indem sich im technischen Medium eine harmonisierte, darin idealisierte Gesellschaftsordnung (re-)produzieren sollte. Bei Harms trat dabei der Anspruch an die Filmkunst, die nationale Einheit zu befördern, sehr deutlich zutage. Auf die Spitze getrieben, konzipierte Hans Buchner den Film als Medium zur Beförderung weltweiter Hegemonie des deutschen Nationalstaats. Vgl. Buchner 1927. Die adäquate Filmform hierzu sah er im Großfilm, die zu gleichen Teilen die internationale Aufmerksamkeit erregen und den nationalen Geist erheben sollte, wofür für ihn die Fritz-Lang-Filme Die Nibelungen (D 1924) und Metropolis (D 1927) sowie Friedrich W. Murnaus Faust (D 1926) standen. Gerade hinsichtlich des letztgenannten Films macht Elsaesser überzeugend darauf aufmerksam, dass Stil und Erzählform keine Einheit stifteten, sondern den Warencharakter Deutschlands als Tourismusland und den des Films als Ergebnis von Tricktechniken geradezu parodistisch ausstellten. Vgl. hierzu erneut Elsaesser 2000, weiterführend Toeplitz 1992 sowie Zglinicki 1979.

  29. 29.

    Vgl. Elsaesser 2000, bes. S. 232 sowie Eisner 1975, bes. S. 96.

  30. 30.

    Elsaesser spricht hier, meines Erachtens zu Unrecht, von einem Quasi-Dokumentarimus, insofern er nicht in vollem Ausmaß berücksichtigt, dass diese Topoi bereits extrem zur Produktion einer bestimmten Welt-Sicht instrumentalisiert wurden. Repräsentativ hierfür steht das Genre der sogenannten Straßen- bzw. Zillefilme, wie bspw. Georg W. Pabsts Die freudlose Gasse (D 1925). Man muss für das Verständnis dieser Fälle die ältere Kunstrichtung der Neuen Sachlichkeit heranziehen, die in der Literatur in der Regel als Reaktion und damit als geradezu resignierte Akzeptanz des gesellschaftlichen Status Quo gedeutet wird, zu der sich die Filme in meist bestätigenden Bezug setzen. Zur Neuen Sachlichkeit als Kunstform vgl. Lethen 1975 sowie Plumb 2006. Zur Neuen Sachlichkeit als männlich codierter Verhaltenslehre vgl. Morat 2010. Speziell zum Verhältnis Neue Sachlichkeit und Film vgl. Kappelhoff 2003.

  31. 31.

    In der Forschung wird dies als neusachliche Kinematografie bezeichnet, worin sich eine nüchtern-objektive Haltung der Kamera gegenüber dem Sichtbaren ausdrückte. Ich halte diese Bestimmung für unzureichend. Das Gezeigte scheint so stark visuell-perspektivisch vorselektiert, dass eine bestimmte Lesart auf der Basis einer impliziten Welt-Sicht befördert wird.

  32. 32.

    Hierdurch konnte auch eine Reflexion des Zustands der sozialen Wirklichkeit einsetzen, welche maßgeblich aus Oberflächen bestand, hinter welchen sich nichts mehr befand. Vgl. hierzu Petro 1989, bes. S. 166, die in der typisierten Weiblichkeit flexible Identifikationsangebote für Zuschauerinnen als Gesellschaftssubjekte und Konsumentinnen sieht, sowie McCarthy 2009. Zum ‚Kult der Oberfläche‛ vgl. Makropoulos 2007. Bezüglich der Charakteristik der Architektur in der Weimarer Zeit vgl. erneut zeitgenössisch Kracauer 1977, bes. S. 311 ff., weiterführend Hake 2008 sowie Ward 2001.

  33. 33.

    Vgl. hierzu Browne/Mc Pherson 1980, Ruhs 1990 und Friedberg 1990b.

  34. 34.

    Vgl. erneut Hansen 1983 und Petro 1989.

  35. 35.

    Das Geschlechterverhältnis wurde zwar weiterhin binär konzipiert. Es geriet aber zunehmend durch das erhöhte Maß an juristischer, politischer und ökonomischer Partizipation und Selbstbestimmung der Frauen als arbeitende und konsumierende unter Druck. Dieses zeigte sich kulturell in den popularisierten Konzepten der ‚neuen Frau‘ und des ‚Flapper Girls‘. Vgl. mit Bezug zum Frauenwahlrecht Bridenthal/Koonz 1984, Sneeringer 2002, Canning 2010a, bes. S. 9., 2010b sowie Lefko 1997. Zur Instrumentalisierung des weiblichen Körpers für die Kolonialpolitik vgl. Wildenthal 2010. Zur Politisierung des weiblichen jüdischen Körpers vgl. Gillerman 2010. Zum Verhältnis von Weiblichkeit und Kulturpolitik vgl. Petersen 2001. Zu neuen weiblichen Lebensentwürfen vgl. zeitgenössisch Giese 1925. Weiterführend vgl. Reintsch 2014, Frame 1997, Grossmann 1983, 1986, Hake 1987, Meskimmon/West (Hg.) 1995 sowie Peiss 2004. Zur Politisierung von Frauen durch Konsum vgl. König 2001, 2008. Zu Weiblichkeit, Konsum und Schaulust vgl. Ganeva 2008, Studlar 1991, Barndt 2010 sowie Petro 1987. Es erhöhten sich aber nicht nur Partizpation und Selbstbestimmung. Vielmehr ging es weiterführend darum, alternative Lebensentwürfe zu realisieren, die nicht die Dichotomie von öffentlicher und privater Sphäre oder die der Geschlechterbinarität einfach reproduzierten. Beide Aspekte waren in der Neuen Frau und dem Flapper Girl verdichtet, weswegen sie ebenso Anklang fanden wie Gegenreaktionen hervorriefen. Nicht zuletzt deshalb brachte man diese Weiblichkeit mit der ‚Krise der Zivilisation‘ als eine ihrer Degenerationserscheinungen ebenso in Verbindung wie man auch männliches nicht-reproduktives, sprich homosexuelles Verhalten oder ‚fremde‘, sprich jüdische Lebensweisen als Degenerationsphänomene öffentlich diffamierte. Zeitgleich prosperierten schwule und lesbische Lebensentwürfe wie nie zuvor in politischer Hinsicht über die Bewegungen, in kultureller Hinsicht in Magazinen und Katalogen. Vgl. hierzu erneut Tamagne 2006, S. 1, bes. S. 113 ff. sowie Faderman/Eriksson 1990, Stümke 1989, Gordon 2006, Berlin Museum (Hg.) 1984 sowie Hohmann 1985. Diese Lebensentwürfe sind als Produkt und Effekt zunehmender Rationalisierungs- und Kommodifizierungsprozesse aller Gesellschaftsbereiche zu verstehen, die relational mit Prozessen der Affektbesetzung und Ästhetisierung (von Waren und Körpern gleichermaßen) verknüpft waren (und es bis heute sind). Vgl. hierzu erneut Eitler 2009 sowie Solomon-Godeau 1996.

  36. 36.

    Bergstrom 1985.

  37. 37.

    Zum Genre des Großstadt- bzw. Straßenfilms allgemein vgl. Grob 2003.

  38. 38.

    Beispiele für solche Filme sind Zuflucht (D 1928; R: Carl Froelich), Hintertreppe (D 1921; R: Leopold Jessner) sowie Pabsts Die freudlose Gasse.

  39. 39.

    Vgl. erneut Bergstrom 1985 sowie Petro 1989, bes. S. 155 ff.

  40. 40.

    Vgl. hierzu Nagl 2009.

  41. 41.

    Auch das Konzept von Männlichkeit änderte sich unter dem Druck, dem das Geschlechterverhältnis ausgesetzt war. Juristisch, politisch und kulturell wirkmächtig waren die traumatisierten, kriegsversehrten männlichen Körper in ihrer öffentlich gemachten Nicht-Produktivität und Nicht-Reproduktivität. Vgl. hierzu Kienitz 2001 und Bourke 1996. Bewusst entgegengesetzt, jedoch aus derselben Quelle männlicher Ohnmacht angesichts des Krieges stammend, war das Bild der durch den Krieg gehärteten männlichen Kampfmaschine, wie sie bspw. von Ernst Jünger propagiert wurde. Männlichkeitskonzepte wurden zunehmend in der medial erzeugten öffentlichen Sphäre diskutiert. Vgl. hierzu Schmidt 2000. Darin wurde zudem ‚moderne‘ Männlichkeit bereits über Konsum, Stil und Geschmack sowie Kultur und Mondänität definiert. Dieses Männerbild wurde jedoch, gesamtgesellschaftlich betrachtet, als nicht-nationalistisch und nicht-reproduktiv eingestuft. Es kondensierte sich in der Figur des Bachelors, der entweder promiskuitiv oder asexuell war und intime Beziehungen zu Frauen und Männern pflegte. Vgl. zum Bachelor erneut Petro 1989 sowie Sedgwick 1990. Die widersprüchlichen Männlichkeitskonzepte stehen im Kontext des spannungsreichen Diskursfeldes von individuellem männlichem Körper, individueller männlicher Identität und body politic in der modernisierten, rationalisierten, produktiven und kohärenten Nation und ihren (inneren) ‚anderen‘, wie traumatisierte männliche Psychen, versehrte männliche Körper, die zugleich konsumorientierte, sexualisierte und lustbesetzte, dabei unproduktive Individuen sein konnten.

  42. 42.

    Vgl. hierzu kritisch erneut Weitz 2007, bes. S. 146, Bridenthal u. a. (Hg.) 1984, Peiss 2004, Canning 2010b, Gordon 2006. Weiterführend Faulstich 2008, Föllmer/Graf (Hg.) 2005 sowie Fritzsche 1996. Der Begriff der ‚Goldenen Zwanziger‘ speziell auf Film und Kino bezogen vgl. erneut Faulstich (Hg.) 2008 sowie Korte 1998.

  43. 43.

    Vgl. Stahr 2001, bes. S. 58 f.

  44. 44.

    Diese These vertritt Gomery 1980, bes. S. 82.

  45. 45.

    Zur Einführung des Tonfilms mit Bezug zur Ausstattung der Kinos vgl. zeitgenössisch Herkt 1931 sowie Gabler 1932. Mit Bezug zu Tonpatenten vgl. zeitgenössisch Strohm 1934. Weiterführend vgl. Jossé 1984, Müller 2003a, b, Ashkenazi 2010a), Altman 1980a), Polzer (Hg.) 2002. Zur Geschichte des Tonfilms in transnationaler Perspektive vgl. Dibbets 2006. Zu Geschichte, Phänomenologie und Psycho-Physik des Tonfilms sowie zur Bild-Ton-Relation vgl. Flückiger 1999.

  46. 46.

    Zu den widersprüchlichen Debatten zum Tonfilm vgl. King 1984, Gunning 2001 sowie erneut Crary 1989, Sannwald 1999, Mühl-Benninghaus 2002, bes. S. 55 ff. sowie erneut Müller 2003a, b.

  47. 47.

    Zur Standardisierung des Tons vgl. Altman 1996 sowie erneut Crary 1989 und Müller 2003a, b.

  48. 48.

    Zum Tonfilm als Teil von Medienverbünden vgl. Mühl-Benninghaus 2001, Prümm 1995, erneut Spiker 1975, bes. S. 48 ff. sowie Gomery 1976. Zur Entstehung der Radio- und Nachrichtenindustrie vgl. Hickethier 2008, Krug 2002, Führer 1997, Leonhard (Hg.) 1997, Schneider (Hg.) 1984, Cebulla 2004, Marßolek/Saldern 1998 sowie erneut Faulstich (2008), bes. S. 17. Zum Radio als psycho-physische Technologie in der Weimarer Republik vgl. erneut Schrage 2001. Die Kooperation von Film-, Musik- und Radiotechnikfirmen wurde ab 1930 von der Regierung durch den Aufruf zur Kartellbildung gebilligt. Sie verschärfte hierzu die gesetzliche Kontingentregelung für den Import ‚ausländischer‘ Filme.

  49. 49.

    Dazu zählen die Patentrechtsstreite zwischen Filmproduktionsfirmen und Elektrokonzernen der verschiedenen Nationen. Dazu zählt auch, dass die US-amerikanischen Firmen rasch begannen, Mehrsprachen- bzw. polyglotte Filme in Europa zu produzieren, zu vermarkten und zu zeigen. Vgl. hierzu erneut Dibbets 2006 sowie Gomery 1976, 1980, bes. S. 84. Zu den Mehrsprachenfilmen vgl. Krützen 1996, Wahl 2010, Distelmeyer (Hg.) 2006 sowie Petro 2009. Zu den polyglotten Filmen vgl. erneut Krützen 1996 sowie Müller 2003b. Unter diesen Bedingungen setzte die zweite Welle der Abwanderung deutscher Regisseur*innen, Schauspieler*innen und Produzent*innen in die USA ein.

  50. 50.

    Zu Differenz und Analogie von Stumm- und Tonfilm bzw. zur Frage der Anlage des Tonfilms im Stummfilm vgl. erneut King 1984, Crary 1989, Müller 2003a, b. King vertritt die These, der Stummfilm habe zu Jahrzehntende den Tonfilm antizipiert, da sich das reduzierte Figurenspiel zunehmend auf verbalen Austausch der Figuren konzentrierte.

  51. 51.

    Repräsentativ für die erste Gruppe standen Hans Wollenberg und Wolfgang Umbehr. Vgl. Umbehr/Wollenberg 1932. Weiterführend zeitgenössisch vgl. Engl 1927, Fischer/Lichte (Hg.) 1931, Hahn 1939, Hatschek 1931, Kahan 1930, Kalbus 1935, Lichte/Narath 1945, Lolhöffel 1933, Skaupy 1932, Warschauer 1930 sowie die 1931 erschienene Sondernummer von Die Woche 33, Nr. 27 vom 04.07.1931. Zur zweiten Gruppe zählten insbesondere Sergej M. Eisenstein, Wsewolod I. Pudowkin und Grigori W. Alxandrow, die den Ton im Tonfilmmanifest kontrafaktisch zum Bild definierten. Vgl. Eisenstein u. a. 1984. Auch Walter Ruttmann definierte im Programmheft zu seinem Film Die Melodie der Welt (D 1929) den Tonfilm kontrafaktisch mit dem Satz: „Man versuche sich klarzumachen, daß Tonfilm nichts anderes sein kann als Kontrapunkt.“ Zitiert nach Ihering 1959, S. 566 f. Weiterführend vgl. Thompson 1980.

  52. 52.

    Dass „der Tonfilm“ zunächst nicht als Einheit wahrgenommen wurde, bezeugen die verschiedenen Begriffe, die für ihn kursierten, wie bspw. Geräuschfilm, Musikfilm, Filmtonoperette und Dialog- bzw. Sprechfilm. Vgl. hierzu erneut Sannwald 1999.

  53. 53.

    Vgl. Arnheim 1977, S. 58 ff., bes. S. 64, weiterführend Kracauer 1985. Zur systematischen Untersuchung von Ton-Bildverhältnissen vgl. Percheron/Butzel 1980. Speziell zum Verhältnis von Musik und Bild Gorbman 1980.

  54. 54.

    Vgl. zu diesem Punkt Elsaesser 1994, 2002.

  55. 55.

    In der Praxis kam es durch Störungen wider Willen zu solchen Reflexionsmomenten, wenn die Synchronisation von Bild und Ton fehlschlug. Vgl. hierzu erneut Müller 2003a, bes. S. 242 f.

  56. 56.

    Vgl. zur Diskussion über Tonperspektive und off-Ton erneut Müller 2003a, bes. S. 286 ff. sowie Paech/Paech 2000, bes. S. 134.

  57. 57.

    Wichtige Titel in diesem Zusammenhang sind Das Kabinett des Dr. Larifari (D 1930; R: Robert Wohlmuth) sowie Der Schuß im Tonfilmatelier (D 1930; R: Alfred Zeisler). Vgl. zur Selbstreflexivität dieser Filme erneut Müller 2003a, b), weiterführend Hagener/Hans 1999, bes. S. 14, Elsaesser 1999, bes. S. 92 ff. sowie Schweinitz 2003.

  58. 58.

    Vgl. zum Zensurwesen im Kaiserreich erneut Welch 1990, Maase 1997, Garncarz 2010a, Sturm 2000, Kopf 2003 sowie Petersen 1995.

  59. 59.

    Vgl. zeitgenössisch Michaelis 1925. Er befürwortet den Milieufilm, wenn dieser die realen Lebensbedingungen, auf die er referierte, objektivierend, sprich als gesamtgesellschaftliches Phänomen darstellte. Weiterführend vgl. Sternheim 1918.

  60. 60.

    Vgl. bspw. erneut Zglinicki 1956, bes. S. 556.

  61. 61.

    Vgl. Hagener/Hans 2000. Zum Genre der Aufklärungsfilme werden unter anderem die von Richard Oswald gedrehten Filme Es werde Licht! (D 1917), Prostitution – Die sich verkaufen (D 1919) und Anders als die anderen (D 1919), aber eben auch die spätere Produktion unter der Regie von Wilhelm (später William) Dieterle Geschlecht in Fesseln von 1928 gerechnet. Vgl. hierzu erneut Schmidt 2000, bes. S. 23.

  62. 62.

    Der Begriff der Sittenwidrigkeit besaß im Kaiserreich die Nuance, dass er durch die gesellschaftlichen (Fehl-)Entwicklungen bedingtes, im Verfall befindliches Verhalten anzeigte.

  63. 63.

    Vgl. hierzu auch erneut Sedgwick 1990, bes. S. 137 ff.

  64. 64.

    Zum Sitten-Spiegel als literarischem Vorläufer des Sittenfilms vgl. Jazbinsek 2000.

  65. 65.

    Die Struktur ist der des Obszönen in der Pornografie analog. Das Versprechen, etwas nie zuvor Gesehenes sichtbar zu machen, kann deshalb nicht eingehalten werden, weil dieses über eine Verbotsschranke hinweg erzeugt werden muss. Vgl. hierzu erneut Williams 1989. Es handelt sich daher um eine Struktur der nachträglichen Setzung eines Vorgängigen, zu dem kein unmittelbarer Bezug besteht, weswegen darauf lediglich verwiesen werden kann. Vgl. hierzu erneut Sedgwick 1990, bes. S. 136 ff.

  66. 66.

    Alle bis dahin existierenden Medien verhandelten Erotik und Sex. Vgl. hierzu erneut Crary 1996, Hentschel 2001 sowie Eitler 2009.

  67. 67.

    Bei der Aufteilung der Filme gibt es Abweichungen. Signifikanterweise wird Opium im Filmregister von Geschlecht in Fesseln als Aufklärungsfilm aufgeführt, während der Film bei Tobias Nagl als kommerzieller Sittenfilm firmiert. Schönings 1997, bes. S. 200, rubriziert Opium wiederum unter „Asien“.

  68. 68.

    Vgl. erneut Williams 1999.

  69. 69.

    Zum Konnex fremde Substanzen – Sexualität – Nervenleiden vgl. erneut Radkau 1998.

  70. 70.

    Zum Dispositiv der Sexualität erneut Foucault 1983, weiterführend Laqueur 1990. Speziell für die USA vgl. Emilio/Freedman (Hg.) 1998. Für Deutschland vgl. erneut Herzog 2005 sowie Dickinson 2001, 2007.

  71. 71.

    Vgl. hierzu Berridge/Edwards 1987, Yangwen 2005 sowie Hickman 2007. Laut Hickman wurde in den USA aus einer schlechten ‚persönlichen‘ Gewohnheit das neue medizinische Konzept der Abhängigkeit, das nun die Persönlichkeitsstruktur um den Gewohnheitsaspekt erweiterte. Vgl. Hickman 2007, bes. S. 9 f. Weiterführend für den US-amerikanischen Kontext vgl. Helmer 1998, Morgan 1981, Courtwright 1982, 2001 sowie White 1998.

  72. 72.

    Der Begriff der Abhängigkeit war insofern zentral im Diskurs über Drogen, als dass an ihm class und race verhandelt wurden. Bewusstsein und freier Wille waren stets dem eurozentrischen männlichen Subjekt vorbehalten. Eine solche Produktion nahm in der Figur des drogenabhängigen ‚Chinesen‘, der sogenannten yellow peril, in den USA Gestalt an. Der Binnenraum der USA wird hier im Inneren durch ‚fremde‘ Identitäten, durch ‚passive‘ Opiumraucher*innen nicht nur unterwandert und geschwächt, sondern, da die Droge abhängig macht, auch von der Verführung der ‚eigenen‘ Frauen (Erotik, Geschlecht) sowie der Passivität (nationale und individuelle Identität/Unproduktivität) der ‚eigenen‘ Männer bedroht. Zu den rassifizierenden kulturellen Stereotypen hinsichtlich asian-americans vgl. Chan 2001, Gollwitzer 1962 sowie Mehnert 1995. Zur historischen Lebensrealität von Chines*innen in Deutschland vgl. Amenda 2003.

  73. 73.

    Vgl. hierzu erneut Sedgwick 1990.

  74. 74.

    Hierzu zählen die Verschriftlichungen der Selbstexperimente von Thomas de Quinceys Confessions of an English Opium Eater (1821/22) über Charles Baudelaires Les paradis artificiels. Opium et Haschisch (1860) bis zu Sigmund Freuds Über Coca (1884) sowie Walter Benjamins Haschisch in Marseille (1932). Weiterführend vgl. Marschall 2000, Kupfer 1996 sowie Maren Möhring (o. A.). Gerade in den sogenannten Selbstbeichten wurde der Konnex von Drogen und Sexualität auf individueller Ebene explizit gemacht, insofern Drogen als Hilfsmittel zur Erweiterung des Bewusstseins von ‚niederen‘ Körperbedürfnissen befreien sollten wie essen oder eben Sex haben. Zudem wurde ihnen die Wirkung zugeschrieben, den Sex zu verbessern oder zu verschlechtern. Der Körper wurde im Konnex mit den Drogen zum Medium (veränderter) Selbstwahrnehmung.

  75. 75.

    Im Orientalismus wird auf Basis einer realen geopolitischen Asymmetrie eine semiotische Binarität von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ so entworfen, dass zweites einmal eindeutig abgegrenzt und zum Objekt wird, aber zugleich auch eingehegt werden kann. Wäre es radikal anders, würde es nicht intelligibel. Auf diese Weise ist die Bezugnahme seitens des ‚Eigenen‘ stets doppelt, durch Angst und Bedrohung einer- sowie Faszination und Attraktion andererseits strukturiert. Paradoxerweise konnte es dadurch wiederum als fremd und eigen konstituiert werden, wodurch das Verhältnis von ‚Eigen‘ und ‚Fremd‘ mit Bezug zu den Konturen des Anthropomorphen komplex strukturiert war. Er war zudem direkt an die Binarismen männlich – weiblich, innen – außen sowie aktiv – passiv anschlussfähig, ohne bloß dichotomisch zu wirken. Vgl. hierzu Said 1981 sowie erneut Bhabha 1994. Zum exotistischen Film vgl. erneut Struck 2003, 2010.

  76. 76.

    Dadurch, dass Dr. Gesellius Opium raucht, wird die Figur gesellschaftspolitisch gemäß der älteren Diskurse markiert, in denen Opiumrauchen etwas Anrüchiges war, verknüpft mit den Klischees des Fremden. Allerdings raucht Gesellius das Opium nicht nur, sondern er nimmt es auch ein, nicht zuletzt deshalb, weil er es als Arzt vermutlich auf legalem Wege erhält. Es handelt sich dabei um ein weiteres, neueres Stereotyp vom Mediziner im Selbstversuch nämlich bzw. vom Arzt, der selbst der Drogensucht verfällt. Sein Konsum steht damit aber auch in der vorwiegend literarischen Tradition, durch eine unnatürliche Substanz ein ‚widernatürliches‘ Begehren zu substituieren, welches wiederum indirekt in der Figur des Selbstversuchs universalisiert wird. Vgl. hierzu erneut Sedgwick 1990, bes. S. 172.

  77. 77.

    Zu den historischen Völkerschauen und Wanderausstellungen vgl. erneut Dreesbach 2005, Lewerenz 2007, Wolter 2005 sowie Honold 2004. Speziell zur archäologischen Verbindung von Völkerschau und Film vgl. Thode-Arora 1997.

  78. 78.

    Zeitgenössisch wurden bestimmte Darstellungen des Körpers durch Elemente aus der Antike zum Zweck einer Camouflage gerahmt, um sie damit vor Zensur zu schützen. Diese künstlerische Strategie wendete bspw. auch der Fotograf Wilhelm von Gloeden in seinen erotischen Fotografien von Jünglingen in dieser Zeit an. Auch der Künstler Elisàr von Kupffer verfremdete die Abbildungen nackter männlicher Körper mit den Emblemen seiner Elisarionsphilosophie. Vgl. hierzu Ricci 2007 sowie Möhring 2004. Die Erotik grenzt hart an die erotisch bis pornografischen Bildcodierungen des stag movie. Vgl. hierzu erneut Williams 1999.

  79. 79.

    Damit meine ich, dass Gesellius die mit dem Willen verbundene Aktivität ebenso verkörpert wie die willentlich eingegangene Passivität, die mit der Droge erreicht werden kann. Der aktive Wille wird eher mit der inneren Disposition einer Person verknüpft, während die Passivität, die mit der willentlichen Einnahme der Droge einhergeht, keine intrinsische Qualität der Person sein muss – sie kommt von außen, ist fremd, stammt aus einem anderen Land. Vgl. hierzu Sedgwicks Analyse von Dickens The Mystery of Edwin Drood, eines unvollendeten Fortsetzungsromans, publiziert in sechs Teilen 1870 (Dickens Tod verhinderte die Fortsetzung der geplanten sechs Teile), worin sie die interne Spaltung der Figur John Jaspers zwischen aktivem, heterosexuell orientiertem Willen und der willentlich durch die Drogen herbeigeführten Passivität erläutert, die homosozial strukturiert ist. Im Verlauf der Handlung ist diese Trennung nicht aufrecht zu erhalten. Vgl. erneut Sedgwick 1985, bes. S. 189 f.

  80. 80.

    Vgl. erneut Berridge/Edwards 1987.

  81. 81.

    Wichtig ist, dass dieser Diskurs die Arbeits- und Produktionsbedingungen der Hochindustrialisierung und ihre Auswirkungen auf das Individuum und damit die sozialen hierarchischen Distinktionen, die mit verschiedenen Arbeitsverhältnissen verknüpft waren, ausblendete. Im Gegenteil wurde mit Bezug zu Rauschmitteln und ihrer Verwendung in verschiedenen sozialen Schichten und Milieus sogar ein umgekehrtes Ursache-Wirkungsverhältnis unterstellt: Nicht die Einnahme der Drogen zur Entlastung war der Effekt von unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen in bestimmten Schichten, sondern die Menschen aus diesen Schichten griffen aufgrund ihrer sozial-evolutionären Disposition zu Drogen. Gesellius entpuppt sich hier als eine Art weichgespülter historischer Materialist.

  82. 82.

    Vgl. hierzu erneut Sedgwick 1990, S. 171 ff.

  83. 83.

    Vgl. hierzu erneut Sedgwick 1990, die die Notwendigkeit, ‚unnatürliche‘ Bedürfnisse von einem angeblich ‚natürlichen‘ Begehren abgrenzen zu wollen, so einschätzt, dass „desire must necessarily throw into question the naturalness of any desire“ (Sedgwick 1990, S. 172).

  84. 84.

    Man muss die Bedeutung der beiden Figuren und ihre jeweilige narrative Funktion trennen. Während bei Sin tatsächlich das Thema der kulturell-hybriden Familie im Vordergrund steht, besitzt Nung-Tschang einen symbolischen Status für eine Macht, die eine Staatsmacht, aber auch eine übernatürliche Macht – das ‚Böse‘ – sein könnte. Dass beide Figuren europäische rassifizierende Stereotype des Fremden darstellen, sei an dieser Stelle nochmals erwähnt. Vgl. hierzu erneut Nagl 2009, bes. S. 69 f.

  85. 85.

    Vgl. zur Geschichte des home movie Kuball 1980.

  86. 86.

    In der Forschung wird dies so ausgelegt, dass die Rahmung durch die ödipale Kleinfamilie die Ermöglichungsbedingung für erotische Darstellungen sei. Dennoch lässt sich dies nicht von Gesellius’ Verlangen nach dem Rausch, nach den künstlichen Zuständen und dem ‚widernatürlichen‘ Begehren trennen.

  87. 87.

    Der Sturz vom Pferd ist ein Topos, durch den Zustände der Veränderung von Körper und Bewusstsein herbeigeführt werden können wie bspw. auch in Max Macks Der Andere (D 1913) oder Das Tagebuch des Dr. Hart (D 1916) (s. Abschn. 2.6). Das Pferd besitzt in der Psychoanalyse auch eine erotische Konnotation. Wie weit dies hier eine Rolle spielt, lässt sich nicht schlussendlich beantworten. Aber auch bezüglich der Geschichte der Kinematografie selbst nimmt das Pferd eine Schlüsselrolle ein: Schließlich wurden in den physiologischen Labors an Pferden die Regelmäßigkeiten physiologischer Abläufe abgenommen und registriert. Es wurden an ihnen auch Bewegungsläufe mittels Kameras untersucht. Sie stehen für Dynamik und Bewegung, die im Medium Film kinematografisch reproduziert werden. Diese Funktion erhält es auch zur Dynamisierung dieses romantischen Bildes vom Ritt in den Tod in diesem Film.

  88. 88.

    Vgl. hierzu Andriopoulos 2009.

  89. 89.

    Vgl. hierzu erneut Ward 2001, bes. S. 142 ff. sowie Budd 1990, bes. S. 26. Zur Produktionsgeschichte vgl. erneut Elsaesser 2000, bes. S. 61 ff. Zur Vor- und Entstehungsgeschichte von Film und Drehbuch vgl. Prawer 1995. Vgl. zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte in Frankreich erneut Thompson 1990. Vgl. zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte in den USA erneut Budd 1990.

  90. 90.

    Vgl. erneut Balach/Bock (Hg.) 1995, bes. S. 139 ff.

  91. 91.

    Vgl. Panter ( = Kurt Tucholsky) 1995, S. 146 f.

  92. 92.

    Robert Wiene äußerte sich post festum selbst zum Film. Vgl. Wiene 1995.

  93. 93.

    Vgl. Kurtz 1926.

  94. 94.

    Vgl. hierzu auch die anknüpfende Lesart von Eisner 1975, bes. S. 21 ff. Eisner interpretiert die zeitgenössische Sicht auf den Expressionismus als künstlerisches Äquivalent der zerrissenen deutschen Nachkriegsgesellschaft, der sich wie diese nun durch Synthese erneuern sollte, wodurch ihrer Ansicht nach „ein wirklich schöpferischer und nicht reproduktiver Geist, das Weltbild nach seiner Idee um[formt]“ (Eisner 1975, S. 16). Das expressionistische Dekor erklärt sie mit den düsteren Stellen in der Objektwelt, die noch nicht durch den einfühlenden Geist umgeformt wurden und daher ihr phantomhaftes Eigenleben entfalten. Sie vergleicht dies mit Wilhelm Worringers Verständnis der Phantastik in der Romantik. Vgl. Worringer 1908. Allgemein lässt sich in Eisners Perspektive aus dieser Ansicht der Dinge die entfesselte soziale Macht erahnen, die deshalb nicht eindeutig repräsentiert oder wahrzunehmen ist. Die nur unvollständig in die Idee gehobenen Bilder, so Eisners Fazit, entsprächen dem Zustand eines verwirrten Geistes, der sich im expressionistischen setting ästhetisch ausdrückte.

  95. 95.

    Vgl. erneut Kracauer 1958, bes. S. 37 ff.

  96. 96.

    Wegen seines Vergleichs von Caligari mit Hitler über den Bezug zu Joseph Fremans 1943 publiziertem Roman Never Call Retreat wird Kracauer in der filmhistorischen Forschung für diesen nachträglichen analytischen ‚Kurzschluss‘ mit dem NS bis heute stark kritisiert. Vgl. Salt 1979, Jung/Schatzberg 1992, Minden 1988, Carroll 1978 sowie erneut Koebner u. a. (Hg.) 2003, Isenberg (Hg.) 2009, Rogowski (Hg.) 2010, Prawer 1980, bes. S. 164 ff., Andriopoulos 2008, bes. S. 90 ff., Elsaesser1990, S. 173 sowie Hansen 1983, bes. S. 165 ff.

  97. 97.

    Vgl. hierzu auch die direkt daran angelehnten Argumentationen von Caroll 1978, bes. S. 79 und Prawer 1980, bes. S. 169.

  98. 98.

    Vgl. erneut Carroll 1978, Prawer 1980, Elsaesser 1990 sowie Koebner u. a. (Hg.).

  99. 99.

    Vgl. Minden 1988.

  100. 100.

    Die durch die generelle Uneindeutigkeit bedingte, doppelte Lesart sieht Budd zudem auf Genreebene umgesetzt, insofern das Horrorelement das mit der Liebesgeschichte verknüpfte Happy End schlussendlich verhindere, was eine reflektierte, ‚modernistische‘ Lesart des Films befördere. Vgl. die feministische Kritik hieran bei Schlüpmann 1982 sowie erneut Petro 1989 und Hansen 1983.

  101. 101.

    Vgl. erneut Elsaesser 2000, bes. S. 61 ff.

  102. 102.

    In der Quintessenz stellen für Elsaesser Filmform, Sinngehalt und Subjektposition von Das Cabinett des Dr. Caligari eine große männliche Abwehrgeste gegenüber der sozialen Realität dar, in der diese Vormachtstellung durch Frauen-, Arbeiter*innen- und Migrationsbewegungen längst aufgeweicht worden war.

  103. 103.

    Vgl. Murphy 1991, worin er das Verhältnis von Stoff und Form so deutet, dass keine strikten Trennungen gemacht werden können, wodurch eine grundlegende ‚unheimliche‘ Ambivalenz im Bild entstehe, die eine unendliche Unentscheidbarkeit, gerade hinsichtlich der sich verdoppelnden männlichen Identitäten und ihres Selbst-Bezugs mit sich bringe.

  104. 104.

    Vgl. Budd 1990, Minden 1988 sowie Elsaesser 2000, bes. S. 92.

  105. 105.

    Vgl. Doty 2000, bes. S. 23 ff.

  106. 106.

    Vgl. erneut Andriopoulos 2008, Budd 1990, Elsaesser 2000, Kaes 2009 sowie Minden 1988. Betont wird in diesem Kontext zumeist, dass die Unterhaltungseinrichtungen von Kirmes (religiöser historischer Hintergrund) oder Jahrmarkt (ökonomischer historischer Hintergrund) in der historischen Zeit abgeschlossene Vorläufer des Kinos bildeten. Was aber Caligari als Showman mit Cesare hier ausstellt, ist eine Kuriosität, eine menschliche Anomalie, also ein freak. Für freak shows wurde an den Wegesrändern beim Übergang zum Hauptausstellungsplatz in Vorzelten auf Jahrmärkten oder Kirmessen mit einzelnen Attraktionen geworben, auf Englisch side shows genannt. Sie dienten dazu, das Publikum anzulocken und ‚heiß‘ auf die Vorführung der Attraktionen in den Zelten zu machen. Genau diese Tätigkeit im Vorzelt ist hier speziell kinematografisch repräsentiert. Nicht nur mit der örtlich-institutionellen Herkunft des Kinos wird in Das Cabinett des Dr. Caligari gearbeitet, sondern explizit mit der Herkunft eines besonderen Unterhaltungsgenres, bei dem es um die Ausstellung von außergewöhnlichen Körpern ging. Deren Charakteristika insbesondere darin bestanden, dass sie sich den binären Decodierungsprozessen entzogen, die sie zugleich anregen sollten. Bei Cesare handelt es sich um eine Gestalt der Liminalität und Transgression, deren anfängliche geschlechtliche, ethnische und altersbedingte Uneindeutigkeit in Eindeutigkeit verwandelt werden soll, indem sie hier in Analogie zur narrativen Dynamik gesetzt wird: Er soll zum auf ein eindeutiges Geschlecht – die Frau – bezogenen Monster werden, das die Frau bedrängt und entführt, um sie sich gefügig zu machen oder sie gar zu töten. Dieses geschlechterbinär arrangierte Handlungsmuster wird im Film abgebrochen und als dysfunktional ausgewiesen. Im Gegensatz dazu wurde die Konstellation der freak show, die auf einem Kontrakt zwischen den Zuschauer*innen und dem/n freak/s basierte, an einer anderen Stelle des Films kinematografisch komplex hergestellt. Der ursprüngliche Vertrag umfasste, dass zum einen das lebendige Ausstellungsobjekt an sich eine Anomalie, eine Abweichung darstellte. Zum anderen war es komplex mit vertrauten, normierten Aspekten von Identität, Körper, Geschlecht usw. verknüpft. Dazu gehörte, dass es in direkte Interaktion mit dem Publikum trat. Er/sie konnte bestaunt, betatscht und befragt werden. Er/sie betatschte, küsste und blickte zurück (vgl. auch die Einleitung dieses Buchs). Die kinematografische Herstellung dieser Konstellation weicht jedoch fundamental von dieser dynamisch-interaktiven Begegnung ab, indem sie deren Fluss durch Stillstellung der Körper in der Narration, im Bild und im Gemälde sowie durch die Produktion von Distanzen zwischen den Figuren blockiert. Auf das Spannungsverhältnis von side show und Spektakel im Innenzelt weist auch Crary 2002 hin.

  107. 107.

    Vgl. erneut Carroll 1978.

  108. 108.

    Zu den stark überzeichneten, stilisierten Räumen zählen noch die Gefängniszelle sowie die in zweifacher Weise verwendete, modifizierte Zelle im Sanatorium, in die erst Caligari, dann Francis eingesperrt werden. Dazu kommen noch die Gänge zwischen den Häusern im Ort und der Platz, den die Menschen häufig überqueren, die ebenfalls sehr stilisiert, aber mehr verzerrt als überzogen dargestellt sind.

  109. 109.

    Vgl. erneut Elsaesser 2000, bes. S. 92.

  110. 110.

    Vgl. erneut Prawer 1980 sowie Elsaesser 2000, bes. S. 78.

  111. 111.

    Vgl. erneut Elsaesser 2000, bes. S. 72 und S. 77.

  112. 112.

    Elsaesser 2000 und Doty 2000 weisen im Zusammenhang mit der Außenseiterposition der beiden Figuren auf ihre Namen hin, die aus dem feminin und passiv codierten Süden, sprich Italien stammten.

  113. 113.

    Von Bedeutung ist an der Inszenierung dieser Szene, dass sie mit vielen close ups von Straat und Francis arbeitet, die mittels einer Rundblende fokussiert werden. Das Verfahren ist also dem analog, Caligaris Wesen zu zeigen. Es tritt jedoch ein anderer Effekt ein, insofern sich eine Art shot-reverse-shot-Verfahren aufbaut, die jedoch ähnlich gekrümmt ist, wie die ‚Gesprächssituation‘, in der sich Francis zu Beginn des Films mit dem alten Mann befindet. Francis taxiert Straat mit seinem Blick, während der Gesprächsinhalt über Zwischentitel vermittelt wird, was die semantische Krümmung verstärkt, weil man die Figuren nicht sprechen sieht. Auch hier macht sich eine autoritäre Erzählinstanz bemerkbar, die den Dialog praktisch für uns ‚auslegt‘, indem sie ihn ‚erfindet‘.

  114. 114.

    Vgl. hierzu die Materialien zur zeitgenössischen Kritik von Hans Wollenberg, Béla Balázs und J-s. in Prinzler (Hg.) 2003, S. 129 ff.

  115. 115.

    Zur Historisierung der ästhetischen Kategorie des Fantastischen vgl. Fischer 1978.

  116. 116.

    Der Verweis auf den Spielfilm ist relevant. Bereits in der zweiminütigen französischen Meliès-Produktion Le Manoir du Diable (1896) kommt eine Vampirfigur vor. Louis Feuillade brachte 1915/1916 ein Film-serial mit dem Titel Les vampires heraus. Einen Überblick über Vampire und Vampirismus im frühen Kino bieten Karg u. a. (Hg.) 2009. Weiterführend vgl. Koebner 2004, Arnold u. a. 2000, Prüßmann 1993, Pirie 1977, Skal (Hg.) 2004 sowie Seeßlen/Jung 2006. Zur inhärenten Genrehybridität des Vampirfilms vgl. Auerbach 1995. Zur Historisierung diskursiver und medialer Funktion und Bedeutung von Vampir und Vampirismus vgl. Butler 2010, bes. S. 1 ff. Aus feministischer und queerer Perspektive vgl. Weiss 1993 sowie Williamson 2005. Aus (post-)feministischer Sicht vgl. Halberstam 1995. Aus post-kolonialer, post-race-Perspektive thematisieren den Vampir sowie das Monströse für das 21. Jahrhundert Levina/Bui (Hg.) 2010, Diawara/Klotman 1991 sowie Medovoi 1998. Zu kulturhistorischen und literaturwissenschaftlichen Positionen zum Vampir vgl. Begemann u. a. (Hg.) 2008, Schmidt 1999, Cohen (Hg.) 1996, Brittnacher 1994, Lecouteux 2001, Levine 2011 sowie Schaub 2008.

  117. 117.

    Vgl. erneut Eisner 1975, S. 99 ff. Gelungenen Expressionismus im Film macht sie an der Atmosphäre fest, die durch Spiel von Licht und Schatten, malerische Komposition sowie überirdische Transparenz bei gleichzeitig starker Plastizität des Bildes erzeugt wird. Vgl. erneut Eisner 1975, S. 21 ff. sowie Catania 2004. Zur Kritik an dieser Definition vgl. erneut Elsaesser 2000, bes. S. 227 sowie Koebner 2003a, bes. S. 25 sowie zu einer entgegengesetzten Funktionsbestimmung des Expressionismus vgl. Kuhns 1997.

  118. 118.

    Es seien hier ein paar der Drehorte erwähnt: Wismar, Lübeck, Lauenburg und Rostock, in der heutigen Slowakei am Vratnapass, in Dolny Kubyn (Nordslowakei) sowie am Fluss Váh. Die Funktion dieser ‚realistischen‘ Bilder ist auf zwei Ebenen anzusiedeln. In topografischer Hinsicht zeigen sie die Durchdringungen von vermeintlich natürlicher, natürlich-animalischer und dämonischer Welt sowie sozialer Welt an. Sie symbolisieren daher die Verbindungen verschiedener ‚Landschaften‘. In Bezug auf die Narration bilden sie die Grundelemente für ein diskontinuierliches Raumzeitgefüge, das verstörend auf die Filmzuschauer*innen wirkt. Ähnlich wie bei Wiene, konstatiert Elsaesser auch bezüglich Murnaus écriture eine bewusste Abwandlung bereits etablierter Erzähltechniken, womit sich die Dominanz des Tableaus in Murnaus Filmen erklärt. Insofern ist auch in Nosferatu der Sinnzusammenhang als Resultat einer höheren Erzählinstanz erkennbar. Daher spiegeln die symbolischen Landschaftsbilder weniger die psychische Disposition der Charaktere wider, sondern verweisen auf sich als Erzähleinheiten des Filmnarrativs. Charakteristisch für den Film ist die Gegenüberstellung von ‚natürlichen‘ Landschaften und Stadtansichten.

  119. 119.

    Vgl. hierzu erneut Eisner 1975, Elsaesser 2000, weiterführend Pérez 1971, 1993 sowie Weinstock 2012, bes. S. 81. Vgl. zu Funktion und Bedeutung des Raums in Nosferatu erneut Pérez 1971 sowie Koebner 2003a, bes. S. 10 ff.

  120. 120.

    Dass diese historische Periode politisch keineswegs harmlos ist, darauf macht Butler deutlich aufmerksam. Vgl. hierzu erneut Butler 2010, bes. S. 156.

  121. 121.

    Vgl. hierzu Unrau 1996, Butler 2010, bes. S. 156 ff. sowie ansatzweise auch Koebner 2003a, bes. S. 28 f.

  122. 122.

    Vgl. zur Problematik, Funktion und Bedeutung der Figur zu vereindeutigen, Kracauer 1958, S. 50. Bei Unrau verkörpert Nosferatu den Tod, bei Butler das Prinzip des Zusammenbruchs von Gesundheit und Identität und daher ‚das Andere‘ schlechthin. Bronfen sieht in ihm ein Medium, das Krankheit und Tod auslöst bzw. die Beziehung zum Anderen vermittelt. Roth interpretiert Nosferatu in Anlehnung an Kracauers Systematik des Tyrannenfilms als eine ungezügelte Kraft der Tyrannei. Vgl. erneut Roth 1979. Der Tyrannenthese folgen im Großen und Ganzen auch Unrau 1996 und Butler 2010. Kaes dagegen interpretiert Nosferatu als Allegorie des mit dem Tod konfrontierten jungen Soldaten. Vgl. Kaes 2009, bes. S. 88.

  123. 123.

    Vgl. Lane 1979. Kracauer kritisiert die Lesart vom Opfer scharf. Vgl. hierzu Kracauer 1958, S. 50. Kaes sieht im Opfer die Aufarbeitung des (männlichen) Traumas durch den Ersten Weltkrieg umgesetzt. Vgl. erneut Kaes 2009, bes. S. 86 ff.

  124. 124.

    Hieraus bildete sich eine Legende zum Film. Vgl. hierzu erneut Arnold u. a. 2000. In diesem Materialienband findet sich auch ein Teil der zeitgenössischen, sehr kontrovers geführten Debatte in den Filmkritiken. Vgl. zu den verschiedenen Filmfassungen, vornehmlich in Europa und den USA, auch Patalas 2005.

  125. 125.

    Vgl. Mayne 1986.

  126. 126.

    Vgl. zu diesem Punkt erneut Butler 2010, bes. S. 159.

  127. 127.

    Vgl. erneut Mayne 1986 sowie Bergstrom 1985 und Bronfen 1990.

  128. 128.

    Vgl. Pérez 1993.

  129. 129.

    Vgl. die Position von Kaes, worin Ellen als typische Hysterikerin das Kollektiv der Deutschen nach dem Krieg repräsentiert, die sich mit der Wiederkehr des verdrängten Horrors des Krieges konfrontiert sehen. Vgl. Kaes 2009, S. 116 f.

  130. 130.

    Vgl. Arata 1990.

  131. 131.

    Auf den Zusammenhang von Narration als Reproduktion geht auch insbesondere Ruthner 2006 ein. Gerade Medien, so Ruthners Argument, erweisen sich oft als unzuverlässige Quellen beim Versuch, das Unheimliche intelligibel zu machen. Speziell zum Verhältnis von Vampirismus, (technischer) Reproduktion und kolonialer Moderne vgl. Abbott 2007.

  132. 132.

    Die monströse Abkunft des Vampirs steht im historischen Kontext der (britischen) freak shows. Nicht zufällig zählte Count Orloff, wie der ‚eigentliche‘ Titel Nosferatus ist, zum Arsenal deren bekannter historischer Figuren, der um 1900 sogar seine eigene Agentur zur Vermittlung von freaks besaß. Vgl. hierzu erneut Durbach 2010, bes. S. 11.

  133. 133.

    Unrau 1996 behauptet, während bei Stoker schlussendlich sämtliche Ambivalenzen aufgelöst würden, dominierten sie in Nosferatu bis zuletzt. Demgegenüber sehen Bronfen und Butler in Nosferatu klare Grenzen restituiert, während in Dracula bis zuletzt jegliche eindeutige Position aufgeschoben bleibe. Vgl. hierzu auch Aratas 1990 Argument bezüglich Dracula. Zum Vergleich von Dracula und Nosferatu vgl. auch Kaes 2009, S. 98 ff.

  134. 134.

    Zum materiell-semiotischen Konnex von Nicht-Natürlichem und Nicht-Menschlichem, welches sich in der Figur Nosferatus überkreuzt, vgl. Steinborn 2013. Zum quasi Cyborgstatus des Vampirs vgl. Stone 1995.

  135. 135.

    Vgl. dagegen Butler, der Themen wie Sexualität, Tod und Angst vor dem, den ‚Fremden‘, vor Neuem, Obskurantismus, Technik, Kapitalismus, Revolution, usw., gerade deshalb als sekundäre Elemente betrachtet, weil sie für ihn lediglich historisch spezifische Ausprägungen annehmen können. Dazu zählt für ihn auch der zeitgenössische Antisemitismus, den er biopolitisch erläutert. Vgl. Butler 2010, bes. S. 160 ff. Zum Verhältnis von historisch ‚realer‘ Angst vor Sexualkrankheiten und Dracula vgl. Showalter 1990. Vgl. zum Thema Reinheit und Verunreinigung in kulturanthropologischer Sicht Douglas 2002.

  136. 136.

    Vgl. Elsaesser 2000, S. 223 ff.

  137. 137.

    Vgl. zur Farbe im Kino einschlägig Marschall 2005.

  138. 138.

    Ebenfalls deutlich wird das Konstruieren eines Gesamtzusammenhanges in den Szenen, in denen Bulwer seinen Studenten die Natur des Vampirismus bzw. den Vampirismus als natürliches Phänomen anhand einer fleischfressenden Pflanze und eines semi-transparenten Polypen erklärt. Zunächst wird in einem establishing shot die Situation erläutert. Darauf folgen nähere Einstellungen von Bulwer, der vor einem Terrarium steht und sich vorbeugt. Dennoch sind die Inhalte und Objekte der folgenden Szenen, die das Geschehen im Detail zeigen, eindeutig nicht Teil der diegetischen Welt. Besonders im Fall des Polypen handelt es sich um eine quasi-dokumentarische Einstellung, die vermutlich einem wissenschaftlichen Lehrfilm entnommen wurde. Vor schwarzem Hintergrund ist der Polyp im Aquarium so beleuchtet, dass seine Konturen deutlich zu sehen sind. Zunächst gibt es kaum Bewegung im Bild. Dann bewegt sich das Tier Richtung oberer Bildrand, von wo es ein Kleintier erbeutet, das ihm zur Fütterung gegeben wird (vermutlich mit einer Pinzette dargereicht). Bulwers Erklärung mutet seltsam an: Er erläutert nicht das Sichtbare als naturwissenschaftliches Faktum. Vielmehr deutet er den Polyp analog eines Vampirs auf Basis seiner materiellen Ähnlichkeit („wie ein Phantom“). Die Bezüge zwischen den Einstellungen sowie zwischen Gesagtem und Sichtbarem sind mehr als diffus und wirr. Ihre Anordnung weist sich als willentlicher Akt einer übergeordneten Erzählinstanz aus, deren Zusammenhang herbeigebrochen zu sein scheint.

  139. 139.

    Vgl. erneut Mayne 1986.

  140. 140.

    Mayne teilt den Film grob in drei Teile ein: Hinreise Hutters; Rückreise Hutters; Nosferatus zeitgleiche Reise nach Wisborg. Bereits den ersten Teil könnte man weiter in zwei Teile unterteilen, da ein großer funktionaler und sinnstiftender Unterschied zwischen Hutters Reise und seinem Aufenthalt auf dem Schloss besteht. Ab dem Zeitpunkt, ab dem Nosferatu das Schloss verlässt, verkompliziert sich das filmische Narrativ dadurch, dass mindestens drei alternierende Erzählstränge entstehen. Dazu kommt noch die Episode mit Bulwers pseudo-wissenschaftlicher Veranschaulichung, die an den Rest der Handlung wenig anschlussfähig ist. Sie lässt sich kaum innerdiegetisch verorten, zeitlich determinieren oder fixieren. Nosferatus Schiffsreise, das Wüten der Pest auf dem Schiff, Hutters Rückreise zu Fuß und zu Pferd, Ellens Warten sowie ihre Vorahnungen werden nicht nur alternierend gezeigt, sondern gehen beinahe unmerklich ineinander über, sobald das Schiff im Hafen von Wisborg angelangt ist, auch wenn es keine eindeutigen zeitlichen Hinweise für einen linearen Ablauf des Geschehens gibt. In Wisborg werden diese Erzählstränge noch durch jenen Strang erweitert, in dem die Honoratioren der Stadt, wie bspw. der Bürgermeister, Dr. Sievers, der Stadtarzt, sowie Harding, der Reeder, dem die Empus gehört, versuchen, das Rätsel des ‚Geisterschiffes‘ zu ergründen. Vgl. erneut Mayne 1986.

  141. 141.

    Gemeint sind hiermit vor allem Nosferatus Brief an Knock, Das Buch der Vampyre, Hutters Brief an Ellen, der Logbucheintrag des Kapitäns sowie die öffentliche Bekanntmachung der Pest mit den Verhaltensregeln für die Bevölkerung.

  142. 142.

    Nach Friedrich Kittler antizipierte die Schriftkultur der Romantik das Medium Film, indem die Einbildungskraft einen Fluss erzeugte, der dem Film ähnelte, welcher vor dem inneren Auge des Subjekts ablief. Dieses bekam die Differenz von ‚Schein‘ und ‚Wirklichkeit‘ nicht mehr richtig in den Blick. Um 1900 löste sich die romantische Vorstellung technisch ein, stellte dabei aber ihre Konstruktionsprinzipien aus, wofür auch Nosferatu ein Beispiel darstellt. Das Argument richtet sich auch gegen die Position Eisners. Vgl. Kittler 1995.

  143. 143.

    Entgegengesetzt argumentiert Bronfen 1990, die eine wahrhaftig biedermeierliche Idylle annimmt.

  144. 144.

    Vgl. erneut Koebner 2003a.

  145. 145.

    Vgl. auch Abbott 2007.

  146. 146.

    Vgl. hierzu erneut Lecouteux 2008 sowie Schaub 2008.

  147. 147.

    Mit Tier-Werden ist hier das Konzept von Gilles Deleuze und Félix Guattari gemeint, das sie in Tausend Plateau darlegen. Vgl. Deleuze/Guattari 2002.

  148. 148.

    Vgl. Koebner 2003a, bes. S. 24. Weiterführend zum Antisemitismus vgl. Kaes 2009, bes. S. 108 ff., Müller 1999 sowie Gelder 1994.

  149. 149.

    Vgl. hierzu erneut die absolut überzeugende Argumentation Aratas 1990 bezüglich Dracula, worin er von „reversed colonization“, der Angst vor der Unterwanderung, der Übernahme durch das ‚Fremde‘ schreibt und das fehlende Spiegelbild so deutet, dass die britische Gesellschaft nicht in der Lage war, das eigene ‚Fremde‘, hier den Imperialismus und die Kolonisierung, zu erkennen. Der Spiegel dient somit, auch in seiner negativen Variante, als textuelle Figur und dabei als Medium der Selbsterkenntnis.

  150. 150.

    Vgl. zur Ontologie und Geschichte des Spiegels in westlichen Kulturen Melchior-Bonnet 2001.

  151. 151.

    Vgl. erneut Dyer 1990, bes. S. 35 ff. Zur Charakterisierung des zeitgenössischen schwulen Typus der ‚Tante‘ vgl. erneut Gordon 2006. Diese Typen hatten besonders während der Weimarer Republik Konjunktur oder waren zumindest während dieser Zeit in der Gesellschaft am sichtbarsten.

  152. 152.

    Interessant ist an dieser These darüber hinaus, dass Dyer damit seine frühere These zur Allegorisierung von Sex durch den Vampirismus insbesondere in der Literatur revidiert. Vampirismus sei eine, so Dyer dort mit historischem Blick in die Literatur, im Prinzip die Strategie, schwule und lesbische Formen der Liebe und Sexualität stellvertretend zu repräsentieren und qua Camouflage dadurch einer heteronormativen Kultur zugänglich zu machen. Vgl. Dyer 1988.

  153. 153.

    Vgl. zur Typologie des ‚Buben‘ erneut Gordon 2006, bes. S. 80 ff. Auch der ‚Bube‘ ist eine Figur schwuler Selbstinszenierung mit Hochkonjunktur zur Zeit der Weimarer Republik.

  154. 154.

    Koebner schreibt bezüglich des Vampirismus als stellvertretender Repräsentation von Sexualität, Vampire zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass sie alle und jeden geschlechterübergreifend bissen. Wie das genau gemeint ist, bleibt unklar. Man könnte dies in abschätziger Weise auf nicht-heterosexuelle Praktiken beziehen. Man könnte aber auch darin in allegorischer Lesart des Vampirismus die polymorph-perverse Lust von Vampir*innen erkennen. Vgl. erneut Koebner 2003a. Entgegenzusetzen wär diesem Standpunkt, dass die Praxis, geschlechterübergreifend zu beißen, eine universalisierte Camouflage dafür darstellt, dass das eigentliche Objekt der Begierde beim Blutsaugen ein spezifisch minorisiertes, gleichgeschlechtliches Objekt sei. Vgl. hierzu erneut Dyer 1988. Die entscheidende Stelle im Film bezüglich Nosferatus uneindeutigen Begehrens ist meines Erachtens jene, in der Literatur oft angeführte, in der Nosferatu beginnt, Ellen zu manipulieren. Er steht darin mit starrem Blick am Fenster seines Hauses und blickt in die Kamera. Die frontalen Einstellungen auf ihn werden mit einer Ansicht der Schlafkammer Ellens verschweißt. In der Literatur wird argumentiert, Nosferatu beobachte Ellen, weil er sie begehrt. Dass aber in dieser Szene Hutter in einem Sessel am Fuße von Ellens Bett schläft und zwar als schöner männlicher Schläfer, wie zuvor am Kamin, wird schlichtweg übersehen. Worauf oder auf wen von den beiden sich Nosferatus Begehren richtet, ist nicht entscheidbar.

  155. 155.

    Vgl. Bergstrom 1985.

  156. 156.

    Bergstrom geht davon aus, dass in Murnaus Filmen eine männliche Figur visuell in die passive Position des Angeschaut-Werdens versetzt wird, die weiblich codiert ist, ohne jedoch konkret mit weiblichen Attributen ausgestattet zu sein. Im Falle von Nosferatu macht sie dies an jener Kaminszene fest, die sich an Nosferatus ersten Übergriff auf Hutter am nächsten Morgen anschließt.

  157. 157.

    Bergstrom bezieht sich hier auf Mulveys psychoanalytisch informierte Ausführungen zu Position und Effekt von Weiblichkeit im narrativen Spielfilm, wobei diese erwähnt, dass das Bild der (passiven) Frau dazu tendiere, die Narration anzuhalten. Um ihre These von der Entkopplung von Geschlechteridentität und Begehrensart zu erläutern, greift Bergstrom auf Freuds Konzept von der sexuellen Identität zurück, indem sie betont, dort sei die Relation von sexuellem Objekt und sexuellem Ziel nicht determiniert. Vgl. erneut Bergstrom 1985, S. 200. Das aus einer Quelle stammende Begehren sei in Bezug auf Objekt und Ziel keineswegs stabil. Mulvey dagegen teile, so Bergstrom, den Apparat zu strikt geschlechterspezifisch auf in ein passives Bild von Weiblichkeit, das exklusiv Objekt und Ziel eines aktiven männlichen Blicks sei. Dabei blieben die Begehrensströme stets, so Bergstroms Kritik, an die Figuren gebunden.

  158. 158.

    Auch in diesem Moment bleibt er noch ganz kinematografisches Wesen, da er sich zuerst in eine Rauchwolke à la Robertson hüllt, um dann durch Stoptrickverfahren vollends zu verschwinden.

  159. 159.

    Ich beziehe mich in der Analyse auf die rekonstruierte Fassung des Filmmuseums im Stadtmuseum München in Zusammenarbeit mit Transit Film.

  160. 160.

    Sigmund Freud war als Berater vorgesehen, reagierte jedoch skeptisch auf das Projekt, die psychoanalytische Methode in Film zu übertragen, worüber er sich mit seinen Kollegen Karl Abraham und Hanns Sachs, der die Beratung übernahm, schriftlich austauschte. Vgl. hierzu Jones 1957, Chodorkoff/Baxter 1974 sowie Konigsberg 1995. Zum Themenkomplex Film und Psychoanalyse speziell in Geheimnisse einer Seele vgl. Friedberg 1990b. Zur zeitgenössischen Akzeptanz der Psychoanalyse als sogenannte ‚jüdische Methode‘ vgl. Gilman 1993a, b. Zur Färbung der Methode mit religiöser Alteritätserfahrung vgl. Ruhs 1990.

  161. 161.

    Publiziert wurde das Pamphlet 1926 unter dem Titel Psychoanalyse: Rätsel des Unbewussten. Vgl. hierzu Heath 1999. Heath weist darauf hin, dass der Inhalt eines Traums eine verschobene Darstellung sei. Zudem ließe sich die zeitgleiche Popularität von Kino und Psychoanalyse damit erklären, dass beides Maschinen zur Synthese reproduzierter Einzeleindrücke darstellten, die vollkommen dem Zeitalter der Rationalisierung und dem Willen zum Wissen von lebendigen Prozessen entsprächen. Vgl. zudem erneut Konigsberg 1995, bes. S. 529, der auch auf die bemerkenswerten Differenzen zwischen deutscher und englischer Schnittfassung des Films eingeht.

  162. 162.

    Mit Bezug zur Illustration der Psychoanalyse im Film werden in der Forschung Analogien zu anderen Genres wie dem Aufklärungsfilm gezogen, so bspw. bei Webber 2009. Bergstrom ordnet ihn dem Kulturfilm zu. Vgl. Bergstrom 1990a. Zum sogenannten Aufklärungs- bzw. Sitten- und Tendenzfilm s. Abschn. 3.1 und 3.5.

  163. 163.

    Dr. M-I (Dr. Mendel) 1926.

  164. 164.

    Vgl. erneut Münsterberg 1916. Für Friedberg steht die Metageschichte der bislang theorielosen Verbindung zwischen Psychoanalyse und Kino noch aus. Aktuellere Versuche diesbezüglich finden sich u. a. in Pauleit u. a. (Hg.) 2009.

  165. 165.

    Als Gegenentwurf zum Expressionismus gedacht, werden die akademischen Debatten hierüber selbstredend heterogen geführt. Zum Begriff der neuen Sachlichkeit als epistemologisches und ästhetisches Konzept vgl. McCormick 2001, bes. S. 39 ff., erneut Ward 2001 sowie Petro 1989. Zu den unterschiedlichen Ausdifferenzierungen des Stils der Neuen Sachlichkeit, die man auch politischen Lagern nicht exakt zuordnen kann, vgl. ebenfalls McCormick 2001. Weiterführend vgl. Schmied 1969, Willett 1978, erneut Lethen 1975 sowie Plumb 2006. Zur männlichen Codierung des Begriffs, die einer Feminisierung der Kultur gegenübergestellt wurde, erneut McCormick 2001 und Petro 1989.

  166. 166.

    Vgl. hierzu McCormick 2001, Laqueur 1974 sowie Weitz 2007.

  167. 167.

    Vgl. zu den zeitgenössischen Debatten über das Medium Film und dessen Potenzial, anti-mimetisch zu sein, erneut Hake 1993 (s. Kap. 3).

  168. 168.

    Bergstrom sieht die andere Tendenz des distanzierten Registrierens der Phänomene in den Filmen von Lang realisiert. Dieser setzte ihrer Ansicht nach (noch) weniger auf psychologische Tiefe der Charaktere, sondern gerade weiterhin auf Typen. Jedoch wurde dadurch ihr Bezug zum gesellschaftlichen Ganzen stärker betont. Vgl. Bergstrom 1990a.

  169. 169.

    Vgl. Friedberg 1990a, bes. 41 ff. Weiterführend hierzu erneut Konigsberg 1995, der auf die Funktion der verschachtelten Handlungsstruktur hinweist, sowie Ruhs 1990 psychoanalytische Lesart des Films.

  170. 170.

    Vgl. erneut Bergstrom 1990, bes. S. 177 ff. Vgl. die ähnliche Argumentation von McCormick 2001, bes. S. 95 ff.

  171. 171.

    Vgl. erneut Webber 2009. Die Neugierde, wissen zu wollen, ist bei ihm weiblich codiert. Sie zielt einmal auf das Wissen von der geheimen Brutalität männlicher Sexualität sowie auf das männliche Wissen, welches wiederum auf Weiblichkeit gerichtet ist und den weiblichen Willen zum Wissen bestraft.

  172. 172.

    Vgl. hierzu Webber 2009, bes. S. 201 ff.

  173. 173.

    Die Kamera geht bei der Fokussierung ihrer Objekte nicht beliebig vor, ändert jedoch ad hoc den Fokus in einer Einstellung.

  174. 174.

    Die Turmszene ist bspw. dahingehend abgewandelt, dass wir vom Ersteigen des Turms, der im Traum dreimal in Zeitlupe gezeigt wird, nur den Anfang und den Schluss sehen. Auch fehlen die Gesichter der Fremden, die den Mann scheinbar hämisch auslachen. Ebenso ist die Reihenfolge, in der über die Glocken in starker Untersicht die Gesichter der Frau, des Dienstmädchens sowie der Assistentin (Hertha von Walther) geblendet werden, verändert. In der Seeszene, in der die Frau mit ihrem Vetter Boot fährt, von weit oben vom Mann beobachtet durch das kleine Fenster des Labors, werden die beiden beim ersten Mal in einer intimen Situation fokussiert. Sie kulminiert darin, dass auf der Wasseroberfläche die Puppe erscheint, die von der Frau herzlich aufgenommen wird, um sie dem Vetter zu übergeben. In der Fortführung der Szene als Traum winken beide Figuren nach oben Richtung Kamera, wo sich vermeintlich der Mann hinter dem Fenster befindet. In der Wiederholung während der Therapie liegt nun der Fokus darauf, dass die Frau die Puppe herzt und küsst, das Winken wird nicht wiederholt. Auch die Szene im Tempel, in dem der Mann in der Statue das Gesicht seiner Frau erkennt, eine Notiz schreiben will, die aber schon das Telegramm des Vetters ist, wird in der Wiederholung so verändert, dass das Gesicht der Frau gar nicht mehr erscheint. Stattdessen sehen wir, wie die vom Mann fortgeworfene Notiz auf den Boden fällt und dort in Rauch und Feuer aufgeht.

  175. 175.

    Im ersten Teil der Szene steht der Mann rechts neben der Frau auf dem Podest, in einer totalen Einstellung, von schräg hinten links, den Blick gesenkt, aber den Kopf zu ihr gedreht. Beide sind vom Durchgang gerahmt, der mit Vorhängen gesäumt ist. Der Raum hinter ihnen ist unbestimmt und liegt im Halbschatten. Von links oben fällt Licht auf die beiden. Sie lächelt ihn etwas verunsichert an. Dann sehen wir, wie ein Schatten von links auf die Gestalt der Frau zu fallen beginnt. Eine nähere Einstellung zeigt, wie der Schatten gerade auf der Höhe ihres Schoßes Halt macht. Wir sehen auch die geballten Fäuste des Mannes, der daneben steht. Im nächsten Teil der Szene, die etwas später folgt, aber die chronologische Fortführung zu sein scheint, sehen wir den Vetter frontal vor unbestimmtem hellen Hintergrund herzlich lächelnd Richtung Kamera gehen. In der nächsten Einstellung sehen wir alle drei wieder in der Totale, der Mann steht nun zwischen der Frau und dem Vetter, wobei der Vetter auf den Mann lächelnd zutritt, ihm die Hand gibt und die andere auf dessen Schulter legt. Worauf sollen wir aber durch die leichte Differenz in der Wiederholung aufmerksam gemacht werden? Wo ist der Erkenntnisgewinn anzusiedeln? Tritt der Mann zwischen den Vetter und die Frau, um seinen sexuellen und Besitzanspruch gegenüber dem Vetter anzumelden und zu verteidigen? Oder treten sich der Vetter und der Mann einfach nur herzlich entgegen, wie sie dies immer tun, wobei die Frau als Dritte, wie immer, außen vorsteht? Letztlich bleibt dies un/entscheidbar.

  176. 176.

    Im zweiten Teil des Films ist die Zeitordnung noch schwerer nachvollziehbar. Während im ersten Teil ein paar Tage vergehen, deren Ablauf durch die konkrete Ankunft des Vetters determiniert ist, lässt sich für den zweiten Teil kaum mehr sagen, wie viel Zeit bis zum sogenannten Abschluss der Therapie vergangen ist. Zwar gibt ein Zwischentitel inmitten der Therapie Auskunft darüber, dass „einige Monate“ vergangen seien. Die Bildinhalte bleiben jedoch gleich: Wir sehen stets den Mann im Behandlungszimmer des Arztes, dazwischen die Einsprengsel von Erinnerungen, Traumausschnitten, Phantasien, Gedanken. So intim die Situation zwischen den beiden Figuren ist – alle Außenwelt scheint beinahe vollständig ausgeblendet zu sein, die Parallelhandlungen begrenzen sich auf wenige Szenen –, so verdichtet und kontinuierlich scheint darin jeweils die Zeit abzulaufen, wie sie zugleich in der Kombination der wiederholten Szenen völlig achronisch ist.

  177. 177.

    Vgl. erneut Webber 2009 sowie Konigsberg 1995.

  178. 178.

    Die koloniale Fotografie besaß zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Versicherungsfunktion für die männlichen Vertreter kolonialer Macht zu einem Zeitpunkt, als die Stabilität in den Kolonien gar nicht mehr gesichert war und die Position von Männlichkeit in den häuslichen Gefilden ebenfalls durch die Frauenbewegung, das Phänomen der ‚Neuen Frau‘ und erwerbstätige Singlefrauen erschüttert wurde. Die Abbildungen zeigten dabei meist den Herrn der Safari, den kolonialen Herrscher, der sich mit Triumphgebärde über ein erlegtes Tier beugte, meist, aber nicht immer umgeben von Vertretern des indigenen, unterworfenen Volkes. Dabei musste stets größter Bedacht darauf gelegt werden, den Mann nicht zum reinen Schauobjekt des fotografischen Blicks sowie der Betrachterin gerinnen zu lassen – daher die Pose des Triumphes. Vgl. hierzu auch Vettel-Becker 2005 sowie Bate 2004. Im Laufe der Tradition der Safari verschob sich die Bedeutung des Fotos dahingehend, dass es weniger um die Inhalte als vielmehr um das Foto als Beweis und Inbesitznahme von Macht ging. Vgl. hierzu Ryan 1997, der dies für das britische Weltreich erörtert, sowie Hashemi Yekani 2012.

  179. 179.

    Vgl. Barthes 1985.

  180. 180.

    Vgl. zur Fotografie als Sicherungsinstrumentarium bürgerlicher Normativität erneut Sekula 1986 sowie Tagg 1993.

  181. 181.

    Vgl. Benjamin 2019.

  182. 182.

    Vgl. Browne/McPherson 1980.

  183. 183.

    Inhaltlich und narrativ betrachtet, stimmen die Übergabe der Puppe und das Schießen des Fotos also keineswegs zeitlich überein, wie Browne und McPherson schreiben. Epistemologisch ist dies aber nicht von Belang, da der Film als Erinnerung die Beweisfunktion der Fotografie fundamental ausgehebelt hat. Man muss dabei erwähnen, dass die Erinnerungssequenz durch Einschübe der Therapiesitzung im Behandlungszimmer des Arztes unterteilt ist.

  184. 184.

    Die visuelle Ebene wird dann symbolisch dahin gedeutet, dass das Mädchen die Frau repräsentiert, die dem Vetter ein Kind schenkt so, wie die Frau dem Mann ein Kind schenkt, um den Phallus durch das Kind zu besitzen, an dem es ihr eigentlich mangelt. Das Motiv der Eifersucht bezieht sich darauf, dass die Frau die reproduktive Funktion nicht mit ihm, sondern mit dem Vetter erfüllt.

  185. 185.

    Es ist dabei kein Zufall, dass aus dem Bild sämtliche Parameter getilgt sind, die Kategorien wie Klasse und Ethnie indizieren. Das Bild erscheint ‚sachlich-objektiv‘ als natürliche Konsolidierung der Kernfamilie, überzeitlich einerseits, mit einer nationalen Unterströmung versehen andererseits, jenseits aller sozialen, politischen und religiösen Kategorien der Differenzbildung in der sozialen Realität.

  186. 186.

    Vgl. hierzu erneut Bergstrom 1990, Friedberg 1990b sowie Konigsberg 1995.

  187. 187.

    Es handelt sich bei der vorliegenden Fassung um die 1996 vom Filmmuseum München und der Stiftung Deutsche Kinemathek restaurierten Film, basierend auf einer zensierten Fassung von 1930 aus dem Bestand Gosfilmofond sowie einer französischen Fassung, die von der Deutschen Kinemathek archiviert wurde. Beide Fassungen wurden so zusammengefügt, dass sie der Originalfassung weitgehend entsprechen. Fehlende Zwischentitel wurden um die Texte der vorliegenden Zensurkarten ergänzt.

  188. 188.

    Ein Filmbeispiel für die Behandlung des § 218 des Strafgesetzbuches ist Cyankali von Hans Tintner, der am 20. Mai 1930 Premiere hatte und auf dem gleichnamigen Theaterstück von Friedrich Wolf aus dem Jahr 1929 basierte. Vgl hierzu erneut Petro 1989 sowie Dohrmann 2000.

  189. 189.

    Die rechtsgerichtete Kritik wiederum machte den Film schlecht und stellte den sozialpolitischen Anspruch an sich infrage. Zu weiteren Kritiken bezüglich des Films in der Welt am Montag, in Der Kinematograph, im Film-Kurier sowie in Paimanns Filmlisten vgl. die Quellen in Gallwitz 2000, bes. S. 165.

  190. 190.

    Vgl. hierzu Rogowski 2010, bes. S. 215. Der Begriff Aufklärungsfilm war nicht Bestandteil des zeitgenössischen Vokabulars zum Film. Vgl. hierzu auch erneut Gallwitz 2000, bes. S. 154. Vgl. allgemein zum Aufklärungs- und Sittenfilm im Kino der Weimarer Republik erneut Hagener (Hg.) 2000, darin zum Genre des Aufklärungsfilms erneut Schmidt 2000.

  191. 191.

    Rogowski bezeichnet die reißerisch gemachten Filme sogar als „sexploitation films“ (Rogowski 2010, S. 215).

  192. 192.

    Vgl. zum Genre der Sexual- und Aufklärungsfilme während der Weimarer Republik s. Kap. 3 und Abschn. 3.1.

  193. 193.

    Um dem Film Respektabilität zu verleihen, war in der Kinoinformationsbroschüre des Tauentzienpalastes der Synopse der Story eine Stanze aus dem Dritten Gesang von Dantes Inferno vorangestellt. Der Film erhielt schließlich nach Prüfung das Prädikat „künstlerisch wertvoll“, wodurch er von der Vergnügungssteuer befreit war. Vgl. zur weiteren Aufführungsgeschichte des Films erneut Rogowski 2010, S. 216 und S. 233 sowie Gallwitz 2000, S. 163 f.

  194. 194.

    Vgl. Plättner 1929, mit einem Vorwort von Magnus Hirschfeld und Felix Abraham. Das Buch wurde ein Jahr nach der Premiere des Films publiziert. Plättner schilderte nicht nur seine Erlebnisse, sondern stellte einen Katalog von Forderungen für eine Reform des Strafrechtvollzugs auf. Vgl. Plättner (1929), bes. S. 21 ff. Vgl. hierzu auch Gallwitz 2000, bes. S. 156 und 163, der die historischen politischen Umstände hinsichtlich der Strafrechtsreform erläutert. Auf welche Arbeit Höllerings zur Sexualnot von Häftlingen im Gefängnis sich der Zwischentitel konkret bezog, ist nicht nachvollziehbar. Fraglich ist generell, ob es sich um eine faktische oder eine fiktionale wissenschaftliche Arbeit handelte.

  195. 195.

    Vgl. zu Erich Mühsams Vortrag über Sexualnot zeitgenössisch Hirschfeld 1930, bes. S. 720 f. Zu Ernst Tollers Überlegungen zur Strafrechtsreform vgl. Toller 1931. Zu den Verbindungen des Instituts zu linken politischen Gruppierungen in der Weimarer Republik vgl. Fuechtner 2002.

  196. 196.

    Rogowski stimme ich darin zu, dass mit dieser Forderung nach einem universellen Menschenrecht im Film tatsächlich unausgesprochen ein biologistischer Begriff von Sexualität und geschlechtlicher Identität gesetzt wird.

  197. 197.

    Vgl. Rogowski 2010, S. 215.

  198. 198.

    In der Tat nutzten Teile der Reformbewegung die Forderung nach einem Ausleben des Sexualtriebs der Gefangenen im Namen der Sexualität als universellem Menschenrecht gegen Homosexualität. Argumentiert wurde damit, dass mit Freigang und Urlaub die homosexuelle Betätigung im exklusiv männlichen Gefängnis unterbunden werden könne. Vgl. Rogowski 2010, S. 222.

  199. 199.

    Er bezieht sich dabei auf die Vermarktungsstrategie des US-amerikanischen Vertreibers der aktuellen DVD, der den Slogan verwendet: „Gay-themed films of the German Silent Era“.

  200. 200.

    Vgl. Rogowski 2010, bes. S. 229.

  201. 201.

    Erfolgt im Film bspw. eine Rahmung, dann wird sie strategisch dazu eingesetzt, auf das Flüchtige, das Oberflächliche oder das Künstliche, Gestellte des Inhalts hinzuweisen.

  202. 202.

    Medien müssen offenbar nicht mehr nur wie noch in den 1910er Jahren in Filmen wie bspw. Stuart Webbs oder Wo ist Coletti? (D 1913; R: Max Mack) im unüberschaubaren urbanen Moloch Personen dingfest machen, um sie zu identifizieren, weil sie kriminell oder ‚anders‘ waren. Von einer Kamera ‚abgeschossen‘ zu werden, ist jetzt normaler Bestandteil moderner urbaner Lebensweise, was einer Umcodierung der Bedeutungszuschreibung (ins Positive) entspricht.

  203. 203.

    Vgl. zu Männlichkeitskonzeptionen in der Weimarer Republik auch Kessel (Hg.) 2005.

  204. 204.

    Vgl. zum window shop** als Vorstufe einer filmischen Wahrnehmungsweise erneut Friedberg 1993.

  205. 205.

    Vgl. zum Einzug der Technik in die Haushalte seit der Jahrhundertwende Hausen 1987 sowie Heßler 2011. Zeitgenössisch vgl. Michel 1907.

  206. 206.

    Warum sich Helene als Frau eines Ingenieurs ausgerechnet in einer Kneipe für eine Tätigkeit als Zigarettenmädchen bewirbt, ist, inhaltlich betrachtet, nur schwer nachvollziehbar. Auch in den 1920er Jahren war sie in sozialer Hinsicht sie immer noch nah an der Prostitution angesiedelt.

  207. 207.

    Vgl. zum zugrundeliegenden historischen Modell des Dampfkessels, der überkocht, mit Bezug zum Sexualtrieb auch erneut Gallwitz 2000. Aufgrund der besonderen Konstellation im Gefängnis griffen die Männer zu anderen Methoden, um den sie kontrollierenden Sexualtrieb zu beherrschen. Zu den gewählten Maßnahmen zählte nicht nur das im Film demonstrierte Modellieren von Frauenfiguren und weiblichen Vaginas aus Brotkrumen, die zur sozial und moralisch verwerflichen Tätigkeit der Selbstbefriedigung führten, sondern dazu zählte auch die drastische Maßnahme der Selbstentmannung, wie sie anhand der Figur des jungen Mithäftlings demonstriert wird, der nach einem missglückten Versuch der Selbstkastration mit einer Scherbe, die er im Innenhof des Gefängnisses findet, Selbstmord (mit der Waffe eines Wärters) verübt. Vgl. hierzu auch erneut Plättner 1928. Indirekt wird das inakzeptable sexuelle Verhalten unter Männern an der Figur des Industriellen Steinau repräsentiert. Steinau stellt eine Figur des offenen Geheimnisses dar, insofern im Film angedeutet wird, dass er erpresst und nach § 175 inhaftiert wurde. Gerade dies hindert die narrative sowie bildlich-inhaltliche Ebene nicht, ihn als Liebhaber Helenes zu instrumentalisieren bzw. zu präsentieren. Für ihn gilt das Motto „it takes one to know one“ mit Bezug zum Filmpublikum.

  208. 208.

    Rogowski führt die Elemente an, die für eine solche Beurteilung der Repräsentation wohl ausschlaggebend waren: Alfred nähert sich Franz als der Jüngere der beiden Männer nur sehr zaghaft und liebevoll, auf geradezu pennälerhafte Weise; er lehnt es ab, Franz zu erpressen, wie es ihm sein Freund, den wir nicht mit Namen kennenlernen, vorschlägt, was damals übliche Praxis war, insbesondere zwischen sozial unterschiedlich gestellten Männern.

  209. 209.

    So ist Weiblichkeit, verkörpert in der Ehefrau des Gefängnisdirektors, keinesweg gänzlich ausgesperrt, erhält jedoch einen dezidiert umrissenen Ort, nämlich die Privatstube des Direktors. Darin wird ganz augenscheinlich eine ‚normale‘ Situation eines intakten Familienlebens präsentiert, das gemeinsame Mittagessen nämlich.

  210. 210.

    Vgl. zu diesem Punkt der homosozialen Gemeinschaft in einer exklusiv männlichen Umgebung Rogowski 2010, Kühne 2002, 2010, Herzog 2009, See 1990 sowie Greve 1990 (s. Kap. 2, Abschn. 3.1, 3.5, Kap. 4 sowie Abschn. 4.1 und 4.2).

  211. 211.

    Wie Helene Franz aus dem Gefängnis abholt, wird nicht gezeigt. Die Freilassung ist rein metaphorisch inszeniert, indem wir sehen, wie außen an der Gefängniswand ein Vogel durch das vergitterte Fenster fliegt. Nicht zufällig wird aber die Heimfahrt im Taxi gezeigt. Zunächst sehen wir das Taxi aus einer Vogelperspektive von rechts nach links quer durchs Bild fahren, die Kamera verfolgt es bis zu einem bestimmten Punkt mit einem Schwenk nach links mit. Zwar sind wir mit einem öffentlichen Raum konfrontiert, der jedoch mit den individuellen Emotionen der Figuren, unterstützt durch die Kamerabewegung, aufgeladen ist, auch wenn es sich in diesem Fall um Wut oder Frustration handelt. Dann sehen wir eine Straßenansicht aus dem Wagen heraus nach vorn auf die Straße, wobei der Wagen immer noch in Bewegung ist. Es kommt eine sehr belebte Kreuzung in den Blick. Die Kamera stoppt an einem bestimmten Moment, der mit dem Anhalten des Wagens koinzidiert. Kurz sehen wir den den Verkehr regelnden Polizisten auf der Kreuzung in einer totalen Einstellung mittig im Bild sowie einen Kollegen am linken Straßenrand stehen. Dann folgt eine höchst bemerkenswerte Einstellung: Der regelnde Polizist wird von hinten gezeigt, die Kamera fährt an ihn aus einer halbtotalen Einstellung heran, plötzlich dreht er sich um und schaut direkt in die Kamera. Diese fährt so an ihn heran, dass sein Gesicht kurz in Großaufnahme zu sehen ist, dann schwenkt sie leicht nach oben auf seinen Helm, sodass das Abzeichen ins Bild kommt. Genau hier setzt mit einer Überblendung die Erinnerung ein. Die Erinnerung ist also nicht persönlich und privat, sondern direkt durch die Repräsentation des Staates motiviert. Diese Einstellung ist vermutlich nicht mehr auf der Straße, sondern im Studio gedreht worden.

  212. 212.

    Selbstredend kommt man nicht umhin, Alfred als quasi naturalisierten Schwulen in diesem Film zu interpretieren. Dies wird auch durch die Szenen verdeutlicht, in denen man ihn außerhalb des Gefängnisses sieht, nachdem er nach kurzer Haftzeit entlassen wurde. Er ist auf der Straße zu sehen, wie er einem Freund Signale gibt, der ans offene Fenster tritt, um ihn zu begrüßen. Etwas später sehen wir die beiden in der Stadt am Geländer zu einem Fluss hin stehend, sie unterhalten sich über die mögliche Erpressung. Diese Szene wird mit einer halbnahen Einstellung eröffnet, in der wir beide Figuren sehen, rücklings an das Geländer gelehnt, wie sie sich im Profil anschauen. Dann wird jeweils auf die Figuren in nahen Einstellungen geschnitten, wobei immer die sprechende im Fokus steht. Nachdem jedoch der Freund die Erpressung erwähnt, dreht sich Alfred von ihm ab und geht weg, wobei ihm die Kamera folgt. Rogowski interpretiert den gesamten Handlungsstrang mit Alfred dahingehend, dass sein Verhalten ambivalent sei, man nicht wissen könne, aus welchen Motiven er handele. Auch in der letzten Szene vermutet Rogowski, dass Alfred bei Sommers vorstellig würde, weil er Franz eventuell erpressen wolle. Alfred verkörpere dennoch die tragische Figur des Films, weil er am Ende von Franz abgelehnt würde. In der Perspektive meiner Lesart, in der die Identität der Figuren, ihre Gefühle und Begehren koextensiv mit dem Räumen sind, die sie hervorbringen, verknüpft an unterschiedliche kinematografische Verfahren, erhält Alfred in der letzten Szene die Möglichkeit, das melodramatische klaustrophobische Tableau zu verlassen. Dafür, dass Alfred keinen Platz in diesem Tableau hat, erhält er immerhin die Möglichkeit, (als Einziger der Protagonist*innen) weiterzuleben.

  213. 213.

    Vgl. Völkischer Beobachter vom 10. Mai 1933. Vgl. zur Aufführungsgeschichte des Films Wulff 2010.

  214. 214.

    Es existiert neben dem von mir angeführten gängigen Titel ein zweiter für diese Fassung von 1933, nämlich Ein Lied geht um die Welt (Die Joseph-Schmidt-Story). Im Rundfunk sang Schmidt allerdings vorwiegend Opernarien.

  215. 215.

    Fritz Kampers war ein bekannter und beliebter Theaterschauspieler und Kabarettist. Charlotte Ander hatte sich als (Stumm-)Film-, Bühnen- und Operettendarstellerin einen Namen gemacht. Viktor de Kowas Karriere nahm erst während der Zeit des Nationalsozialismus richtig Fahrt auf. Ihre Karrieren verliefen sehr unterschiedlich. Kampers’ Karriere war sowohl während der NS-Zeit als auch in der Bundesrepublik ohne Bruch. Viktor de Kowa wurde zum Star des NS-Kinos. Ander dagegen musste, da sie von den Nazis als nicht ‚reinrassig‘ angesehen wurde, Deutschland im Anschluss an die Laufzeit von Ein Lied geht um die Welt verlassen. Nachdem sie nach England emigriert war, kehrte sie, da dort erfolglos, 1935 nach Deutschland zurück, wo sie nur eingeschränkt arbeiten durfte. Während 1933 und 1945 spielte sie in drei Filmen mit, Ein Lied geht um die Welt eingeschlossen. Eine regelmäßige Tätigkeit als Schauspielerin nahm sie erst 1950 wieder auf.

  216. 216.

    Er migrierte erst nach London, später nach Österreich, wo er den ebenfalls geflohenen Regisseur Richard Oswald wieder traf und mit ihm noch einen Film drehte.

  217. 217.

    Vgl. Fassbind 1992.

  218. 218.

    Vgl. hierzu Witte 2004.

  219. 219.

    Dagegen plädieren Hagener und Hans dafür, die Filme nicht als Vorboten nationalsozialistischer Ideologie und Propaganda einzustufen, sondern sie historisch spezifisch zu kontextualisieren. Als Merkmale nennen sie in diesem Zusammenhang die Umstellung auf den Ton, den Einzug fordistischer Arbeitsmethoden, Genreausdifferenzierungen, Selbstreflexivität der Filme, erhöhte Medienkompetenz des Publikums sowie die Affirmation der Prinzipien einer modernen Konsumgesellschaft. Insofern sie in ihrer Darstellung den Zeitraum von 1928 bis 1938 abdecken, ist der Fokus deshalb problematisch, weil sie keine Bezüge von Ästhetischem und Politischem herstellen. Vgl. Hagener/Hans (Hg.) 1999.

  220. 220.

    Sannwald 1999, S. 37.

  221. 221.

    Brian Currid bezeichnet ihn durchweg als Sängerfilm. Vgl. Currid 2006, bes. S. 100.

  222. 222.

    Vgl. erneut Currid 2006 sowie Elsaesser 2002.

  223. 223.

    Vgl. zum Starsystem in den dreißiger Jahren Lowry 2002.

  224. 224.

    Vgl. Vossen 1998.

  225. 225.

    Vgl. Quaresima 1999.

  226. 226.

    Gegenteilig argumentiert Claus 1998, bes. S. 82. Zum Verhältnis von Operette und Film vgl. Bono 1998. Zur Relevanz der Tonfilmoperette für das Kino Koebner 2003b.

  227. 227.

    Vgl. Currid 2006, S. 101.

  228. 228.

    Die aufgeführten Lieder sind, neben den zwei zentralen Schlagern Frag’ Nicht (Musik: Hans May; Text: Ernst Neubach) sowie Ein Lied geht um die Welt (Musik: Hans May; Text: Ernst Neubach), teilweise Kunstlieder, die auch als Volkslieder bekannt und intoniert wurden, wie bspw. Am Brunnen vor dem Tore aus dem Winterreise-Zyklus (1827) von Franz Schubert oder auch Launisches Glück (1932) nach Motiven von Johann Strauß’ II. Darüber hinaus werden Arien gesungen, aber auch italienische sowie neapolitanische Volksweisen, wie bspw. Santa Lucia, komponiert von Teodore Cottrau, 1849 erschienen. Es handelt sich um ein Potpourri von Genres, verteilt über den Verlauf einer eineinhalbstündigen Handlung. Die Lieder halten an den jeweiligen Stellen den Fluss der Narration potenziell an.

  229. 229.

    Zum Medienverbund vgl. erneut Marßolek/Saldern 1998, bes. S. 14 sowie Elsaesser 1994, bes. S. 36 f. Zur Entwicklung des Rundfunks in Deutschland vgl. erneut Hickethier 2008. Im Film werden prominent die Schallplattenfirma Parlophon sowie REICO-Radiogeräte präsentiert. Zur Firmen- und Technikgeschichte der Parlophon vgl. Erb 1998.

  230. 230.

    Vgl. erneut Elsaesser 1994, 2002 sowie Currid 2006.

  231. 231.

    Vgl. zum Punkt der schwachen Aussagekraft der mise-en-scène in den Filmen der 1930er Jahre Heins 2013, bes. S. 29.

  232. 232.

    Sowohl Simoni als auch Rigo sind als komische Figuren angelegt. Sie sind, anders als Riccardo, Typen der Komödie entlehnt. Diese stellen, ähnlich wie die Figur des Harlekin in der Commedia dell’Arte, den Zerrspiegel der Gesellschaft dar. In der Regel tragen diese Figuren, so Heins, keine sozialen Merkmale, wie für sie zudem Ansehen, Aufstieg und vor allem Geld keine Rolle spielen. Vgl. Heins 2013. Wulff ist der Ansicht, Riccardos Figur sei am Typ des Bajazzo, des Betrogenen Betrügers angelehnt. Vgl. Wulff 2010. Allerdings ist er dies unter explizit veränderten medialen Bedingungen, insofern er mittels seiner Schlager intonierenden Stimme betrügt. Zudem schreibt der Sängerfilm die Operette im modernen Sinn um, indem der Künstler durch den Verzicht auf den love interest zu seiner ‚wahren‘ Bestimmung, nämlich der Musik und der Karriere findet.

  233. 233.

    In ihren Augen mangelt es ihm an Männlichkeit. So weist Rigo Nina an einer Stelle des Films – doppeldeutig – darauf hin, Riccardo sei kein Mann, „mit dem eine Frau spielen“ sollte. Simoni wiederum ist immer wieder um Riccardos Wohlergehen besorgt.

  234. 234.

    Vgl. hierzu auch erneut Currid 2006.

  235. 235.

    Dieses Verhältnis von Ton und Bild kehrt sich in einer späteren Szene um, in der Riccardo mit Nina eine Gondelfahrt auf dem Kanal macht. Während beide Figuren beinahe ausschließlich in weiten Aufnahmen zu sehen sind, hört man die gesamte Zeit über Riccardo Ich sag’ Dir singen, während man das Singen selbst aufgrund der Einstellungsgröße nicht erkennen kann. Mit vielen Einstellungen wird eine Stadtansicht erzeugt. Riccardos Stimme löst sich nicht nur von der Figur ‚Riccardo‘, sondern wird daher immer mehr zur Stimme des Sängerstars ‚Schmidt‘, der weniger Nina als die Stadt selbst besingt, die von dieser begehrenstechnisch ‚deutsch‘ vereinnahmt wird.

  236. 236.

    Riccardo tritt dort mit seinem Körper als privat singende Figur auf, wo das Milieu ethnisch und klassenspezifisch als kleinbürgerlich und ‚italienisch‘ markiert ist, nämlich im Biergarten, in dem er ein Stelldichein mit Nina hatte. Dort ist die Narration illusionistisch transparent, Raum und Zeit sind kohärent, wodurch Riccardo vermeintlich mit sich als Figur identisch ist. Hier kann er auch ‚natürlicher‘ Teil einer selbstredend klischeehaften Musikantengemeinschaft sein.

  237. 237.

    Vgl. erneut Currid 2000.

  238. 238.

    Die hierdurch erzeugte Dissoziation von Körper und Stimme, die zugleich eine Transposition von Funktionen darstellt, ist in ihrer visuellen Umsetzung wohl am radikalsten, da sie die fundamentale Problematik, worin Authentizität von Identität gründet, deutlich in Szene setzt. Ist die Stimme nur als Tonspur aus dem off ‚über die Bilder‘ gelegt, lässt sich diese fundamentale Disparatheit leichter überspielen, da sie dem kinematografischen Apparat als Ganzem zugeordnet und besser akzeptiert werden kann.

  239. 239.

    Vgl. erneut Currid 2000.

  240. 240.

    Vgl. erneut Currid 2000, bes. S. 170.

  241. 241.

    Die Wahl fällt dabei auf Santa Lucia. Dies aber nicht willkürlich, sondern aufgrund des Umstands, dass dieses Lied ‚von draußen‘, vom Kanal her hereindringt, wo der blonde Junge sitzt, der es mit dem Akkordeon spielt. Es handelt sich dabei um jenes Prinzip des Weitertragens und spontanen Intonierens des Schlagers, den man irgendwo aufschnappt, wie man es aus der oralen Tradition von Volksliedern kennt, wovon Currid schreibt. Hier ist der Schlager als Produkt und Effekt des modernen Medienverbunds innerhalb der Filmnarration also naturalisiert, indem er vermeintlich in der oralen Tradition wieder verankert, da er mit einem Musikinstrument gespielt wird. Allerdings zergliedert die Bildebene diese Unmittelbarkeit, die in der Phänomenologie des Tons impliziert ist, da Lied und Quelle des Liedes getrennt werden, sodass das Lied im Wohnraum hörbar wird, ohne dass der Junge mit dem Akkordeon zu sehen ist. ‚Von draußen‘ hereinklingen könnte das Lied aber auch aus einem Radio in einer anderen Wohnung, deren Fenster gerade geöffnet sind.

  242. 242.

    Diese Konstellation wiederholt sich in der Schlussszene des Films, ist dort jedoch mit ganz anderen Vorzeichen versehen. Ich gehe darauf an späterer Stelle detaillierter ein.

  243. 243.

    Es gibt eine Szene in der Theatergarderobe, die man als die ‚intimste‘ zwischen den beiden bezeichnen könnte, insofern nur sie beide anwesend sind. Zwar ist der Raum kein privater Raum in traditionellem Verständnis, aber er ist völlig gegenüber der Umwelt abgeschlossen. Insofern wäre diese Szene geeignet, die heterosexuelle Beziehung voranzubringen. Riccardo möchte Nina in dieser Szene den Verlobungsring, den er für sie gekauft hat, übergeben. Umso interessanter ist die Inszenierung der Szene, in der ein Spiegel das dominierende Artefakt der mise-en-scène bildet. Nicht nur ist Riccardo im Clownskostüm, da er direkt vom Auftritt kommt, sondern beide Figuren sind so inszeniert, dass wir Ninas Rückenansicht als Spiegelbild und sie zugleich frontal im Bild sehen, während Riccardo zuerst frontal als Spiegelbild in Erscheinung, dann so ins Bild tritt, dass wir nur seine Rückenansicht sehen, bevor er, direkt an Nina gerichtet, mit Orchesterbegleitung Frag‘ nicht zu singen beginnt. Er steht, leicht über sie gebeugt, sie sitzt auf einem Hocker, sodass die visuelle Signifikanz der Körpergröße nicht betont wird. Nina blickt währenddessen erst einmal Riccardo direkt an, dann wandert ihr Blick in den Spiegel und wieder zurück auf Riccardo. Beide Figuren sind im visuellen Feld verdoppelt bzw. gespalten. Ihre Blicke aufeinander sind nicht durchgängig direkt, jedenfalls der Ninas nicht. Riccardo bringt seine Liebe nicht mit der körperlichen Aktivität des Küssens oder des Liebeswortesprechens, sondern des Liebeswortesingens zum Ausdruck. Die Dissoziation zwischen Körper und Stimme, auf die das Begehren gerichtet ist und zwischen denen es keine Vermittlung gibt, wird hier auf der visuellen Ebene der Divergenz von Selbst-Bild und Figur verschoben und erneuert. Nina kommentiert Riccardos Lied dann auch entsprechend: „Jedes Mal, wenn Sie singen, könnte ich alles um mich herum vergessen.“ Nach wie vor ist ihr Begehren, wenn überhaupt, dann auf seine Stimme gerichtet, von seinem Körper ist Nina nach wie vor in seiner unmittelbaren Präsenz nicht gebannt bzw. betört.

  244. 244.

    Vgl. erneut Currid 2000.

  245. 245.

    Es ist signifikant, dass wir Riccardos und Rigos Probe ihrer Bühnenshow selbst nicht zu sehen bekommen, sondern dieses Vergnügen bis zur letzten Szene aufgeschoben wird. Damit ist aber auch verknüpft, dass Riccardo diese Bühnenshow nicht im Clownskostüm bestreiten wird. Er darf und soll auf gar keinen Fall als Witzfigur in die Öffentlichkeit treten – insbesondere nicht als kleinwüchsiger Startenor, der er ist, mit dem dunklen Teint –, sondern, in dem Augenblick, in dem seine Strategie aufgeht, er öffentlich in seiner Gänze singen darf, soll und muss er der seriöse Künstler sein, wie das Filmpublikum ihn auch als Startenor kennt. Dennoch erscheint er Nina in dieser Szene, da er sich gerade beim Abschminken befindet, im Clownskostüm. Sein Körper wird hiermit, gedoppelt im Spiegel, zwar bedeckt, aber durch das unförmige Kostüm letztlich noch unauthentischer und damit noch unattraktiver gemacht. Sein Körper ist im literalen Sinn für Nina ein Witz, den sie nicht ernstnimmt.

  246. 246.

    Gerade unter kinematografischen Aspekten wird die Position der Kamera signifikant, wenn sie erst Simoni begleitet, um dann zu ‚beschließen‘, dass sie lieber zu Rigo zurückkehrt, um zu zeigen, was er tut. Nicht nur, dass die Kamera hier auf sich aufmerksam macht als eine weitere, im Raum anwesende (blickende) Instanz, sondern sie antizipiert, dass das Geschehen im Wohnzimmer mit Rigo bedeutsamer ist als die Vorgänge um Simoni in der Küche. Ab da postiert sich die Kamera erst einmal, begleitet Rigo dann mit einem Schwenk zur Wohnungstüre, durch die er nach hinten aus dem Bild geht, um Nina zu begrüßen. Beide betreten dann den Raum und gehen nach links, wobei sie die Kamera mit einem Schwenk zurück nach links begleitet, um in die angestammte Position zurückzukehren.

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König, C. (2020). Weimarer Republik/Deutschland – Film und Kino, Geschlecht und Sexualität. In: Performative Figuren queerer Männlichkeit. Szene & Horizont. Theaterwissenschaftliche Studien, vol 5. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05146-2_3

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