Ingrid Belke (geb. 11.02.1935 in Falkensee/Berlin – gest. 24.09.2017 in Stuttgart) war ein einzigartiger und außergewöhnlicher Mensch, als Persönlichkeit und als Wissenschaftlerin. Als ich sie im Zusammenhang mit der Veröffentlichung ihrer pionierhaften Doktorarbeit über Josef Popper-Lynkeus und die Reformbewegung des Wiener Bürgertums (1978) kennengelernt habe, war ich von ihrer Offenheit, Gelehrsamkeit und aufgeklärten Gesinnung sofort beeindruckt. Wir schlossen schnell persönliche Freundschaft und haben uns seitdem regelmäßig in zahlreichen Gesprächen und Briefen ausgetauscht. Diese anregenden Begegnungen bezogen sich auf die gemeinsamen Interessen wie die Wiener Moderne, Karl Popper und die österreichische Philosophie, die Zeitgeschichtsschreibung, nicht zuletzt auf das durchgehende Thema von Emigration und Exil. Selbstverständlich hat Inge an unserem großen Symposium „Vertriebene Vernunft“ (1987) teilgenommenFootnote 1 und sich mehrmals an den Veranstaltungen des Instituts Wiener Kreis mit Wort und Schrift bis zum Ende ihres Lebens nachhaltig beteiligt.Footnote 2 Zuletzt tat sie dies eindrucksvoll an der Konferenz „Logischer Empirismus, Lebensreform und die Deutsche Jugendbewegung“ im Jahre 2016 mit ihrem wohl letzten Vortrag, nämlich über Friedrich Jodl (1894–1914), den deutsch-österreichischen Philosophen des Monismus und der Ethischen Bewegung. Dieser Vortragstext ist nun in gekürzter Fassung im vorliegenden Band als eine Art geistiges Vermächtnis der Autorin abgedruckt. Der Text spiegelt ihre lebenslange Beschäftigung mit der Wiener Kulturbewegung der Jahrhundertwende um 1900 und schließt einen thematischen Kreis ihrer radikal aufgeklärten Gesinnung seit ihrer Dissertation. Dieses Interesse an Wien verband Inge immer auch mit ihren persönlichen Kontakten, zum Beispiel mit dem Schriftsteller-Paar Elisabeth Freundlich und Günther Anders, oder mit dem Volksbildner und kurzzeitigen Kulturpolitiker Viktor Matejka, mit dem wir beide befreundet waren.Footnote 3 Karl Popper, mit dem Inge lange eng verbunden war und dessen Autobiographie sie mitübersetzte, hatte sie eingeladen, seine Biographie zu schreiben, was sie aber nach längerem Zögern ablehnte. Der entsprechende Briefwechsel im Popper-Nachlass stellt eine beeindruckende Quelle für diese persönliche und geistige Zusammenarbeit dar.

Inge Belke behandelte die deutschsprachige, vor allem jüdische Geistesgeschichte als kundige und sensible Historikerin mit einem ausgeprägten Sinn für die politische Dimension und Bedingtheit von Literatur, Publizistik und Wissenschaft: das zeigt sich in ihren originellen Projekten als Mitarbeiterin des Leo Baeck Instituts und als langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar, vor allem in ihren Ausstellungen und Publikationen, beginnend mit dem Projekt über jüdische Verlage im nationalsozialistischen Deutschland.Footnote 4 Parallel dazu in weiteren Veröffentlichungen von bleibendem Wert, wie zum Beispiel der dreibändigen kommentierten Edition des Briefwechsels zwischen Moritz Lazarus und Heymann Steinthal (1971, 1983, 1985) oder ihrem substanziellen Beitrag als Mitherausgeberin (mit Inka Mülder-Bach) der Werkausgabe des Publizisten und Soziologen Siegfried Kracauer im Suhrkamp Verlag, über den sie auch in Wien kundig am Institut für Zeitgeschichte referierte. In dieser beeindruckenden Edition hat sie den vierten Band über Geschichte – Vor den letzten Dingen (2009), den achten Band über Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1994), sowie den neunten Band (1,2) Frühe Schriften aus dem Nachlaß (2004) wie üblich mit umfangreichen Anmerkungen und Kommentaren fachkundig herausgegeben. Schon früh hatte sie ein beeindruckendes Marbacher Magazin (47/1988) einer Ausstellung über Kracauer zusammen mit Irina Renz als illustrierten Katalog ediert.Footnote 5

In ihrer intensiven Forschung neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit im Literaturarchiv hat sich Inge immer auch einen kritisch-distanzierten Blick bewahrt. Sei es über Josef Popper-Lynkeus als Patriarch, oder Karl Poppers Geschichtsauffassung, aber auch zum schwelenden Nahost-Konflikt mit Kritik an jedem Nationalismus. Dabei hat sie immer zugleich eine betont humanistische und pazifistische Gesinnung durchblicken lassen und kein Blatt vor dem Mund genommen, wenn es um die Infragestellung von gewohnten Tabus gegangen ist. Sie verkörperte politische Moral im besten Sinne, war aber keineswegs moralisierend.

Ingrid blieb bis zuletzt eine kritische Beobachterin und Kommentatorin des Zeitgeschehens, der politischen Entwicklung in Deutschland und der Welt. Sie sandte mir regelmäßig Artikel des deutschen Feuilletons mit handschriftlichen Bemerkungen und wir haben diesen Dialog oft telefonisch und via Emails fortgesetzt – am intensivsten zur Sommerzeit, anlässlich von Geburtstagswünschen. Jetzt vermisse ich diese ernsten und heiteren Gespräche „über Gott und die Welt“. Inge wird mir deshalb in Erinnerung bleiben, als Freundin und kritische Zeitgenossin. Die wissenschaftliche Welt verlor mit ihr eine Vertreterin, die weit über ihren beruflichen Horizont hinausgeblickt hat und als Mahnerin vor antidemokratischen Entwicklungen bis zum Lebensende unermüdlich blieb. Sie hatte sich Zeit ihres Lebens mit Außenseitern auseinandergesetzt, vielleicht weil sie selbst eine zu Unrecht unterschätzte Grenzgängerin gewesen war. Sie stand zwar als Universitätslektorin mit einem Fuß in der akademischen Welt, wurde aber in dieser nicht voll aufgenommen und gewürdigt. Deren wichtigste Vertreter wie Karl Popper, Wolfgang Benz und Hans Mommsen schätzten ihre Bedeutung, aber die universitäre Welt verzichtete auf ihre Exzellenz, ohne dass sie jemals darüber geklagt hätte. Neben ihren bereits geschilderten Vorzügen war sie auch sehr unterhaltsam und (selbst)ironisch, was in den Gesprächen immer wieder erheiterte.

Erfreulicherweise ist es auf Initiative ihres Freundeskreises gelungen, Inge Belke 2018 ein kleines Denkmal zu setzen, mit dem posthum erschienenen Sammelband Intellektuelle, Demokraten, Emigranten. Lebensbilder und Studien zum Widerstand gegen die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, herausgegeben mit einer würdigen biografischen Einleitung von Wolfgang Benz im Metropol Verlag (2018). Die darin gesammelten Schriften markieren sehr schön den weiten geistigen Horizont von Inge, der sich von der anti-nazistischen Publizistik, der Emigrationsgeschichte von Kurt Pinthus, Tucholsky und Antisemitismus, über die Publizistin Margret Boveri im Dritten Rech, Leo Löwenthal im US-Exil, die Identitätsprobleme deutscher Juden im Exil, über Kracauer und die Sowjetunion, bis zu biographischen Skizzen über Erich Schairer, Leonhard Frank, Wieland Herzfelde, Erich Mühsam, Ernst Niekisch und Kurt Wolff erstreckt. Das ist ein beeindruckendes Panorama einer kreativen geistigen Arbeit, das auch eine Auswahl von Inges Leben und Werk spiegelt, wenn man sich das abgedruckte Werkverzeichnis samt Vorträgen vor Augen führt. Vor allem die Veröffentlichungen zur Geschichte der Philosophie, Literatur und Historiographie sind hier als Desiderata zu erwähnen. Umso glücklicher sind wir, dass Inges letztes Manuskript über Friedrich Jodl nunmehr in diesem Band als ein Vermächtnis ihres kreativen Oeuvres veröffentlicht wird. Inge Belke wird als Intellektuelle, Forscherin, Zeitgenossin und persönliche Freundin schmerzhaft fehlen.