Einleitung

Der Weg vom Jugend- ins junge Erwachsenenalter beinhaltet vielfältige Entwicklungsaufgaben. Um diese zu meistern, brauchen Jugendliche eine stabile Umgebung [1]. Die bestehende psychiatrische Versorgungsstruktur bietet diese jedoch nicht, denn mit dem 18. Geburtstag wird die Kontinuität der Versorgung durch einen oft abrupten Wechsel von der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) in die Erwachsenenpsychiatrie (EP) unterbrochen [2, 3]. Die Jugendlichen werden aus ihrem vertrauten Setting gerissen und sind oft unvorbereitet mit der Funktionsweise der EP konfrontiert. Die Transitionspsychiatrie versteht sich als Schnittstelle und sieht den Zeitraum des Übergangs (15–25 Jahre) als eigenständige Lebensphase, in der Menschen adäquate Unterstützung zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben benötigen, wie sie im derzeitigen System oft nicht geboten wird [4].

Die im deutschen Sprachraum umfangreichste Untersuchung von bestehenden Transitionslücken, möglichen Lösungsansätzen und Empfehlungen wurde von einer Taskforce durchgeführt, die von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) sowie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) ins Leben gerufen wurde [5]. Auf Basis ihrer Forschungsergebnisse fordert sie Interventionen und Kooperationsnetzwerke für die Transitionsphase. Zudem sollen strukturelle und ökonomische Rahmenbedingungen für verschiedene vernetzte Behandlungsangebote (ambulant, teilstationär, stationär) geschaffen werden. Fachgesellschaften sollen spezialisierte Ausbildungsprogramme für den Transitionsbereich entwickeln und verstärken. Auch bestehe Forschungsbedarf in den Bereichen neurobiologischer Grundlagenforschung, Versorgungs- und Interventionsforschung sowie Früherkennung psychischer Störungen [5].

Dem vorherrschenden Konzept wird ein großer Veränderungsbedarf attestiert

In Österreich [6] erachten 98,8 % der befragten Kliniker:innen (n = 98) das derzeitige Transitionssystem als ungünstig und 83,7 % fordern eine bessere Kooperation zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie. Mehr als die Hälfte der Kliniker:innen des Erwachsenenbereichs gaben zudem an, unzureichend über den bisherigen Behandlungsverlauf ihrer Patient:innen informiert zu sein (63,7 %). Kliniker:innen des Kinder- und Jugendbereichs (88,2 %) betonten, dass das Finden einer geeigneten Weiterbehandlungsmöglichkeit (85,3 %) und der Wegfall von altersgruppenspezifischen Unterstützungsangeboten zentrale Probleme darstellten.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit liegt in einer weiteren Analyse der Forderungen und Wünsche von Expert:innen für ein transitionspsychiatrisches Versorgungskonzept. Ein Mehrwert zur Bereicherung der Datenlage besteht in dreierlei Hinsicht. Erstens ermöglicht ein qualitativer Forschungsansatz tiefgreifende Einblicke in die subjektiven Erfahrungen der Expert:innen, welche zum bestehenden quantitativen Material eine wertvolle Ergänzung darstellen. Zweitens werden im Rahmen der Studie nicht nur Psychiater:innen, klinische Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen, sondern auch andere Berufsgruppen, wie Sozialarbeiter:innen und Schulpsycholog:innen, in die Forschung miteinbezogen, da diese aufgrund ihrer Nähe zur Klientel wertvolle zusätzliche Einblicke liefern. Drittens wurde ein partizipativer Forschungsansatz gewählt, bei dem junge Menschen mit Erfahrungen im psychiatrischen Gesundheitssystem aktiv als Mitarbeiter:innen eingebunden waren.

Methode

Basierend auf vorhandenen Forschungsergebnissen [5,6,7] wurden leitfadengestützten Interviews mit Expert:innen aus der Berufspraxis durchgeführt. Darauf aufbauend wurden ergänzend Fokusgruppen mit weiteren Expert:nnen durchgeführt.

Interviews

Insgesamt wurden 35 Personen (w = 24, m = 11) im Alter von 24–65 Jahren aus dem deutschsprachigen Raum, die in unterschiedlichen Kontexten mit der Zielgruppe arbeiten (Tab. 1), befragt. Themen waren Probleme und Herausforderungen im Bereich der Transition sowie konkrete Wünsche und Forderungen für ein transitionspsychiatrisches Versorgungskonzept (Leitfaden bei den Autor:innen). Die Rekrutierung erfolgte durch Internetrecherche und Weiterverweise nach den Interviews.

Tab. 1 Arbeitsbereiche der Interviewpartner:innen

Fokusgruppen

Die in den Interviews herausgearbeiteten Forderungen wurden in 2 Fokusgruppen weiterentwickelt (Leitfaden bei den Autor:innen). Dabei wurde darauf geachtet, bisher unterrepräsentierte Berufsgruppen einzuschließen. An der ersten Fokusgruppe beteiligten sich 4 Personen (Wohnungslosenhilfe, transitionspsychiatrische Sozialarbeit, niedergelassene Psychotherapie und begleitetes Wohnen für junge Erwachsene). An der zweiten Fokusgruppe nahmen 3 Personen teil (Jugendberatungsstelle, Sozialarbeit im klinischen Bereich und Wohngemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe). Die Teilnehmer:innen waren 6 Frauen und ein Mann im Alter von 30–50 Jahren, die nicht im Rahmen der Interviews befragt wurden.

Experts-by-experience-Ansatz

Sämtliche Arbeitsschritte erfolgten nach einem partizipativen Experts-by-experience-Ansatz, bei dem junge Menschen mit Erfahrung im psychiatrischen Gesundheitssystem aktiv als Mitarbeiter:innen beteiligt werden. Damit soll die Beteiligung derjenigen sichergestellt werden, die am stärksten vom Thema betroffen sind [8]. Der Einbezug von Experts by experience ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Versorgung von Menschen im Transitionsalter [9].

Datenanalyse

Die Interviews und Fokusgruppen wurden mit Einverständnis der Teilnehmer:innen aufgenommen und transkribiert, mit der Software NVivo (Lumivero, Denver, CO) thematisch kodiert und angelehnt an das inhaltsanalytische Verfahren nach Mayring [10] ausgewertet. Die Ergebnisse der Interviews und der Fokusgruppen wurden im Team diskutiert und zusammengeführt.

Ergebnisse

Die Expert:innen berichten von vielen Herausforderungen und Unsicherheiten, da sich das Thema Transitionspsychiatrie an vielen Standorten erst am Anfang befindet. Die Bedarfe und Forderungen der Expert:innen wurden in 4 Bereiche gruppiert: klinischer Bereich, außerklinischer Bereich, Aus‑, Fort- und Weiterbildung sowie Forschung.

Klinischer Bereich

Transitionspsychiatrische Angebote legen ihren Fokus neben der Behandlung des Krankheitsbildes auf störungsübergreifende Themen. Expert:innen finden derartige Angebote sinnvoll, da sich die jungen Menschen unter Gleichaltrigen im selben Lebensabschnitt befinden. Dank ihrer Niederschwelligkeit wird viel Potenzial in aufsuchenden Angeboten gesehen. Einigkeit besteht darin, dass isolierte transitionspsychiatrische Angebote nicht zielführend sind, da dadurch weitere Schnittstellen entstehen, sondern dass transitionspsychiatrische Angebote in ein modulares Versorgungskonzept eingebettet werden müssen:

„Nicht singulär anbieten, sondern stationär, teilstationär, ambulant und möglichst in einer Kette – die die Kontinuität der Betreuung sichert.“ (Facharzt/Fachärztin EP, Klinik)

Aktuell ist der Übergang zur EP wenig strukturiert und sehr herausfordernd, was auch auf mangelnde Kommunikation zwischen der KJP und EP sowie auf deren kulturellen Unterschiede zurückzuführen ist. Die KJP wird von den Expert:innen als beziehungs- und entwicklungsorientiert, fördernd und das Umfeld einbeziehend, die EP hingegen als fordernd, patient:innenzentriert und diagnosespezifisch beschrieben. Die Expert:innen fordern ein besseres und gemeinsames Verständnis für die Altersphase. Vertreter:innen der KJP wünschen sich mehr Sensibilität für die Altersgruppe und einen stärkeren Fokus auf Entwicklungsaufgaben sowie mehr systemisches Denken in der EP. Bei intensiverer Zusammenarbeit der Systeme könnten außerdem Abläufe zur Strukturierung der Transitionsphase konzipiert werden. Solche Ansätze sind zwar punktuell vorhanden, doch es fehlen verbindliche Standards.

Aktuell ist der Übergang zur EP wenig strukturiert und sehr herausfordernd

Dort, wo es Ansätze strukturierter Übergaben gibt, basieren sie meist auf dem Engagement Einzelner und werden durch Transitionsbriefe, gemeinsame Fallbesprechungen und Besuche auf der neuen Station umgesetzt. Viele Patient:innen fühlen sich alleingelassen und scheiden mitunter vollständig aus dem Behandlungssystem aus. Wenn sie den Umstieg meistern, fühlen sie sich in der EP aufgrund von neuen Strukturen und Regeln oft überfordert. Für die Behandler:innen bedeutet der Systemwechsel oft, dass Informationen über Behandlungsverläufe verloren gehen, sodass Symptome potenziell falsch interpretiert werden. Die Expert:innen wünschen sich eine Abkehr von starren Altersstrukturen und eine stärkere Berücksichtigung von Entwicklungsalter und Gesamtkontext.

Außerklinischer Bereich

Im außerklinischen Bereich wird bei den Expert:innen besonders in den Bereichen der Schulpsychologie und Schulsozialarbeit ungenutztes Potenzial geortet. Diese Angebote sind niederschwellig, es fehlt jedoch an Kommunikations- und Kooperationsstrukturen. Gefordert werden mehr Ressourcen, um Sprechstunden für Schüler:innen anzubieten und um als Kooperationspartner:innen mit anderen Behandler:innen tätig zu werden. Zudem wird der Sozialarbeit eine zentrale Rolle zugeschrieben. Sie hat als Profession einen geschärften Blick für die Lebenswelten junger Menschen und kann an Schnittstellen tätig werden. Der niedergelassene Bereich der Fachärzt:innen und Therapeut:innen ist momentan primär in Einzelpraxen organisiert, vorgeschlagen werden jedoch professionsübergreifende Behandlungszentren oder Gemeinschaftspraxen mit multiprofessionellen Teams. So würden Wegzeiten wegfallen, gemeinsame Fallbesprechungen könnten stattfinden und sozialarbeiterische Tätigkeiten würden nicht mehr von fachfremden Ärzt:innen oder Therapeut:innen übernommen.

„Wir sagen jeden Tag in der Praxis ‚Wir bräuchten noch eine:n Sozialarbeiter:in.‘ Das ist der Standardspruch.“ (Niedergelassene:r Facharzt/Fachärztin EP)

Konkret wird häufig der Wunsch nach einem zusätzlichen, noch niederschwelligerem Angebot geäußert, das als „allgemeine Beratungsstelle“ oder „Jugendzentrum für junge Erwachsene“ bezeichnet wird. Ein solches Angebot sollte als erste Anlaufstelle bei jeglichen Fragen zum Thema psychische Probleme dienen. Junge Patient:innen sind oft mit der komplexen Angebotslandschaft überfordert. Eine niederschwellige Anlaufstelle kann bei der Auswahl geeigneter Unterstützungsangebote helfen. Beratungen sollten anonym und ohne Terminvereinbarung angeboten werden.

Junge Patient:innen sind oft mit der komplexen Angebotslandschaft überfordert

Es könnten auch weitere Funktionen wie Austausch zwischen den Jugendlichen, Peer-Beratungen oder Gruppenangebote angegliedert werden. Zusätzlich wird auf einen Bedarf an leistbaren Krisen- und Tageszentren für junge Erwachsene mit guter regionaler Erreichbarkeit hingewiesen.

Aus‑, Fort- und Weiterbildung

Im Bildungsbereich sehen die Expert:innen Bedarf auf 2 Gebieten: für den Wissenstransfer und den Austausch zwischen dem Kinder- und Jugendbereich und dem Erwachsenenbereich sowie für spezifische Angebote zum Thema Transition. Im Bereich des Wissenstransfers richten sich die Forderungen insbesondere an Fachpersonen aus der EP, doch auch Erwachsenenpsychiater:innen selbst sprechen von Lücken:

„In der Ausbildung habe ich aus der KJP nicht viel mitbekommen. Das bekomme ich jetzt erst aus der Praxis mit. Da bräuchte es also noch viel Weiterbildung.“ (Facharzt/Fachärztin EP, Klinik)

Gefordert wird eine verpflichtende Mitarbeit im jeweils anderen Fachbereich, um Wissen aus der Praxis zu teilen. Weiterbildungen in der Entwicklungspsychopathologie und der Veränderung von Krankheitsbildern über den Zeitverlauf fehlen. Weitere potenzielle Weiterbildungsinhalte sind Erkrankungen wie die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder die Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Zusätzlich braucht es Weiterbildung zur Zusammenarbeit mit außerklinischen Kooperationspartner:innen mit dem Ziel, die Wichtigkeit dieses systemischen Einbezugs zu vermitteln. Erforderlich sind auch spezifische transitionspsychiatrische Fortbildungsangebote, die aktuell schwer zu finden sind, jedoch zu einer stärkeren Sichtbarkeit des Themas führen würden.

Forschung

In den Forderungen der Expert:innen zeigt sich eine allgemeine Unsicherheit und ein Wunsch nach Klarheit. Das Thema Transitionspsychiatrie ist laut Expert:innen in der Forschung unterrepräsentiert. Bestehende Lücken werden unter anderem im Bereich störungsspezifischer Entwicklungsverläufe gesehen. Diesbezüglich fordern Expert:innen Langzeitstudien, besonders für ADHS und ASS. Zudem werden Leitlinien und Empfehlungen in Form störungs- und altersspezifischer Therapiekonzepte gefordert, die über einzelne Erfahrungswerte hinausgehen. Behandlungskonzepte aus dem Erwachsenenbereich können aufgrund entwicklungsbedingter Unterschiede „nicht einfach leicht abgeschwächt übernommen werden“ (Facharzt/Fachärztin KJP, Klinik).

Diskussion

In der vorliegenden qualitativen Studie wurden Forderungen und Wünsche von Expert:innen aus der Praxis für ein transitionspsychiatrisches Versorgungskonzept erhoben. Dem vorherrschenden Konzept wurde ein großer Veränderungsbedarf attestiert. Das steht im Einklang mit den Resultaten der quantitativen Studie von Pollak et al. [6]. Wichtig ist den Expert:innen, dass durch das Schaffen neuer transitionsspezifischer Angebote das ohnehin bereits fragmentierte System nicht noch unübersichtlicher gemacht werde. Das alleinige Bereitstellen neuer, isolierter transitionspsychiatrischer Angebote ohne Einbettung in eine Behandlungskette sei demnach nicht zielführend, da dadurch weitere Schnittstellen und Übergänge entstehen, die wiederum in Behandlungsunterbrechungen oder -abbrüchen münden können, welche ein zentrales Problem bei der Behandlung von Patient:innen im Transitionsalter darstellen [11, 12].

Neue Angebote sollten bedürfnisorientiert, flexibel und niederschwellig sein

Neue Angebote sollten bedürfnisorientiert, flexibel und niederschwellig sein. Für eine gelungene Implementierung neuer Programme forderten die Expert:innen, ebenfalls im Einklang mit der bestehenden Literatur [2, 13], eine bessere Zusammenarbeit zwischen der KJP und EP, die zum aktuellen Zeitpunkt unzureichend sei. Eine zentrale Aufgabe werde es künftig sein, ein gemeinsames Verständnis für diese Altersgruppe bzw. eine gemeinsame Haltung im Umgang zu erarbeiten. Dafür sei eine intensive Beschäftigung mit Fragen zum Maß an Einbezug des sozialen Umfeldes der Patient:innen notwendig. Wie von der Taskforce der DGKJP und DGPPN [5] wurde auch von den in der Studie befragten Expert:innen ein transitionsspezifischer Forschungsbedarf angemeldet.

Ausblick

Die vorliegenden Ergebnisse der Interviews und Forschungsgruppen stehen weitgehend im Einklang mit jenen der quantitativen Erhebung von Pollak et al. [6] sowie jenen der Taskforce der DGKJP und DGPPN [5]. Somit können die Resultate als Resonanz aus der Basis und damit als praxisrelevante weitere Bestätigung bereits vorgebrachter Problemfelder und Bedarfe gesehen werden, die im Rahmen der Studie auch von bislang weniger berücksichtigten Berufsgruppen attestiert wurden. In Zusammenschau all dieser Ergebnisse sollten sich künftige Forschungsbemühungen auch darauf fokussieren, die Implementationen der geforderten Veränderungen wissenschaftlich zu begleiten.

Fazit für die Praxis

  • Es braucht ein flexibles, modulares, niederschwelliges Versorgungskonzept für junge Menschen, das in die Gesamtversorgung integriert ist und keine weiteren Brüche und Schnittstellen erzeugt.

  • Die Entwicklung einer gemeinsamen Haltung und einer einheitlichen Sicht auf das Transitionsalter seitens der KJP und der EP ist erforderlich.

  • Aufgrund einer derzeit noch mangelhaften Standardisierung des Übergangs ist besonders das Engagement des Einzelnen gefordert, um den Transitionsprozess bestmöglich zu gestalten.

  • Außerklinische Kooperationspartner, wie die Sozialarbeit und die Schulpsychologie, können wertvolle Ressourcen bei der Betreuung transitionspsychiatrischer Patient:innen darstellen.

  • Die Transitionspsychiatrie ist in der Forschung unterrepräsentiert, insbesondere werden mehr Longitudinalstudien benötigt.