FormalPara Leserbrief zum

Themenheft Musikermedizin (2015) Manuelle Med 53:4–46

Die Beiträge zur Musikermedizin sind für mich exzellente Beispiele für funktionelle Schmerzen. Gerade hier finden wir bei an sich gesunden Menschen Haltungs- und Bewegungsstereotypien mit Krankheitspotenzial. Die Entstehung dieser Schmerzen, aber v. a. auch die häufigen Heilungserfolge der verschiedensten Therapieverfahren lassen sich nicht befriedigend mit einem ausschließlich hardwareorientierten Nozizeptorenmodell erklären. Die Propriozeption und die Änderung afferenter Muster durch Dysfunktionen lassen zumindest theoretisch verstehen, wie funktionelle Schmerzen entstehen und durch eine Beseitigung der Dysfunktion auch wieder verschwinden können. Auch wenn der klinische Aspekt auf einer breiten Erfahrungsbasis ruht, wäre es auch wichtig, einen neurophysiologischen Beleg hierfür zu finden, d. h. nach messtechnischen Möglichkeiten zu suchen, afferente propriozeptive Muster aufzuzeichnen. Diese Aufgabe liegt aber außerhalb der manuellen Medizin.

Die Bedeutung eines gut belegten Dysfunktionsmodells sehe ich in den außerordentlichen Möglichkeiten für den Einsatz in der Prävention, d. h. durch Erfassen und Behandeln relevanter Dysfunktion eingreifen zu können, bevor Schmerzen und strukturelle Schäden auftreten. Beispielsweise begegnen mir in der Praxis sehr viele Menschen mit eingeschränkter Innenrotation der Schulter (abduziert), die noch keine Schmerzen haben. Wenn die Im**ement-Symptomatik einsetzt, verschwinden die Schmerzen zu einem sehr hohen Anteil erst, wenn die Einschränkung behoben ist. Nur ein passiv frei bewegliches Gelenk ermöglicht es der aktiven, dann nicht mehr gestörten Steuerung, den Kopf optimal zu zentrieren. Diese Zusammenhänge sind zu beobachten, lange bevor die strukturellen Zerstörungen einsetzen, Magnetresonanztomogramm und Röntgenbild Veränderungen zeigen und Operationen geplant werden. Eine korrekte zervikothorakale Haltung, ein stabil fixiertes Schulterblatt und ein frei bewegliches Schultergelenk sind die beste Prophylaxe für ein Im**ement-Syndrom, das mittlerweile sehr verbreitet auftritt.

Bei der wissenschaftlichen Bearbeitung dieses Themenkomplexes wird man sich aber auch einem wesentlichen Problem stellen müssen. Was immer man therapiert (manualmedizinisch/osteopathisch, physiotherapeutisch etc.) – der Erfolg liegt immer in der Berücksichtigung und dem Eingehen auf die individuellen Befunde. Hieraus ergibt sich ein grundsätzliches Konfliktpotenzial mit randomisierten Studien. Standardisierte Therapien sind nicht so erfolgreich, individualisierte Therapien sind nicht so wissenschaftlich basiert. Für mich ist es außerordentlich erstaunlich, dass dieser Konflikt bisher nicht weiter thematisiert wurde. Die wissenschaftliche Aufarbeitung unserer Arbeitsweise ist unumgänglich. Aber dazu gehören auch die kritische Würdigung der eingesetzten Instrumente und nicht nur die Nachahmung der Arbeitsweise anderer Fachbereiche. Ich hoffe, dass die systematische Aufarbeitung des Themas „funktioneller Schmerz“ eine kreative Fortsetzung findet, denn hier sehe ich eine bedeutsame Möglichkeit zur Prophylaxe vieler Erkrankungen des Bewegungsapparats.