Manch einer mag sich erinnern, dass im Juni 2020 das erste Mal in der Monatsschrift Kinderheilkunde unter dem Leitthema „Virusinfektionen“ das Thema Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 (SARS-CoV-2) und Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) diskutiert wurde. Ich hatte in meiner Themeneinführung damals geschrieben: „Die Welt nach der Pandemie wird nicht mehr die gleiche sein.“ Dies war zugegebenermaßen eine wenig originelle Prophezeiung. Trotzdem hätte sich zum damaligen Zeitpunkt kaum jemand ausmalen können, welche Dynamik und Macht die Pandemie noch über uns, die Gesellschaft, die Politik, aber insbesondere auch über unsere Kinder gewinnen sollte. Insofern ist es heute Zeit, nachdem der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Pandemie mit dem Auslaufen der Maßnahmen des Infektionsschutzgesetzes zum 07.04.2023 für beendet erklärt hat, ein erstes Mal darüber nachzudenken, was in den vergangenen 3 Jahren eigentlich passiert ist. Noch ist der Abstand nicht groß genug, um wirklich das Ausmaß der Krise und ihrer Nachwirkungen abschätzen zu können. Vieles haben wir bereits wieder vergessen, manches verdrängt; wer möchte sich heute noch gern an die mit Flatterbändern abgesperrten Kinderspielplätze oder die Ausgangssperren erinnern? „Lessons learned“ mag vielleicht als Titel falsch gewählt sein, denn, ob wir tatsächlich etwas gelernt, d. h., den Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn konstruktiv und innovativ genutzt haben werden, um uns nicht nur als Medizin und als Wissenschaft, sondern vielleicht auch als Gesellschaft weiterzuentwickeln, können wir heute wohl noch nicht abschließend beurteilen. Eine gewisse Skepsis, ob wir darauf wirklich hoffen oder vertrauen können, erscheint allerdings angebracht.

Ganz großer Dank gebührt allen die DGPI-Register bzw. Surveys zu COVID-19 bei Kindern unterstützenden Pädiatern

Zunächst einmal aber möchte ich mich – dies sei mir an dieser Stelle gestattet – einmal sehr und von Herzen bei den vielen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die uns und auch mir persönlich in den manchmal wirklich herausfordernden Phasen der Pandemie ihre Unterstützung und Solidarität gezeigt haben. Das hat sehr geholfen und oft auch der „eigenen Moral“ gutgetan. Ganz besonders bedanken möchte ich mich aber auch bei den vielen Kolleginnen und Kollegen, die sich über die 3 langen Jahre der Pandemie hinweg an der wahrlich nicht unerheblichen Zahl von Registern bzw. Surveys der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) zu Hospitalisierung, Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS), Atemwegsinfektionen und deren Komplikationen im Rahmen der COVID-19-Pandemie aktiv beteiligt haben. Zeitweise haben mehr als zwei Drittel aller deutschen (und z. T. österreichischen) Kinderkliniken ihre Fälle beigesteuert. In das Hospitalisierungsregister der DGPI wurden über 7000 Fälle aktiv eingegeben, im PIMS-Register waren es fast 1000, die anderen gar nicht mitgezählt. Das war richtig viel Arbeit von unzähligen Kolleginnen und Kollegen! Diese Register haben auch tatsächlich ein gewisses Gewicht in der Pandemie und der Bewertung der Krankheitslast bei Kindern und Jugendlichen gewonnen und manche Entscheidung u.a. der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut (STIKO) mitgeprägt. Sie wären undenkbar gewesen ohne die unglaublich engagierte Mitarbeit von den vielen Kolleginnen und Kollegen in den Kinderkliniken, die nach Dienstschluss, abends und nachts Fälle gemeldet sowie mit großem Aufwand und großer Akribie die vielen Daten händisch eingegeben haben. Für diese großartige Leistung und das vorbildliche Engagement möchte ich mich im Namen des Teams, der DGPI und der Taskforce der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und vieler anderer ganz herzlich bedanken!

Erkenntnis- und Erfahrungsgewinne zur Pandemie sollten konstruktiv und innovativ genutzt werden

Für dieses Themenheft der Monatsschrift Kinderheilkunde haben wir sehr unterschiedliche Beiträge ausgewählt, die trotz der Breite natürlich nur einen Bruchteil der unendlich vielen Themen abbilden können, in denen die COVID-19-Pandemie die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen geprägt haben. Roland Elling aus Freiburg wird sich im ersten Beitrag mit der Dynamik von Virusevolution, Epidemiologie und klinischer Präsentation von SARS-CoV-2-assoziierten Krankheitsbildern bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen und die durchaus schwierige Frage der Beurteilung der tatsächlichen Krankheitslast diskutieren.

Rüdiger von Kries und Marietta Jank aus München werden die Frage nach der Begründung und Notwendigkeit der COVID-19-Impfung für Kinder und Jugendliche aufgreifen und die Entstehung der STIKO-Empfehlungen beleuchten. Die Diskussionen nach Zulassung des Impfstoffs auch für Kinder und Jugendliche durch die europäische Zulassungsbehörde waren, wie wir uns erinnern, gewaltig. Die Autor:innen werden sich in diesem Zusammenhang auch der Frage zuwenden, ob es überhaupt einen gesamtgesellschaftlichen Konsens zum Thema Kindeswohl in der Pandemie gegeben hat.

Nicole Töpfner aus Dresden und Folke Brinkmann aus Lübeck fassen zusammen, was man heute zu Long‑/Post-COVID-19 bei Kindern und Jugendlichen verstanden hat, und beschreiben die Schwierigkeiten der Abgrenzung – gerade im Kindes- und Jugendalter – zu anderen, somatischen, psychiatrischen, psychosomatischen Differenzialdiagnosen, die eine erhebliche Herausforderung darstellen. Das postinfektiöse chronische Fatigue-Syndrom oder die myalgische Enzephalomyelitis (CFS/ME) stellt ein schweres Krankheitsbild dar, das mit einer erheblichen Beeinträchtigung des Wohlbefindens bis hin zum vollständigen Erliegen der Alltagsaktivität einhergeht und einer sehr subtilen individuellen multidisziplinären Begleitung bedarf, da es kaum etablierte Therapieangebote gibt.

Ulrike Ravens-Sieberer mit Anne Kaman, Janine Devine und Franziska Reiß aus Hamburg stellen sich der Frage, wie die Pandemie die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinflusst hat. Die weit über Deutschland hinaus bekannt gewordene bevölkerungsbezogene COPSY-Längsschnittstudie (Corona und Psyche) hat zu 5 Befragungszeitpunkten etwa 1600 Eltern von 7‑ bis 17-Jährigen und 1000 Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren mithilfe etablierter Instrumente zur psychischen Gesundheit befragt. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen, die über eine geminderte gesundheitsbezogene Lebensqualität berichteten, stieg ebenso wie psychische Auffälligkeiten in der Pandemie erheblich an und reduzierte sich gegen Ende nur auf Werte, die immer noch deutlich über denen vor Beginn der Pandemie lagen.

Ein ähnliches Bild zeichnen Sabine Walper und Christine Kuger vom Deutschen Jugendinstitut in München; sie beschreiben, dass die Bildungsteilhabe von Kindern und Jugendlichen sowohl im Bereich der Kindertagesbetreuung als auch in den Schulen massiv eingeschränkt war. Im Lockdown brachen v. a. für junge Kinder vielfach die Kontakte zu Freund:innen und zu den Betreuer:innen in der Kita ab. Pandemiebedingte Gruppenschließungen in der Kindertagesbetreuung betrafen v. a. Einrichtungen mit hohem Anteil von Kindern aus sozial benachteiligten Haushalten. Digitaler Unterricht erreichte ebenfalls viel weniger die ohnehin leistungsschwachen Schüler und Schülerinnen in sozial benachteiligten Familien als Schüler und Schülerinnen aus wohlsituierten Verhältnissen. Diese Beispiele zeigen, dass die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie lange ignoriert wurde. Eine eigenständige Bedeutung ihres individuellen Wohlbefindens wurde nicht nur massiv unterschätzt, sondern bis weit in die Pandemie hinein faktisch nicht anerkannt. Vielleicht erstmals öffentlich in der 7. Stellungnahme des Expert:innenrats der Bundesregierung im Februar 2022 wurde ein auf Basis der UN-Kinderrechtskonvention verantwortungsvoller Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der Pandemie mit einstimmiger Befürwortung angemahnt und entsprechende Empfehlungen gegeben. Mit der Einsetzung einer interministeriellen Arbeitsgruppe (IMA) folgte die Bundesregierung einer der Forderungen des Expert:innenrats. In der IMA wurden einige der Empfehlungen aufgegriffen und konkretisiert. Nun allerdings müssen diesen Empfehlungen Taten folgen und die dringend notwendige Unterstützung und v. a. auch finanzielle Mittel gewährt werden, um negative psychische und somatische Gesundheitseffekte zu reduzieren und weiteren Beeinträchtigungen durch erneute Krisen vorzubeugen. In der Post-COVID-Bildungsstrategie sollte stärkeres Gewicht auf das ganzheitliche Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen gelegt werden, um den erfahrenen Einschränkungen und Belastungen gerecht zu werden. Beispiele aus Ländern wie Kanada zeigen, dass es durchaus gelingen kann, aus Erfahrungen der Pandemie zu lernen und Lehrpläne und Bildungsziele den gewonnenen ganzheitlichen Erkenntnissen anzupassen.

Im Beitrag zum ethischen Bewertungsrahmen für Maßnahmen in Krisen weist Annic Weyersberg aus Köln sehr eindrücklich auf diejenigen ethischen Aspekte hin, die sich aus der besonderen Vulnerabilität des Kindes, die über die Vulnerabilität als wesentliches Kriterium des Menschseins hinausgeht, ergeben. Allein das „Kindsein“ sei untrennbar mit einer besonderen biologischen, psychischen und sozialen Verletzbarkeit verbunden. Insofern weisen kinderethische Theorien im Sinne eines Lebensspannenkonzepts in diesem Zusammenhang auf ein Recht von Kindern auf eine offene Zukunft und damit verbundene Schutz- und Fürsorgepflichten des Staates hin.

Eine wichtige Lesson learned wäre die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz

An diesen letzten Punkt nahtlos anschließend soll es an dieser Stelle nicht versäumt werden, die Forderung nach der Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz, die von den Kinder- und Jugendärzt:innen und vielen anderen schon seit vielen Jahren vorgetragen wird, erneut hervorzuheben. Die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz würde es erlauben und gleichzeitig unumgänglich notwendig machen, zukünftige Gesetze und Maßnahmen a priori auf ihre Vereinbarkeit mit dem Kindeswohl zu prüfen. Dies wäre ein wichtiger Schritt und eine echte lesson learned, die wir aus der Pandemie mitnehmen könnten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass Sie die Beiträge dieses Heftes mit ebenso großem Interesse lesen werden wie ich, und dass die Lektüre Sie zum Nachdenken anregen wird. Wir dürfen heute überaus dankbar sein, dass die Pandemie endlich vorbei ist und darauf hoffen, dass es gelingen wird, die langfristigen Auswirkungen für unsere Kinder und Jugendlichen abzumildern und in einer konstruktiven Diskussion, die uns noch über lange Zeit beschäftigen sollte, aus den gemachten Erfahrungen wirklich etwas zu lernen und im guten Sinne etwas für unsere Kinder zu bewirken.

Reinhard Berner