Zusammenfassung
Die Existenz von Krisen sollte uns nicht überraschen, schon gar nicht nach den Erfahrungen der vergangenen 15 Jahre: die durch den Zusammenbruch des U.S.-Immobilienmarkts ausgelöste Krise des globalen Finanzsystems und die daraus resultierende globale Wirtschaftskrise, die Krise des Europäischen Währungsraums, die sog. Flüchtlingskrise, die Corona-Pandemie, die sich seit Jahrzehnten zuspitzende Klimakrise, die durch den Angriff Russlands auf die Ukraine ausgelösten grundlegenden geopolitischen Spannungen sowie die höchste Inflation seit Jahrzehnten. Und doch sind wir immer wieder aufs Neue überrascht, wenn wir mit Krisen konfrontiert sind. Dabei realisiert sich in einer Krise lediglich etwas, wovor Menschen, wenn meistens auch nur wenige, zuvor schon gewarnt haben. Krisen sind also für Viele ein Black Swan-Moment: ökonomische, politische oder historische Ereignisse, die einerseits von der Mehrzahl der Beobachterinnen und Beobachter nicht vorhergesagt wurden, weil die Eintrittswahrscheinlichkeit als zu gering eingestuft wurde, und die andererseits massive Folgen für eine Gemeinschaft, einen Staat oder die gesamte Menschheit haben. Diese Definition, die sich eigentlich auf die Finanzmärkte bezieht, lässt sich jedoch verallgemeinern. Sie trifft auf alle größeren Krisen zu, insbesondere wenn das Merkmal der Eintrittswahrscheinlich entgegen der eigentlichen Bedeutung des Begriffs eine subjektive Dimension erhält.
PD Dr. Jasper Finke, Referent, Bundesministerium der Justiz und Privatdozent an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Dieser Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
Stellvertretend siehe Taleb (2008), S. XXII.
- 2.
Siehe hierzu den Abschluss des Beitrags von Gusy (2021).
- 3.
Ramraj (2008), S. 3: “Most modern states turn swiftly to law in times of emergency.”
- 4.
Kersten (2016), S. 203.
- 5.
Augsberg (2009), S. 17.
- 6.
Siehe hierzu Finke (2015), S. 515 ff.
- 7.
Schmitt (1934), S. 13.
- 8.
- 9.
- 10.
Gross und Aoláin (2006), S. 86 ff.
- 11.
- 12.
Finke (2020), S. 19 ff.
- 13.
- 14.
Kaiser (2011), S. 133 ff.
- 15.
- 16.
Schmitt (1934), S. 13 ff.
- 17.
“The exception is everything, but: the non-law, the state of emergency, the other, the negation of what-hold-in-all-circumstances, the impossible, the unthinkable, the aporia, the utopia.”; Gould (2013), S. 77.
- 18.
Finke (2015), S. 139 f.
- 19.
- 20.
Heinig (2020). Natürlich lebt Auseinandersetzung von Zuspitzungen und Übertreibungen. Der Vorwurf des Postfaschismus – und sei es nur als eine Warnung – muss sich wiederum den Vorwurf gefallen lassen, unverzeihlich geschichtsvergessen zu sein.
- 21.
Schmitt (1934), S. 13.
- 22.
Schmitt (1934), S. 13.
- 23.
Zu den übrigen Funktionen siehe Finke (2015), S. 518. Neben der warnenden Funktion hat die Ausnahme zunächst eine beschreibende Funktion. Was beschrieben wird, hängt von der jeweiligen Referenzkategorie ab, auf die sich die Ausnahme bezieht. Handelt es sich dabei um eine andere Norm, so ist die Beschreibung normativ. Bezieht sich die Aussage jedoch auf das, was wir als Wirklichkeit einordnen, so ist die Beschreibung realitätsbezogen oder faktisch. Gerade diese, die Realität beschreibende Funktion verdeutlicht, dass die Ausnahme nicht als neutraler Begriff verwendet wird. Vielmehr schwingen abhängig vom Kontext immer auch bestimmte rechtliche Konzepte mit, die wiederum die inhaltliche Brücke zur zweiten Funktion der Ausnahme als Rechtfertigung bilden. Außerdem kommt dem Begriff eine „beruhigende“ Funktion oder Signalwirkung zu, indem er das Besondere betont und damit den Eindruck vermittelt, dass Ausnahmen – ob nun normativ oder faktisch – auf Einzelfälle beschränkt sind.
- 24.
So insbesondere Volkmann (2020).
- 25.
Gerade die Rechtsprechung hat während der Corona-Pandemie anerkannt, dass es im Rahmen unvorhergesehener Entwicklungen aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein kann, nicht hinnehmbare gravierende Regelungslücken für einen Übergangszeitraum insbesondere auf der Grundlage von Generalklauseln zu schließen und auf diese Weise selbst sehr eingriffsintensive Maßnahmen, die an sich einer besonderen Regelung bedürfen, vorübergehend zu ermöglichen; siehe OVG NRW, Beschl. v. 06.04.2020 – 13 B 398/20.NE, Rdnr. 59; allg. BVerwGE 164, 304 = NVwZ 2019, 635; BVerfG, DVBl. 2013, 169; kritisch hierzu Möllers (2020).
- 26.
Siehe hierzu den Hinweis von Petersen (2010), S. 436, dass „Empirie und Normativität in der juristischen Argumentation sehr viel enger miteinander verschränkt sind, als es das klassische Subsumtionsmodell nahelegt“.
- 27.
Siehe Duden, https://www.duden.de/rechtschreibung/Krise, letzter Zugriff 02.11.2022.
- 28.
- 29.
Burckhardt (1985), S. 162 f.
- 30.
Mergel (2012), S. 13. Insofern sind Krisen essenzielle Momente, in denen plötzlich die Zukunft als ungewiss empfunden wird, man aber nicht viel Zeit hat, um sich ein genaues Urteil zu bilden und in Ruhe entscheiden zu können. Sie bewirken also Beschleunigungsprozesse oder sind Teil davon. Ohne diese Zeitlichkeit sind Krisen nicht zu denken.
- 31.
Prisching (1986), S. 67 f.
- 32.
Prisching (1986), S. 59.
- 33.
Prisching (1986), S. 60.
- 34.
Prisching (1986), S. 61.
- 35.
Siehe hierzu ausführlich Finke (2020), S. 162 ff.
- 36.
Dies gilt insbesondere für die Eurozonenkrise. Die Eurozone beruht auf einem Formelkompromiss zwischen den sog. Monetaristen die Währungsunion als ersten Schritt auf dem Weg hin zu einer Transferunion begreifen, und den Ökonomisten, die von Wirtschaftsunion ausgehen, deren Funktionieren ohne Transfers Voraussetzung für die Errichtung einer Währungsunion ist. Der Kompromiss bestand in der sofortigen Gründung der Währungsunion, ohne vorher eine Wirtschaftsunion zu bilden. Die Währungsunion wurde wiederum als Stabilitäts- und nicht als Transferunion organisiert; siehe hierzu Müller-Franken (2014), S. 230. Die Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit der während der Eurozonenkrise ergriffenen Maßnahmen – von der Unterstützung Griechenland über die Gründung von EFSF und ESM bis zum OMT-Programm – und der Streit um die Auslegung der Normen, die den Formelkompromiss begründen, geht zu einem Großteil auf diese unterschiedlichen Ansätze und Denkschulen zurück.
- 37.
Gusy (2021).
- 38.
Zur Krisengesetzgebung allgemein siehe Schwerdtfeger (2018), insb. S. 325 ff.
- 39.
Siehe Kruse und Langner (2021), S. 3712, die darauf hinweisen, dass es der (Verfassungs-) Rechtswissenschaft gut zu Gesicht stehen würde, „vermehrt unter Rückgriff auf empirische Erkenntnisse [zu] argumentieren und [zu] forschen.
Literatur
Augsberg I (2009) Denken vom Ausnahmezustand her. In: Arndt F, Betz N, Farahat A, Goldmann M, Huber M, Keil R, Láncos PL, Schaefer J, Smrkolj M, Sucker F, Valta S (Hrsg) Freiheit – Sicherheit – Öffentlichkeit. Nomos, Baden-Baden, S 17–39
Böckenförde E-W (1978) Der verdrängte Ausnahmezustand. NJW 31(38):1881–1890
Burckhardt J (1985) Weltgeschichtliche Betrachtungen. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig
Ferejohn J, Pasquino P (2004) The law of the exception. Int J Const Law 2(2):210–239
Finke J (2015) Funktion und Wirkung der Ausnahme im Recht. AöR 140(4):514–541
Finke J (2020) Krisen. Mohr Siebeck, Tübingen
Goffmann E (1977) Rahmen-Analyse – Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Suhrkamp, Berlin
Gould R (2013) Laws, exceptions, norms: Kierkegaard, Schmitt, and Benjamin on the exception. Telos 162(2):77–96
Gross O (2008) Extra-legality and the ethics of political responsibility. In: Ramraj (Hrsg) Emergencies and the limits of legality. Cambridge University Press, Cambridge, S 60–94
Gross O, Aoláin FN (2006) Law in times of crisis: emergency powers in theory and practice. Cambridge University Press, Cambridge
Gusy C (2021) Ende der Krise ohne Ende des Krisenrechts? Verfassungsblog. https://verfassungsblog.de/ende-der-krise-ohne-ende-des-krisenrechts. Zugegriffen am 02.11.2022
Heinig HM (2020) Gottesdienstverbot auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes. Verfassungsblog. https://verfassungsblog.de/gottesdienstverbot-auf-grundlage-des-infektionsschutzgesetzes/. Zugegriffen am 02.11.2022
Kaiser A-B (2011) Die Verantwortung der Staatsrechtslehre in Krisenzeiten. In: Schröder UJ, v. Ungern-Sternberg A (Hrsg) Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre. Mohr Siebeck, Tübingen, S 119–142
Katzenmeier C (2020) Grundrechte in Zeiten von Corona. MedR 38(6):461–465
Kersten J (2016) Ausnahmezustand? JuS 65(3):193–203
Kruse J, Langner C (2021) Covid-19 vor Gericht: Eine quantitative Auswertung der verwaltungsgerichtlichen Judikatur. NJW 74(51):3707–3712
Loevy K (2011) An introduction to the theory of crisis containment: the problem of emergency and its paradigmatic solutions. Yearb Res Engl Am Lit 27(1):3–24
Mergel T (2012) Krisen als Wahrnehmungsphänomene. In: Mergel T (Hrsg) Krisen verstehen. Campus Verlag, Frankfurt am Main, S 9–24
Meyer C, Patzel-Mattern K, Schenk GJ (2013) Krisengeschichte(n): „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive – eine Einführung. In: Meyer C, Patzel-Mattern K, Schenk GJ (Hrsg) Krisengeschichte(n). Franz Steiner Verlag, Stuttgart, S 9–24
Möllers C (2020) Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus. Verfassungsblog. https://verfassungsblog.de/parlamentarische-selbstentmaechtigung-im-zeichen-des-virus/. Zugegriffen am 02.11.2022
Müller-Franken S (2014) Das Spannungsverhältnis zwischen Eigenverantwortlichkeit und Solidarität. In: Blank H-J, Pilz S (Hrsg) Die „Fiskalunion“. Mohr Siebeck, Tübingen, S 227–244
Petersen N (2010) Braucht die Rechtswissenschaft eine empirische Wende? Der Staat 49(3):435–455
Plumpe W (2010) Wirtschaftskrisen – Geschichte und Gegenwart. C.H. Beck, München
Prisching M (1986) Krisen. Böhlau, Wien
Ramraj VV (2008) No doctrine more pernicious? In: Ramraj VV (Hrsg) Emergencies and the limits of legality. Cambridge University Press, Cambridge, S 3–18
Schmitt C (1934) Politische Theologie: vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Duncker & Humblodt, Berlin
Schwerdtfeger A (2018) Krisengesetzgebung. Mohr Siebeck, Tübingen
Stern K (1980) Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd II. C.H. Beck, München
Taleb NN (2008) The Black Swan. Penguin, London
Tushnet M (2008) The political constitution of emergency powers. In: Ramraj VV (Hrsg) Emergencies and the limits of legality. Cambridge University Press, Cambridge, S 145–155
Volkmann U (2020) Der Ausnahmezustand. Verfassungsblog. https://verfassungsblog.de/der-ausnahmezustand/. Zugegriffen am 02.11.2022
Wählisch M (2015) Cognitive frames of interpretation in international law. In: Bianchi A, Peat D, Windsor M (Hrsg) Interpretation in international law. Oxford University Press, Oxford, S 331–351
Zwitter A (2012) Rechtstheoretische Erläuterungen zur Begrifflichkeit und Theorie des Staatsnotstandes. In: Zwitter A (Hrsg) Notstand und Recht. Nomos, Baden-Baden, S 20–46
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2023 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Finke, J. (2023). Recht in Zeiten der Corona-Pandemie. In: Donath, P.B., Heger, A., Malkmus, M., Bayrak, O. (eds) Der Schutz des Individuums durch das Recht. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66978-5_74
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-66978-5_74
Published:
Publisher Name: Springer, Berlin, Heidelberg
Print ISBN: 978-3-662-66977-8
Online ISBN: 978-3-662-66978-5
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)