Zusammenfassung
Mündiges Konsumieren ist das klassische Ziel der Verbraucherbildung. Sie orientiert sich in ihren didaktischen Konzeptionen vielfach an Leitbildern, allen voran jenen der Konsumentensouveränität und der Nachhaltigkeit. Dies ist aus der Perspektive einer sozioökonomischen Bildung, die den Lernenden einen (selbst)kritischen Blick auf Welt eröffnen will, problematisch zu werten, da die Orientierung an gesellschaftlich-politischen Leitbildern mit der Gefahr einer Individualisierung von Verantwortung einhergeht. In einer empirischen Untersuchung mit Lehrkräften der sozialwissenschaftlichen Domäne konnte belegt werden, wie wirksam die Vorstellung einer individualisierten Verantwortung nicht nur in Bildungs- und Verbraucherpolitik, sondern auch in verbraucherbildenden Settings ist. Aufbauend auf einer kritischen Einbettung der gewonnenen Forschungsergebnisse in den kulturwissenschaftlichen, praxistheoretischen Subjektivierungsdiskurs werden Rückschlüsse für die Gestaltung einer sozioökonomischen Verbraucherbildung gezogen.
Abstract
Didactic concepts of consumer education often lean on paradigms such as consumer sovereignty and sustainability. From the perspective of socio-economic education seeking to convey a (self-)critical perspective, this is problematic because orientation on socio-political paradigms is associated with the hazard of individualization of responsibility. An empirical investigation among teachers of social sciences demonstrates how strong the ideas of individual responsibility have become, in contexts of consumer education as well as in consumer and educational policy. The research findings are discussed in relation to the subjectification discourse of cultural studies. Conclusions are drawn for socio-economic consumer education.
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Notes
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Paradebeispiel hierfür ist die Reality-Doku-Sendung Shop**-Queen, in dem sich pro Woche fünf Teilnehmerinnen (selten auch Teilnehmer) nach einem vorgegebenen Thema neu einkleiden müssen. Jede Teilnehmerin bzw. jeder Teilnehmer wird dabei von den anderen Teilnehmenden bewertet. Die Teilnehmenden müssen sich dabei einerseits an das vorgegebene Thema halten, dieses andererseits so individuell wie möglich umsetzen (Eichmann 2018).
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Der Praxisbegriff ist dabei ein durchaus weit gefasster und meint nicht nur die sichtbaren Körperpraxen, sondern „auch die nur indirekt zu erschließenden Selbstbeziehungen, Reflexions- und Spürfähigkeiten“ verbunden mit je spezifischen „Formen und Techniken der Selbstbeobachtung und -problematisierung. (Alkemeyer 2013, S. 65). Flugscham lässt sich beispielsweise als eine solche nicht körperlich sichtbare Form der Selbstproblematisierung rekonstruieren.
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Der Begriff des Leitfadeninterviews ist vergleichsweise unbestimmt, da ein technizistisches Merkmal (der Einsatz des Leitfadens) zentrales Charakteristikum der Interviewform ist (Ullrich 1999b, S. 435). Es sagt daher noch nicht viel über die methodologischen Grundlagen der Datenerhebung aus. Im hier vorgestellten Forschungsprojekt orientiert sich das Vorgehen während der Erhebungsphase an drei Formen des Leitfadeninterviews und trianguliert diese methodenintern: dem diskursiven Interview (Ullrich 1999a, b), dem Experteninterview (Meuser und Nagel 2009) sowie dem episodischen Interview (Flick 2011).
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Die Transkription erfolgte entlang des Transkriptionssystems TiQ (Bohnsack 2010).
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Wittau, F. (2021). „Richtig konsumieren?!“ – Verbraucherinnen- und Verbraucherbildung und die Regierung des Selbst. In: Fridrich, C., Hagedorn, U., Hedtke, R., Mittnik, P., Tafner, G. (eds) Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Sozioökonomische Bildung und Wissenschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32910-5_12
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