Zusammenfassung
Als sich Hildesheimer von der Literatur und insbesondere vom Roman verabschiedete, „weil sämtliche Konstellationen [...] schon dagewesen sind“, stellte er diesen 1977 erschienenen biographischen Versuch als letzte Möglichkeit dar: „‚Mozart‘ war ein Buch, wie man es noch schreiben konnte, und ich lege Wert darauf, daß es für mich auch ein didaktisches Buch war.“ Seine Beschäftigung mit Mozart geht auf die 1950er Jahre zurück, und es liegen zahlreiche Vorarbeiten zu dem beim Publikum erfolgreichsten seiner Bücher vor. Im Rückblick charakterisiert Hildesheimer seinen Text freilich so: „Jedenfalls habe ich mein Mozartbuch niemals als Biographie empfunden, denn die Absätze bezeichnen weniger die Entwicklung des Themas als die verschiedenen Sichten auf ein nicht erschöpfbares Phänomen.“ Damit rückt die zentrale Problem- und Aufgabenstellung in den Blick, denn Hildesheimer möchte in seinem „großangelegten Essay“ dem künstlerischen Genie, das nach völlig eigenen Gesetzen produziert, wieder seine Fremdheit und Eigentümlichkeit zurückgeben: Er möchte bei Mozart „etwas von dieser Unvorstellbarkeit“ vermitteln und demonstrieren, „daß Mozart nicht einer von uns ist“. Aus diesem Grund auch betont Hildesheimer seine eigene Subjektivität und legt sein Verfahren offen, wonach – unter Einschluss der Psychoanalyse – einzig Annäherungen, Umkreisungen eines ansonsten rätselhaft bleibenden Phänomens möglich sind. „Da wir Mozart nicht zwei Seelen zuerkennen, sondern entweder viele oder nur eine gewaltige, quasi pluralistische, finden wir bei ihm nichts bedauerlich, befremdlich dagegen alles.“ An anderer Stelle ist Hildesheimers Plädoyer eindeutig, dass das Genie „sich nur in seinem Werk offenbart“. Hierin sind die üblichen (hermeneutischen, aber auch anderen) Verfahrensweisen, auf denen traditionelle biographische Arbeiten (im Anschluss etwa an Wilhelm Dilthey) beruhen, ausgehebelt. Hildesheimer, der sehr wohl auf den Fundus der Philologie ebenso wie populärer Mozart-Biographik zurückgreift und sich Punkt für Punkt mit ihnen auseinandersetzt, nicht zuletzt um Legenden und Mythen zu zerstören, hat mit seinem Buch einen Essay geschrieben, der – im echten Sinne des Wortes – ein Versuch ist und zugleich auf mittlerer Ebene zwischen einem wissenschaftlichen Sachbuch und einem literarischen Prosatext liegt. So erzählt Hildesheimer nicht chronologisch oder geht gar werkmonographisch vor, sondern zieht die „Bilanz aller Darstellungen“ und verwirklicht diese Bilanz in einer „freien Assoziation“.
Ursprünglich veröffentlicht unter © J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH
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Bibliographie
Literatur
P. H. Neumann: Versuch über ‚Mozart‘ und W. H., in: Merkur 356, 1978, 79–97.
W. Gebhard: Die uneinholbare Welt des Genies. Zur negativen Biographik W. H.s, in: Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 18, 1984, 107–117.
O. von Weerdenburg: H.s Mozartbuch, in: Text+Kritik 89/90 (W. H.), Hg. H. L. Arnold, 1986, 63–68.
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Jung, W. (2020). Hildesheimer, Wolfgang: Mozart. In: Arnold, H.L. (eds) Kindlers Literatur Lexikon (KLL). J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_6824-1
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